IDENTITÄT UND GESTE

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Leontine Schelling

IDENTITÄT UND GESTE Zum Werk von Yolanda Esther Natsch

Essay

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Inhaltsverzeichnis Zu keiner Zeit in Gefahr (YEN, 2012)

S. 7

Das Problem mit der Entscheidung

S. 10

Interview I, April 2016

S. 28

Zur Identität einer Künstlerin

S. 30

Interview II, Mai 2016

S. 38

Über die Geste Hüllen und präzises Schweigen

S. 40 S. 51

Fussnoten S. 62 Abbildungsverzeichnis S. 63 Angaben zur Künstlerin

S. 64

Angaben zur Autorin

S. 65

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Zu keiner Zeit in Gefahr Ich tippe auf ganz junge Forellen. Eine von ihnen zuckt in unregelmässigen Bewegungen hin und her. Ein helles Aufblinken. Ihr Schwanz fehlt. Hinter der Rückenflosse, wo das letzte Drittel des Körpers beginnen müsste, ist stattdessen ein sauberer Schnitt, ein hellrosa Oval mit einem dunkelroten Punkt in der Mitte. Sobald sie aufhört zu zappeln, wird sie von ihrer Schwimmblase wieder nach oben gedrückt. Der Flussgrund scheint unerreichbar. Nun treibt sie seitlings an der Wasseroberfläche. Der Fluss zieht stark. Ich brauche mehr Kraft als üblich, besonders nach den Dämmen, wo die Wirbel Bauch und Brustkorb nach oben drücken, während sie Arme und Beine nach unten ziehen und umgekehrt. Doch ist es genau diese Stelle, die ich immer wieder aufsuche. Die Strömung hier ist unberechenbar. Ich muss gestreckt und waagrecht bleiben, gezielt korrigieren, schon bin ich draussen, lasse mich von der Strömung weiter flussabwärts tragen. Die Forelle nimmt erneut Anlauf, dreht sich um, sticht mit dem Kopf nach unten. Diesmal peilt sie die Wurzelbüschel am Uferrand an, sie liegen viel näher als der Grund. Doch ihre Kraft reicht auch hier nicht aus und sie treibt wieder nach oben. Der nächste Damm, die Wellen sind grösser: ein kurzes Hitzegefühl im Brustkorb, ich schaukle, unter mir die Steinblöcke, aber genügend Wasser dazwischen. Gleich folgt der Strudel. Ich werde seitlich weggedrückt, beginne mich leicht zu drehen. Von der Strömung erfasst, lässt 7


sie sich in einer Kreisbewegung der Wasseroberfläche entlang ziehen. Wieder in Ufernähe, stösst sie erneut nach unten. Das hellrosa Oval mit dem dunkelroten Punkt wippt hastig hin und her. Richtung halten, auf den Strudel folgt das Wirbelfeld: wie ein Netz aus Luftbläschen, dazwischen die brodelnden Stellen. Das Wasser stösst und zerrt nach unten, nach oben, seitwärts, alles gleichzeitig. Was für ein Chaos! Und was, wenn ich es zuliesse? Wie sehen die Wirbel von unten aus? So oft bin ich schon darübergeschwommen und nie habe ich es versucht. Wovor habe ich Angst? Woher kommt diese Wunde? Und fühlen Fische Schmerz? – Bestimmt, aber vielleicht anders als ein Säugetier, sicher anders als ein Mensch. Ist mein Instinkt stark genug, mich anzutreiben, wenn ich unbedingt von dort weg muss, wo ich bin? Der Sog ist stark. Geschichten kenne ich einige, aber ob genau an dieser Stelle schon jemand ertrunken ist, weiss ich nicht, will es nicht wissen. Diesmal scheint es zu gelingen: Es fehlen nur noch knapp zwei Zentimeter bis zur ersten Wurzel. Kommt es mir nur länger vor oder hat mich das Widerwasser zurückgetrieben? Hinter mir der Strudel. Er ist näher gekommen – oder ich ihm. Was weiss ich... es heisst, man müsse sich erst ganz nach unten ziehen lassen, um von ihm loszukommen. Die Begründung dazu ist nachvollziehbar, so einleuchtend, dass man es gar nicht erst auszuprobieren braucht – und dennoch verlieben wir uns. Was heisst schon, „sich lohnen“? Die Forelle kämpft weiter. Sie erreicht die Wurzelspitzen. Ein paar ihrer jungen Artgenossen kommen zu ihr und 8


