Intro #161

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Musik

Wie krieg ich nur die Skepsis aus meinem Kopf?

Brooklyn Santo Gold wohnt seit drei Jahren in Brooklyn, in einem Block, wie er typisch für die Gegend ist, auf dem Album beschrieben in dem Stück »Unstoppable«: »Ich mag es sehr, auch wenn die Gegend einen schon manchmal runterzieht, da sie so rough ist. Der Vermieter lebt im gleichen Haus – es ist sehr familiär. Gegenüber ist eine Schule. Es gibt alle Arten von Essen. Der Block ist also gut. Aber zwei Blöcke weiter wird es unangenehm, da gehen die Schießereien los. Wenn ich zur Subway laufe, muss ich immer an einer Gruppe Jungs vorbei, die einen blöd anhaut. Und als Feministin, die ich nun mal bin, schreie ich sie natürlich an: ›Shut up. Was denkt ihr, wie ich mich fühle?‹«

John Hill »Er ist so wichtig für das Album. Er ist ein brillanter Songwriter. Dadurch, dass wir uns so lange kennen, arbeiten wir ganz natürlich zusammen. Diplo und Switch sahen ihn erst nur als Livemusiker, als sehr genialen zwar, aber eben nur als Livemusiker. Erst im Studio, wo John den Großteil von ›Anne‹ und ›Shove It‹ produziert hat, haben sie bemerkt, dass er auch all das digitale Zeug draufhat, das sie so machen.«

Missverständnis Santogold = Baile-Funk »Das liegt an den Leuten, mit denen ich zusammengearbeitet habe: Diplo, Disco D. Ach, falsch wär das doch gar nicht. Meine Musik hat so viele Elemente, da kann man eigentlich gar nicht danebenliegen ... Mein Einfluss war nicht Baile-Funk, aber diese Musik und meine kommen wiederum aus ähnlichen Einflüssen. In der Tat ist es so, dass die brasilianischen Drum-Rhythmen des Baile-Sounds den afrikanischen sehr ähnlich sind. Es sind nicht die gleichen Beats, aber synkopische – das Offbeatige, das ist ähnlich.«

eine normale Nachbarschaft, führt Santi weiter aus. So sei sichergestellt, dass man nicht die Bezüge zum Alltag, zum normalen Leben verliere. Sie lebt in derzeit in Brooklyn. Let the music play Im Vorlauftext wird es Cluster-Pop genannt, der Tatsache geschuldet, dass in der Musik von Santogold so vieles zusammenkommt: Neben zeitgemäßen Einflüssen aus Grime, Synthiepop, Indie, Dub, Reggae, Dancehall und NeoNew-Wave lässt sich auch noch die Langzeitwirkung ihres ersten Bandprojektes Stiffed ausmachen, was sich leicht dadurch erklären lässt, dass ihr damaliger musikalischer Partner John Hill es auch heute noch ist. Die Band konnte zwar bei uns nie etwas reißen, hat aber in ihrem Lebenslauf u. a. eine Tour mit den Bad Brains stehen, für Hardcore-Romantiker wie mich nicht wenig auf der Habenseite. Auch Santi sieht den heutigen Sound als »Ergebnis meines Entwicklungsprozesses von der Band bis heute. Stiffed war minimaler. Simpler, einfacher Postpunk / New Wave. Was das Songwriting angeht und die Stimme, kommt die Musik vom gleichen Hintergrund, nur dass ich für Santogold den Horizont erweitert habe. Ich war nicht mehr limitiert auf die Möglichkeiten einer 4-Mann-Band und die Repräsentation eines gewissen Sounds, ich wollte ein Projekt machen, in das ich mich voll einbringen konnte, ohne Grenzen.« Diese Grenzenlosigkeit ist auch das Ergebnis der – heute ja so typischen – Mitarbeit gleich mehrerer Produzenten. Neben der großen und wichtigen Konstante John Hill waren dies auf »Santogold« Spank Rock, Diplo, Switch und Disco D. Sie alle haben für ein abwechslungsreiches Album gesorgt, eines, das auch Pausen zum Durchschnaufen lässt, dringend nötige angesichts der hohen Gangzahl der vielen Smash-Hits des Albums (allen voran das M.I.A.’eske »Creator«, die New-Wave-Indiehymne »L.E.S. Artistes« und das Kaugummi-Vocals-Stück »Say Aha«), des rhythmischen Karnevals, dem uns die Songs aussetzen, dieser ansteckenden Happiness. Auf die Frage, was für Santi selbst das Zentrum ihres Sounds ausmache, kommt sie zunächst einmal ins Stocken. Klar seien die Beats prägnant, aber bei einigen Stücken stehe doch eher die Melodie im Vordergrund: »Wenn du Songs wie ›L.E.S. Artistes‹, ›My Superman‹ oder ›Anne‹ nimmst, dann steht bei diesen ein Gefühl, eine Toughness,

