Intro #161

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≥ talgischen Schwelgens, das besserer Zeiten gedenkt, die es vielleicht nie in der Wirklichkeit, sehr wohl aber im Pop-Mythos Amerika gegeben hat. Ein anachronistisch schönes Album. Martin Büsser

Rainer Von Vielen Kauz Motor / Edel Alles geht, alles muss. Rainer Von Vielen macht das alles schon sehr lange – und langsam. Sein cooler Gagname tauchte bereits letztes Jahrzehnt immer mal auf, mittlerweile will er es endlich oder wieder wissen. Beim Hören staunt man wie schon früher und denkt: Das traut er sich jetzt bestimmt nicht. Und doch passiert es: Es wechseln sich eine bretternde Gitarre und eine bouncende Tuba als Rhythmusgeber ab, und nur drei Minuten später geben sich die Red Hot Chili Peppers und eine blubbernde AcidLine wie selbstverständlich die Klinke in die Hand. Und dieser Spaß wiederholt sich quasi im Dreiviertel-Wechsel: Western-Maultrommel trifft auf alpines Akkordeon trifft auf Beatbox trifft auf Jodeleinlage. Rainer Von Vielen macht Musik ohne Grenzen. Eine musikalische Reise nach Jerusalem über Australien, Las Vegas und Berlin, bis auch der letzte Style mal besetzt wurde. Darüber wird gereimt, geschrieen oder in hohem ElfenFalsett gesungen. Völlig bewusst setzt sich dieses Album damit zwischen alle Genre-Stühle und Fan-Gruppierungen, weil dieser Platz häufig eben doch der schönste und ergiebigste ist. Uwe Buschmann

Steve Von Till A Grave Is A Grim Horse &

Scott Kelly The Wake Beide Neurot / Cargo Auch der ruppigste Rocker muss dann und wann den Knüppel aus der Hand legen und sich in der Introspektive ergehen, damit die wilde Seele vor lauter Schwärze und Bitterkeit nicht ganz schrumpelig wird. So geben sich die Lennon/McCartneys der Noise-Esoteriker Neurosis auf ihren jeweiligen aktuellen Solo-Outings erneut dezidiert zurückgenommen. Was nicht heißt, dass hier zu sachten Lautenklängen Besinnliches gemurmelt wird. Während sich Scott Kelly auf seinem zweiten Alleingang als klassischer Finster-Folker inszeniert, der mit sparsamsten Mitteln, nämlich selten mehr als einer einsam klagenden Akustikgitarre, das Maximum an ewigem Herbst generiert, gibt sich sein Seelenverwandter Steve Von Till ungleich

vielseitiger. Dessen drittes Soloalbum ist eine fast schon üppig instrumentierte, dabei jederzeit brummelig spröde Tour de Force durch so ziemlich sämtliche Höhen und Tiefen von Folk, Country und Blues, inklusive Pathos, Geheimniskrämerei und mystischem Überbau. Dazu eine Faust voll Cover-Verneigungen gen Nick Drake, Townes Van Zandt, Mickey Newberry und Lyle Lovett, und fertig ist das Wohlfühlpaket für alle, denen sich die Hauptband dieser beiden Klampfen-Schamanen vor allem in ihren immer ausgedehnteren ruhigen Passagen erschließt. Schade nur, dass sowohl bei Kelly (mehr) als auch bei Von Till (weniger) die evozierte Atmosphäre mitunter fesselnder ist als die Qualität des Songwritings selbst. Aber so ist das eben mit der Mystik. Manchmal ist das Fühlen wichtiger als das Verstehen. Ulf Imwiehe