picken aus der offenen Wunde. Sie schnellt zurück, die anderen gehen auf Distanz, doch der kurze Unterbruch hat bereits ausgereicht, um sie wieder nach oben treiben zu lassen. Sie wehrt sich nicht dagegen. Die Natur ist grausam, und dieses Urteil eine Anmassung. Ich sitze daneben und sehe zu, wie der Fisch erneut zu kämpfen beginnt. Bauch einziehen, Rücken anspannen, Richtung halten. Ich war zu keiner Zeit in Gefahr. Zurück im offenen Wasser lasse ich mich in der gleichmässigen Strömung treiben. Das ist angenehmer. Die Sonne scheint. Die Fragen stellen sich nicht mehr. Wieder ist sie in Ufernähe gelangt, wieder drückt sie ihren Kopf nach unten. Wieder muss sie sich gegen die anderen zur Wehr setzen und landet schliesslich an der Wasseroberfläche. Wie lange wird sich das noch hinziehen? Soll ich weggehen? Oder abwarten, bis irgendetwas entschieden ist? Soll ich doch eingreifen? Ich bleibe sitzen, nicht sicher, ob das eine Entscheidung war. Der Ausstieg an dieser Stelle ist günstig. Ich halte auf das Ufer zu. Mittlerweile hat sie nach erneutem Anlauf die Wurzeln erreicht. Ich kauere am Uferrand. Die anderen sind etwas weiter weg und scheinen sich nur noch am Rande für sie zu interessieren oder haben gemerkt, dass sie noch zu stark ist. Hier werde ich warten und mich von der Sonne trocknen lassen. Wie Seeanemonen wiegen Büschel von feinen Baumwurzeln in der Flussbrandung. Unter mir ein Schwarm Fische. Ich tippe auf ganz junge Forellen. Eine von ihnen zuckt in unregelmässigen Bewegungen hin und her... YEN (2010) 9


Das Problem mit der Entscheidung In der griechischen Mythologie steht der Held Herakles am Scheideweg und hat die Wahl zwischen einem unbeschwerten, lasterhaften Leben oder einem harten und tugendhaften Weg. Eigentlich muss er sich im Mythos zwischen zwei Frauen entscheiden, die je eine der beiden Richtungen verkörpern und diese in einer heftigen Debatte vor ihm vertreten. Welcher Frau soll er folgen? Der Halbgott Herakles gehört wie die meisten Menschen, die einen gewissen Wohlstand mit entsprechender Infrastruktur geniessen, zu den Privilegierten, die überhaupt erst die Möglichkeit einer Wahl haben. Aber das Privileg zur Wahl birgt gleichzeitig das Problem der Entscheidung. Und wie bei Herakles bedarf eine Entscheidung vorgängig oft eines dialektischen Hin und Hers zwischen unterschiedlichen Bedürfnissen, Antrieben, Möglichkeiten, Chancen und Risiken. Es ist ein Abwägen, man möchte sich richtig entscheiden, geht es doch bei jeder Entscheidung letztlich um die Suche nach dem Glück im Leben oder zumindest um das Vermeiden von Verlust. Die „richtige Entscheidung“ wird zur Herausforderung, gar zur Lebensaufgabe. Dies führt zu enormem Druck, den die sogenannte Generation Y1, der die Künstlerin YOLANDA ESTHER NATSCH (YEN) angehört, offenbar besonders stark spürt.

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Zu keiner Zeit in Gefahr, Ausstellungsansicht, Basel 2012 11


Gemäss dem soziologischen Konstrukt der Generation Y verfügt diese nebst einer überdurchschnittlich hohen Ausbildung auch über Strategien, sich jeweils möglichst viele Optionen in ihrer Lebensgestaltung offen zu halten, wie beispielsweise zu Gunsten einer sinnstiftenden Tätigkeit auf Karriere oder Familienplanung zu verzichten. Ein hohes Ausbildungsniveau, die Bereitschaft, sich mit weniger finanziellen Mitteln zufrieden zu geben und eine breite Auswahl an Modellen familiärer Strukturen sind aber nur die attraktive Seite einer Medaille, deren Rückseite von einem unsicheren und unsteten Arbeitsmarkt, von Prekariat und sozialer Unverbindlichkeit geprägt ist. So gesehen zeugt das Offenhalten von Optionen nicht nur von tatsächlich oder vermeintlich grosser Flexibilität, sondern auch von der Angst, in Folge einer eindeutigen Entscheidung dem Leben eine Richtung zu geben, die sich später einmal als die falsche oder zumindest nicht als die bestmögliche herausstellen könnte. Und je breiter die Auswahl, desto grösser das Dilemma. Daher erstaunt es kaum, dass Zögern, Zaudern oder gar Entscheidungsangst immer wieder als spezifische Charakteristika dieser „Generation Maybe“2 beschrieben werden. YEN skizziert in mehreren ihrer Werke Situationen, die nach einer Entscheidung verlangen und dadurch gleichzeitig ein Dilemma erzeugen. Aber im Gegensatz zum griechischen Mythos, bei dem der Leser, die Leserin von Anfang an weiss, welches der rechte Weg für Herakles ist, wird ein solcher in YENs Werken weder vorweggenommen noch angedeutet. 12