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die rüberkommt, im Zentrum.« Ansonsten sei es die Energie, die alle Songs verbinde, egal, welcher Einfluss nun gerade dominiere – nicht zuletzt wegen der Texte: »Ein Song wie ›I’m A Lady‹ klingt so anders als beispielsweise ›Unstoppable‹, aber wenn du die Texte durchliest und dir die Haltung, die dahinter steht, klarmachst, dann ist es das Gleiche.« Aber was ist das für eine Haltung, für die Santogold steht? Santi singt von der Schwierigkeit, individuell zu bleiben in einer globalisierten Welt, aber auch von »Alienation«, dem großen afroamerikanischen EskapismusThema, allerdings geht es ihr nicht, wie beispielsweise Sun Ra, dem alten Jazz-Eskapisten, darum, sich ein Asyl zu schaffen, sondern, ihrem Punkrock-Background und der damit verbundenen Do-It-Yourself-Haltung geschuldet, um den konkreten Schritt dahin, »selbst zu denken, die eigene Stimme zu finden, den Mut zu schöpfen, Stellung zu beziehen, psychologische Hemmschwellen zu überwinden« und so die Dinge zu verändern. Sie sieht ihre Position auf dem Mikrolevel und nicht auf der großen politischen Bühne. Klar, wie eigentlich alle, die man dieser Tage fragt, hoffe sie, dass Obama einen Paradigmenwechsel bewirken werde, einfach, da »er den Leuten ein Gefühl von Aufregung besorgt – genau dazu sollte ein Politiker doch in der Lage sein: die Leute begeistern, sie abholen, zum Mitmachen bekommen.« Am wichtigsten ist ihr aber das individuelle Verhalten: »Wenn man sich gewissenhaft und ehrlich begegnet, dann ist schon viel erreicht. Wenn wir Stellung beziehen, wenn uns etwas falsch vorkommt ... Wir sind davon gerade sehr weit entfernt.« Das Gespräch kreist im Folgenden wieder um die Vielschichtigkeit ihrer Musik, ja, von so viel Musik unserer Tage. Für Santi ist diese Entwicklung hin zu einem Sound mit weichen Zäunen ein Befreiungsschlag, gerade als schwarze Künstlerin. Aus erster Hand – sie arbeitete im BlackMusic-Department von Sony/Epic – weiß sie zu berichten, dass schwarze Künstler »zwar in die Entwicklung vieler Styles involviert waren«, dass das aber oft ausgeblendet worden sei, da »die Industrie nie daran interessiert war, diese Sicht zu ändern. Sie schätzen die klare Soundzuweisung: R’n’B, Soul und HipHop. Doch Schwarze haben auch gerockt, denk doch nur an Chuck Berry und Jimi Hendrix oder eben an die Rolle der Bad Brains und von Bands wie XRay Spex in der Punkbewegung. Unglücklicherweise haben die Plattenfirmen mit Abteilungen wie ›Urban‹ Ghettos geschaffen, abseits derer man als schwarzer Künstler lange nicht existieren konnte.« Doch nun, da die Musikindustrie zusammenbreche, zeige es sich glücklicherweise endlich, dass diese »Strukturen nicht passen«. Durch das Internet habe das Publikum, das »die Ghettoisierung nie interessiert hat«, die Chance des direkten Kontakts zum Künstler. Die Konsequenz: »Die Musiker brauchen die Labels nicht mehr, um zu wachsen. Und jetzt, wo sie groß werden, wollen auch die Labels mitmischen. Nimm Leute wie Gnarls Barkley, Spank Rock, M.I.A., TV On The Radio, alles Künstler, die die Stile mischen und damit erfolgreich sind – und plötzlich wollen alle Labels genau das.« Ein perfektes Schlusswort. Zumal auch noch Amanda Black von ihrem Balkon runterwinkt. Sie gibt Entwarnung: Spank Rock, der gestern beim Auftritt krank zusammengebrochen ist, geht es wieder besser. Der Rest geht im Gekreische unter, als sie Santis Lochstrumpfhose entdeckt ... Intro empfiehlt

Santogold Santogold CD // Rough Trade


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