Wild Beasts Limbo, Panto Domino / Rough Trade / VÖ 20.06. Um es gleich vorwegzusagen: Ich liebe die Falsettstimme von Antony And The Johnsons. Aber warum klingt diese Art von Gesang bei den Wild Beasts so extrem gewöhnungsbedürftig und beginnt auf Dauer sogar zu nerven? Die Stücke der »magischen, exzentrischen« Briten (NME) hören sich so an, als hätten Bronski Beat als Rockband ein Comeback gestartet. Die Rede ist jedoch nicht von kernigem Poser-Rock, auch nicht von filigranem Post-Rock, sondern von Vaudeville-Rock mit Theater-, Revue- und Cabaret-Einschlag. Eine Mischung aus Adam Green und Dresden Dolls auf tuntig – und tuntig meint in diesem Fall: eben nicht auf zeitgemäße und verführerische Weise schwul bzw. queer, sondern lediglich mit den schlimmsten Klischees aufgeladen, die Federboa und Melone nur hergeben. Dass hier nichts zusammenpasst, soll sicher progressives Programm sein, doch wenn Musik sich so anhört, als würde gleich ein Clown mit riesigen Schuhen um die Ecke kommen, bleiben nicht nur, um Alexander Kluge zu zitieren, die Artisten in der Zirkuskuppel, sondern auch der Rezensent: ratlos. Martin Büsser

Witch Paralyzed Tee Pee / Cargo Dead Kennedys und Black Flag lieben, aber Celtic Frost und Voivod doof finden? Das muss nicht sein. Denn knarzender, scheppernder Punkrock und grantig polternder Steinzeit-Metal haben zumindest musikalisch genug gemeinsam, dass sie nicht nur auf den Kutten dieser Welt zueinander finden können. Witch, jene Indie-Metaller um den in Würden er-

grauten Exil-Grunger J Mascis (hier übrigens als verdammt furioser Schlagzeuger an den Pedalen), feiern diese Kompatibilität mit Gusto und anständig Bier im Wanst. Sämige Twin-Guitars huldigen für eine Sekunde Iron Maiden, schmettern dann Bizarro-Chords raus, die auch bei No Means No nicht fehl am Platze wären, und kulminieren in furiosen Proto-Core-Passagen, die den Hauch von Geschichte atmen, ohne nach Vergreisung und Re-Enactment zu müffeln. Dabei gibt sich die Band deutlich vehementer und maliziöser denn je und verströmt eine Energie, wie man sie beim zeitgenössischen Designer-Metal aus der Kompressorenund Pro-Tools-Hölle vergeblich sucht. Was den Fremdscham-Faktor, der ja für viele besonders hoch ist, wenn es um Metal geht, erheblich reduziert. Aber derlei gesellschaftliche Zwänge sind der Zielgruppe eh schnuppe. Ulf Imwiehe

Wolf Parade At Mount Zoomer Sub Pop / Cargo / VÖ 17.06. Die Ansage ist deutlich: »Nach ›Apologies ...‹ schrieben wir noch vier bis fünf Songs, jedoch schmissen wir sie raus. Sie hörten sich an, als wenn wir schon längst fertig wären. Wir hätten es uns wirklich einfach machen können, aber das war nicht der Punkt.« Mit diesen Worten wird WP-Sänger Dan Boeckner im Info zitiert, und sie machen noch nicht mal in vollem Umfang ihre auf dem Zweitwerk »At Mount Zoomer« hörbaren Konsequenzen klar. Bei manchen Bands hält man es für ratsam, wenn sie einen Stilwechsel vornehmen. Bei Wolf Parade ist es, ganz konservativ gedacht, schade, denn vollständig ausformuliert war ihr energisch-schroffer Indierock noch nicht. Die Band selbst sah das anders; und das auf der neuen Platte hörbare Resultat lässt sich wie folgt zusammenfassen: weniger punkige Dynamik, weniger IndieHarmonie, kaum noch schlanke Melodien. Stattdessen Rock der deutlich komplexeren Sorte. In gewisser Weise ist das der Fortgang wie bei den Blutsbrüdern Modest Mouse, doch Wolf Parade vollziehen den Schritt radikaler. Ihre Songs sind, ähnlich denen der späten Beatles, aus kreuzverschiedenen Teilen anspruchsvoll zusammengesetzt. Die Stimmung ist insgesamt viel undurchsichtiger, der Gesamteindruck deutlich musikalischer als beim Debüt. Einflüsse von Talking Heads bis hin zu Genesis und Doors lassen sich zumindest nicht komplett von der Hand weisen. »At Mount Zoomer« ist eine Platte, die herausfordert, keine, die man gleich ins Herz schließt. Vielleicht gelingt das mit der Zeit. Bis dahin ist man gut beraten, die Herausforderung anzunehmen. Christian Steinbrink


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