Zu keiner Zeit in Gefahr (2012) lässt einen sogar im wahrsten Sinne des Wortes in einer Endlosschleife der Entscheidungsträgheit hin- und herpendeln. Das an einem Seil von der Decke hängende Stuhlelement ist so konstruiert, dass man beim Hineinsitzen leicht nach hinten kippt. Dadurch wird einem nicht nur der Boden unter den Füssen entzogen und man gerät in eine leichte Pendelbewegung, sondern auch die geschickt verborgene Audioinstallation wird jetzt erst hörbar. In gesprochenen Worten erklingt plötzlich der eingangs abgedruckte Text, doch im Gegensatz zu seiner Druckversion scheint das Audiofile weder Anfang noch Ende zu haben, denn der Text wird als lückenloser Loop abgespielt. Leicht gefangen in diesem recht komfortablen Hängesessel könnte man sich endlos schaukelnd dem Fluss und der Faszination des raffiniert konstruierten Texts hingeben und darüber sinnieren, wie man sich an Stelle der Ich-Erzählfigur entscheiden würde, ob und wenn ja, von welchem abgründigen Sog man selbst immer wieder gezogen wird oder gegen welche Form der Paralyse man anzukämpfen hätte. Und noch während man sich vielleicht über die Entscheidungsträgheit der Ich-Erzählfigur wundert, wird deutlich, dass schon das Aussteigen aus dieser bequemen Installation einer bewussten Entscheidung und eines gewissen eigenen Efforts bedarf.

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Anders verhält es sich mit dem Werk Get Closer! (2013). Der Betrachter ist darin nicht physisch gefangen, sondern steht ihm scheinbar unbeteiligt gegenüber. Die Installation besteht aus einem Lindenholzsockel, gefüllt mit Moorerde, die in Form eines Erdhaufens über den Sockelrand hinausragt. Auf dem Haufen steht eine lebendige Venusfliegenfalle in ihrem Plastiktöpfchen. Dieses erste absurde Moment – dass die fleischfressende Pflanze samt Topf nur auf den Erdhaufen gestellt, statt dahinein gepflanzt ist – wird durch eine noch grössere Widersinnigkeit übertroffen: Über der pflanzlichen Fliegenfalle hängt ein industriell gefertigter Fliegenfänger. Soll damit der Pflanze die Nahrung von unten wie von oben quasi vor Augen geführt und doch vorenthalten werden? Wohl kaum, denn einer Pflanze dieser Art reicht die karge Erde des Töpfchens vollends, da sie die benötigten Nährstoffe aus den gefangenen Insekten bezieht. Und diesen Insekten ist freigestellt, ob und für welche der beiden Fallen sie sich entscheiden. Befindet sich tatsächlich eine Fliege im Raum, so wird sie mit hoher Wahrscheinlichkeit auf die eine oder andere Art den Tod finden, denn die Pflanze wie auch der Fliegenfänger sind aktive Fallen. Das heisst, sie warten nicht nur, bis ihr Opfer zufällig bei ihnen landet, sondern locken es zu sich. Dies geschieht über spezifische Pheromone, Duftstoffe, die für den Menschen nicht wahrnehmbar sind, für Fliegen aber ähnlich anziehend wirken, wie für uns der Geruch der frisch zubereiteten Lieblingsmahlzeit oder ein verführerisches Parfüm. 14


Get Closer!, Detailansicht, 2013 15


Die Fliege wird so oder so angezogen, letztlich muss sie sich nur noch entscheiden, welcher fatalen Verlockung sie erliegen will. Nur dass es in diesem Werk nicht wirklich um Fliegen geht – steht es doch nicht in einem Kuhstall, sondern in einem White Cube, der ohne lebendige Insekten gedacht werden muss, dafür mit Kunst und ihren Betrachtern. Und hier hat der Sockel nicht nur die Funktion eines Trägers, der ein Objekt auf eine bestimmte Höhe heben soll. Vielmehr lockt er in diesem Kontext ähnlich einer aktiven Falle den Betrachter zu sich, indem er anzeigt: „Hier ist Kunst“. Wenn also Get Closer! nicht Fliegen, sondern Betrachter meint, stellt sich die Frage, was das Werk mit diesen tut, wenn sie vor ihm stehen. Die Antwort ist klar: Dasselbe wie mit der Fliege, nur auf abstrakter Ebene. Die Lücke zwischen Venusfliegenfalle und Fliegenfänger befindet sich genau auf Augenhöhe, wodurch der Entscheidungskonflikt der Fliege in den Fokus rückt. Wir betrachten das Lichtspiel des Scheinwerfers entlang der feucht glänzenden Leimspirale des Fliegenfängers, sind vielleicht versucht, seine glatte, klebrige Oberfläche mit einer Fingerspitze zu berühren. Einzig unsere Kenntnis geltender Verhaltensregeln im Kunstraum und unser Wissen über die Klebrigkeit der Leimmasse halten uns von einer Berührung ab. Ähnliches geschieht beim Betrachten der fleischfressenden Pflanze: Die geöffneten Fangblätter mit ihren feingliedrigen, roten Härchen am Blattrand reizen zur Berührung, aber stattdessen bleibt es aus Respekt 16


vor dem Kunstwerk bei der Betrachtung. Dabei gleitet der Blick den Härchen entlang Richtung Blattmitte, wo für einen kurzen Augenblick die Vorstellung eines hier gefangenen, sich im Verdauungssaft der Pflanze auflösenden Insektenkörpers auftaucht. Spätestens jetzt, wenn man sich fragt, wie dieses Blatt im Stande ist, ganze Insekten zu verschlingen, gerät wieder seine ganze, symmetrisch aufgefächerte Form ins Blickfeld, und die Herkunft des Pflanzennamens tritt plastisch vor Augen. Von hier an spinnt sich ein feinsinniges Netz von Wortspielen und ihren Assoziationen durch unsere Gedanken, begonnen bei Venus, der antiken römischen Göttin der Liebe, über die tief dunkle, feuchte Moorerde bis zu Freya, der nordischen Fruchtbarkeitsgöttin, die wir im Lindenholzsockel vermuten dürfen. Denn es ist die Linde mit ihrem weichen, leichten und äusserst biegsamen Holz, die in der nordischen Mythologie Freya zugeschrieben wird. Das unbehandelte Lindenholz des Sockels ist äusserst fein geschliffen, wodurch seine alabasterfarbene Oberfläche samtig schimmert. Bei diesem Anblick nicht an zarte Haut zu denken, fällt schwer. Und genau hier liegt die Stärke dieser grazilen Installation, die einer Statue ähnelt: Sie vermag rein durch die taktilen und visuellen Qualitäten ihrer Elemente einen erotischen Assoziationsraum zu öffnen, egal, ob man über mythologisches Hintergrundwissen verfügt oder nicht. Lässt man sich auf sie ein, fliessen die Bilder, die sie in uns erzeugt, wie ein Rausch durch den Körper bis 17


in die elektrisierten Fingerspitzen. Und ähnlich einer Fliege sind wir hin- und hergerissen zwischen unserer Lust auf Berührung und einer abstossenden Ahnung vom Tod, der dahinter lauert. Get Closer! ist mehr als ein Imperativ, eine Aufforderung; es ist die verführerische Einladung, über Entscheidung, Nähe und Distanz, Eros und Tod nachzudenken.

EXIT, Ausstellungsansicht links, Basel 2014 18


Um Verführung im wahrsten Sinne des Wortes geht es auch im Werk EXIT (2014): Ein Ausstellungsraum ist durch nachträglich eingebaute, rund 20 Zentimeter dicke Wände in zwei Hälften geteilt, wobei ein breiter Durchgang offen gelassen wird, der die beiden Raumhälften miteinander verbindet. Diese Durchgangssituation verwandelt YEN durch einen einfachen Eingriff in eine Kunstinstallation, indem sie auf der Stirnseite beider Mauern, im obersten Viertel, je auf gleicher Höhe eine grüne Exit-Notleuchte befestig.

EXIT, Ausstellungsansicht rechts, Basel 2014 19


Was von vielen Besucherinnen und Besuchern vorerst gerne übersehen wird, weil diese Art von Notausgang-Signalen auch in Kunsträumen heute selbstverständlich ist, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als abstraktes Entscheidungsdilemma: Durch die absurde Gegenüberstellung der beiden Exit-Leuchten und die schwarzen Stromkabel, die von beiden Lampen überlang und deutlich sichtbar seitlich hinunterhängen, wird klar, dass es sich hierbei nicht um eine echte Signalisation von Notausgängen handelt. Dennoch beanspruchen beide Leuchten, einen Ausweg anzuzeigen. Lässt man sich auf diese Behauptung ein, findet man sich in einem Entscheidungsvakuum wieder. Denn welcher dieser beiden Aufforderungen sollte man folgen, führen doch beide, was erschwerend hinzukommt, nur in die Stirnseite einer künstlichen Wand – jede Sackgasse offeriert mehr Spielraum, als diese beiden vermeintlichen Auswege. In der Ausstellung wird niemand ernsthaft gegen die Wand laufen, sondern das Naheliegende tun und eine Richtung einschlagen, die irgendwo zwischen diesen beiden vorgegebenen Wegen liegt. Aber wie verhält es sich ausserhalb des Kunstraums, wo die Situationen unübersichtlicher sind? Bewegen wir uns im Alltag auch so souverän? Oder vertrauen wir dort nicht viel eher Richtungsanweisungen von aussen und lassen uns von ihnen steuern, auch wenn wir merken, dass sie uns in ein Dilemma führen? Wie handeln wir in einer Notsituation, wenn wir dringend nach einem Ausweg suchen? 20


Wie autonom entscheiden und wohin führen uns unsere Entscheidungen? Auch Herakles hat sich für eine der beiden Frauen entschieden und ist deren Weg gefolgt – sogar der starke Sohn des Zeus hat es also offenbar bevorzugt, nicht eine eigene Richtung einzuschlagen. Ganz anders verhält sich da der Gussbeton, den YEN in ihrem Werk in excess of (2013) vergoldet hat. Die weisse Dispersionsfarbe überdeckt zwar die unverputzte Decke des Ausstellungsraumes, lässt aber immer noch deutlich den Abdruck der Holzbretter erkennen, die beim Bau dazu dienten, dem flüssigen Beton die gewünschte Form zu geben. Doch sind die Bretter nicht immer lückenlos

in excess of, Ausstellungsansicht, Basel 2014 21


aneinander geschoben worden, denn an mehreren Stellen konnten sich Teile der noch flüssigen Betonmasse einen Weg zwischen ihnen hindurchbahnen und Stalaktiten gleich in den freien Raum unter sich wachsen. Diese Betonpartikel sind nicht den Vorgaben gefolgt, nach denen sie sich entweder auf dem linken oder dem rechten Brett hätten setzen müssen. Stattdessen haben sie zur eigenen Form gefunden, die durch das Zusammenspiel zwischen der Materialität jener Betonmasse, der Luftfeuchtigkeit und der Raumtemperatur entstanden ist. Exemplarisch hat YEN eine dieser Betonnähte in akribischer Handarbeit mit Blattgold vergoldet. Durch diese Geste bringt die Künstlerin ihre hohe Wertschätzung dieser selbstständigen Form gegenüber zum Ausdruck. Einerseits deshalb, weil Gold materiell und kulturell mit Wert gleichgesetzt wird und andererseits, weil sie Tage darauf verwendet hat, das zarte Blattgold Schicht für Schicht auf die komplexen Rundungen der Gussbetonnaht aufzutragen und mit blossen Fingern vorsichtig einzumassieren, bis es sich völlig seinem Untergrund angepasst hat und diesen schliesslich in goldenem Glanz von seiner Umgebung abhebt. In excess of ist ein Vorschlag, das Dilemma der Entscheidung zu lösen, indem weder der eine noch der andere, sondern ein dritter, eigner Weg eingeschlagen wird. Auf ähnliche Weise funktioniert auch das Performancekonzept Jäger von Zoest (2012 - ), das YEN in Zusammenarbeit mit der Künstlerin LYSANN KÖNIG 2012 in Basel an der 22


LISTE 17 verwirklicht hat. Es versammelt vom Künstler über die Galeristin bis hin zu den Kunstkaufenden alle gängigen Rollen des Galeriemarkts, nur um deren Zuschreibung durch ständiges Tauschen und Wechseln ad absurdum zu führen. Wie das Fliess- oder Tropfverhalten des Betons ist auch das Verhalten der Protagonisten in diesem Performancekonzept teilweise von äusseren Einflüssen abhängig, wie die Betonpartikel bewegen aber auch sie sich dynamisch. Jäger von Zoest ist ein Konzept für eine Pop Up-Galerie, die keinen

Lysann König mit dem Galeriebuch Jäger von Zoest, 2012 23


festen Galerieraum braucht, sondern sich immer nur zu gegebenem Anlass materialisiert, beispielsweise im Rahmen einer Kunstmesse oder einer Ausstellung. Ähnlich wie bei FranchisingModellen schreibt das Konzept Inhalt und Auftritt der Galerie vor, von der zu vertretenden Kunst über die Raumgestaltung und das Logo bis hin zum Auftreten der Galeristinnen und Galeristen. So darf Jäger von Zoest nur Künstlerinnen und Künstler im Programm führen, die konzeptuell und performativ arbeiten. In der Galerie dürfen ausser Performances keine Werke gezeigt werden, einzig das Galeriebuch liegt auf. Es enthält das Konzept Jäger von Zoest sowie einen Katalogteil, der die Künstlerinnen und Künstler vorstellt. Die Galeristinnen und Galeristen dürfen bis auf das Buch oder das Konzept auch keine Werke verkaufen, sondern nur die Künstlerinnen und Künstler vermitteln. Der Auftritt der Galerie gilt als Performance. Soweit ist die Rollenverteilung noch klar: YEN und LYSANN KÖNIG sind die Autorinnen des Konzepts und des dazu gehörigen Buches. Sobald aber die beiden das Konzept umsetzen, werden sie zu Performerinnen, und sobald Interessierte die Galerie betreten, übernehmen sie zusätzlich die Rolle der Galeristinnen und haben somit auch die Funktion von Vermittlerinnen und Verkäuferinnen, während die potentiellen Kunden unbewusst zu Akteuren in einer Performanceaufführung werden. Kauft jemand das Konzept Jäger von Zoest, dann wird er oder sie nicht nur Käufer beziehungsweise Besitzerin von 24


Kunst, sondern gleichzeitig Geschäftspartner der beiden Künstlerinnen und Teil des Netzwerks aller Jäger von Zoest-Galerien. Wird das Konzept schliesslich von Dritten umgesetzt, dann sind diese wiederum Autoren ihres jeweiligen Galeriebuches und können in die Rolle von Performern beziehungsweise Galeristen schlüpfen... So sind alle Protagonisten am Ende weder das eine noch das andere, sondern von allem ein bisschen oder alles zusammen oder etwas ganz Eigenes, das die Bezeichnung des Hybriden längst hinter sich gelassen hat, zu Gunsten einer frei mäandrierenden Existenz.

Jäger von Zoest an der LISTE 17, Basel 2012 25


In Jäger von Zoest verweigern die beiden Künstlerinnen eine endgültige Entscheidung für eine bestimmte Rolle und widerspiegeln damit auf überspitzte Weise die dynamisch-komplexen Rollenverhältnisse in einer multioptionalen Multitaskgesellschaft. Doch wie sieht es ausserhalb dieser Anordnung aus? Ist Jäger von Zoest eine Reflexion über gegenwärtige Lebensbedingungen? Letztlich bleiben YEN und LYSANN KÖNIG Künstlerinnen, in deren reichem Schaffen dieses Performancekonzept nur ein Werk unter vielen ist. Ihre Rolle innerhalb des Kunstbetriebs ist also eindeutig. Aber verlässt man diesen, gehen sie wie die meisten Kunst- und Kulturschaffenden gezwungenermassen auch einem Broterwerb nach, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Mit dieser Tätigkeit sind wiederum ganz andere Funktionen und Rollen verbunden, als jene einer Künstlerin. Und schliesslich bewegen sich die beiden auch in einem privaten Umfeld, wodurch ihnen erneut mehrere Rollen zugeschrieben werden, die nur bedingt von ihrem Künstlerdasein beeinflusst sind. Wären sie ausserdem noch aktiver Teil einer weiteren Gemeinschaft, zum Beispiel eines kirchlichen, politischen oder sportlichen Verbunds, dann nähmen sie auch dort zusätzliche Rollen ein, die zu erfüllen eine Art Teilnahmebedingung darstellte. In dieser verworrenen Konstruktion aus unterschiedlichen Rollen- und Funktionszusammenhängen ist jede Entscheidung innerhalb eines bestimmten Rahmens mitbedingt durch die Gegebenheiten des 26


Gesamtkonstrukts, welches die Entscheidung ihrerseits wieder beeinflussen kann. Der Art der Entscheidung kommt dabei eine Schlüsselfunktion zu, denn nur bewusste Entscheidungen können sich über äussere Vorgaben und Bedingungen hinwegsetzen, eine Existenz aktiv dynamisch halten und somit das Konstrukt gezielt formen, statt von diesem bestimmt zu werden. Die bisher vorgestellten Werke lassen uns auf vielfältige und verspielte Weise über Entscheidungen und den Umgang mit diesen nachdenken und geben Einblick in aktuelle Fragen einer Gesellschaft, die sich mit Schlagwörtern wie digitaler Revolution, neoliberaler Machbarkeitsideologie und Ressourcenbewusstsein auseinandersetzen muss. Entscheidungen bestimmen letztlich den Weg, den ein Individuum oder eine Gesellschaft geht und wirken dadurch identitätsstiftend. Wie auch immer sie ausfallen, welcher Art sie auch sind und welche Konsequenzen sie auch haben mögen, sie offenbaren, welche Haltung wir tatsächlich einnehmen. Unsere Entscheidungen verraten, wer wir hinter den Fassaden aus Behauptungen und social Media wirklich sind. Sich entscheiden heisst, sich zu erkennen geben.

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Interview I, April 2016 LS: Yolanda, wer bist du? YEN: Diese Frage stelle ich mir schon lange nicht mehr. Ich will auch keine Antwort darauf. LS: Und Yolanda Esther? Ist sie eine Künstlerin oder eine Kunstfigur? Als Künstlerin schreibst du dich mit deinem zweiten Vornamen, den du als Privatperson jedoch nie benutzt... YEN: Esther hat erst in meinem Leben als Künstlerin Platz gefunden. Aber wir kennen uns noch nicht gut genug, um mehr darüber sagen zu können. LS: Unser letztes Treffen ist ein gutes Jahr her. In der Zwischenzeit hast du deinen Nachnamen geändert. Ist es kein Problem für dich, plötzlich einen neuen Künstlernamen zu haben? YEN: Bürgi war nie ein Künstlername, genau so wenig wie Natsch. Mein neuer Nachname eröffnet mir aber weitere Spielmöglichkeiten, denn die Künstlerin Yolanda Esther Bürgi gibt es formell nicht mehr und die Künstlerin Yolanda Esther Natsch ist bis jetzt noch kaum öffentlich in Erscheinung getreten, also eigentlich ein weisses Blatt.

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LS: Und was hast du mit diesem Blatt vor? Darauf schreiben, zeichnen, malen? Es falten? YEN: Vielleicht zerreisse ich es und setze die einzelnen Teile in etwas Grösseres ein. LS: Du willst dich als Künstlerin auflösen? YEN: Nein, ich zerlege höchstens meinen Namen, um mehr Spielraum zwischen den einzelnen Teilen zu erhalten. LS: Wer als Künstler Erfolg haben möchte, sollte sich einen Namen machen, um im Kunstbetrieb nachhaltig wahrgenommen zu werden. Wie gehst du damit um? YEN: Wenn ich etwas zu sagen habe, werde ich mich bemerkbar machen, egal unter welchem Namen.

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Zur Identität einer Künstlerin Identität ist facettenreich, ein Konglomerat aus genetischer, biografischer und kultureller Prägung, eine komplexe Konstruktion aus Fremd- und Selbstbildern, Wunschvorstellungen und verschiedenen Rollen, die wir im Laufe unseres Lebens annehmen, die uns zu- oder sogar vorgeschrieben werden, die wir mehr oder weniger intensiv verkörpern oder gar verinnerlichen. Das Besondere einer Künstleridentität liegt darin, dass es mehrere Varianten davon gibt. In der einen macht der Künstler oder die Künstlerin keine Trennung zwischen sich als Privatperson und als professionellem Kunstschaffenden. Im zweiten Fall wird gegen aussen bewusst eine bestimmte Künstleridentität vertreten, die sich von jener der Privatperson unterscheidet. Hier handelt es sich genau genommen um eine Kunstfigur. Selbstverständlich markieren diese beiden Positionen nur die Bandbreite möglicher Identitätsmodelle von Künstlerinnen und Künstlern. In jedem Fall pflegen aber viele Kunstschaffende eine bestimmte Art des Auftritts in der (Kunst-) Öffentlichkeit, ein Image, das sehr hilfreich ist, um die eigene „Marke“ zu bilden und zu vertreten. Oft wird mit einem spezifischen Künstlerbild gegen aussen auch bewusst oder unbewusst das stark verbreitete Bedürfnis nach Authentizität befriedigt. Obwohl dieser Begriff heute vermehrt in Frage gestellt wird3, ist die sogenannte „künstlerische Authentizität“ im Kunstbetrieb nach wie vor en vogue. Interessant zu beobachten ist dabei, 30


dass sich dieser mehr oder weniger individuelle Ausdruck nicht nur im künstlerischen Œuvre manifestiert, sondern auch im optischen Auftritt vieler Kunstschaffender4. Einem bunten Mosaik gleich entsteht so in der öffentlichen Wahrnehmung ein Künstlerbild. Selbstverständlich trifft dieses Phänomen auf viele Gruppierungen zu, die durch ein gemeinsames Interesse oder eine bestimmte Berufstätigkeit verbunden sind und als solcher Verbund auch öffentlich wahrgenommen werden. Aber nur wenige Gruppierungen geniessen derzeit eine ähnlich hohe Aufmerksamkeit wie die der Kreativschaffenden, insbesondere die der Künstlerinnen und Künstler.

links: Alexander McQueen Cruise Collection 2010, Jeans rechts: Splatter Toe B34497 ZX Flux, Adidas-Kollektion 2015 31


Exemplarisch zeigte YEN dies in True Artist’s (2013), während sie mit der Aktion Rent an Artist (2012) ein breites Publikum nach dessen Künstlerbildern befragte. Als Mitgründerin der Performancegruppe Beuystoys&Mudisten trat YEN zusammen mit acht Performerinnen und Performern während der Art Basel 2012 an der LISTE auf. Dort konnte man jedes Mitglied von Beuystoys&Muddisten zu einem bestimmten Stundenansatz mieten. In einem Katalog war zwar ein Profil jedes Künstlers und jeder Künstlerin ersichtlich, im Mietvertrag war zudem präzisiert, dass man die Person als Künstler resp. als Künstlerin mietet. Worin aber die Leistung eines Künstlers oder einer Künstlerin besteht, was also das Mietverhältnis alles umfasste, liess der Vertrag bewusst offen. Was stellt man mit einem gemieteten Künstler an? Lässt man sich portraitieren oder ein persönliches Kunstwerk herstellen? Betrachtet man gemeinsam die Messestände und redet über Kunst? Lässt man sich gar beim Kauf eines Kunstwerks beraten, sich vom gemieteten Künstler die Stadt zeigen und „Szene-Tipps“ geben? Oder trinkt man einfach einen Kaffee mit ihm oder ihr und lässt sich auf das Experiment eines offenen Gesprächs, eines intensiven Austauschs welcher Art auch immer ein? Diese und noch viele weitere Möglichkeiten tun sich auf. Aber hinter jeder dieser Möglichkeiten steht eine Erwartung und hinter jeder Erwartung letztlich ein Bild, das man von Künstlern hat.

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Aus Berichten von Mitgliedern der Gruppe Beuystoys&Mudisten weiss ich, dass während der ganzen Woche nur ein einziger Kßnstler fßr zwei Stunden gemietet wurde. Er sollte in der Folge ein neu geborenes Baby, das Patenkind seines Mieters, portraitieren, was er in Form einer naturalistischen Bleistiftzeichnung auch tat. Ansonsten fanden

Alexandra Meyer und Chris Hunter bei Rent an Artist, 2012 33


viele Gespräche am Messestand statt, die meistens mit der zentralen Frage „Wofür seid ihr denn zu mieten?“ begannen und in einer Diskussion über Erwartungshaltungen und Künstlerbilder endeten. Im Gegensatz zu Rent an Artist fragt YEN in True Artist’s (2013) nicht nach individuellen Vorstellungen, sondern spielt mit verbreiteten Klischees von Künstlerbildern und weist letztlich auf einen möglichen Kern von Identität hin, der unter den vielen Schichten aus Rollen und Fassaden liegen könnte: Jeanshosen, die von Kunstschaffenden im Atelier getragen wurden, versehen mit Farbspritzern oder anderen Flecken, die den Eindruck erwecken, diese Hosen hätten einem Schaffensprozess beigewohnt, werden in einem Kleidergeschäft, das teure Markennamen führt, unter dem Label TRUE ARTIST’S verkauft. Auf einem Beizettel an den Hosen steht, dass diese von echten Kunstschaffenden während der Arbeit im Atelier getragen wurden. Ausserdem ist dem Beizettel zu entnehmen, dass TRUE ARTIST’S ein Kunstprojekt sei und ein Teil des Verkaufserlöses in einen Fonds zur Unterstützung bedürftiger Künstlerinnen und Künstler fliesse. Mit der Geste der Umplatzierung einer gebrauchten Hose vom Atelier in die Boutique hinterfragt YEN den Modetrend der Splatter Paint Fashion. Dieser nahm seinen Anfang im Herbst 2010 an den Schauen wichtiger Modelabels wie Alexander McQueen, Proenza Schoulder, Tory Burch oder 34


Diesel und hat sich bis zum aktuellen Zeitpunkt gehalten, was beispielsweise die Frühjahrs- und Sommerkollektionen 2016 von Versace Jeans und Polo Ralph Lauren beweisen. Weshalb werden mit Farbflecken bespritzte Kleider und Accessoires designt? Und warum sind Konsumentinnen und Konsumenten bereit, Geld für ein Paar Hosen auszugeben, das sie ein, zwei Jahre früher genau dieser Flecken wegen noch in den Mülleimer geworfen hätten? Das Beispiel der Splatter Paint Fashion zeigt deutlich, wie sehr sich modebewusste Menschen in unserem Kulturkreis aktuell wünschen, in die Nähe von Kunstschaffenden zu treten resp. als Teil dieser Szene wahrgenommen zu werden – so sehr, dass sie offenbar am liebsten in deren Haut schlüpfen möchten. Da dies schlecht möglich ist, begnügen sie sich eben mit der zweiten Haut, der Kleidung. Es ist kaum zu weit gegriffen, hier von einem Fetisch zu sprechen. Ausserdem wird an diesem Trend sichtbar, welches Künstlerbild für viele noch das vorherrschende ist: das eines Malers nämlich, der in wilder Gestik mit Pinsel und tropfender Farbe hantiert, so vertieft in sein Werk, dass er nicht bemerkt oder es ihn nicht stört, wie hie und da ein kleiner Farbspritzer auf seinen Kleidern landet. Nonchalant und arm wie er ist, trägt er bei seinem Schaffen auch keine Schürze, die seine Kleidung vor der Farbe schützen würde. In True Artist’s entblösst YEN nicht nur den Fetischstatus von Künstlerinnen und Künstlern im westlichabendländisch geprägten Kulturkreis, sondern ebenso die Vorstellung, die viele Menschen dort 35


von Kunstschaffenden zu haben scheinen. Die Bemerkung auf dem Beizettel, dass ein Teil des Verkaufserlöses an bedürftige Künstler gehe, nimmt dabei einerseits Bezug auf das gängige Klischee der „brotlosen Kunst“ und verspricht andererseits einen moralischen Mehrwert beim Kauf der Jeans, was einem Trend im einem bestimmten Segment des Konsummarkts entspricht. Zusammen mit dem stattlichen Preis und dem Verkaufsort der Hosen spielt YEN auf eine Klientel an, die über ein bestimmtes Vermögen verfügt und gerne bereit ist, für einen nicht materiellen Mehrwert Geld auszugeben. Mit anderen Worten spielt sie also auf einen Kreis von Menschen an, der auch bereit sein könnte, Kunst zu kaufen – und zwar bewusst und nicht nur als unwissender Akteur in der performativen Aktion von YEN. Ein und dieselbe Person kann in ein und derselben Situation also zwei unterschiedliche Rollen haben, entscheidend ist dabei einzig und alleine die Kaufmotivation. Dies hinterfragt wiederum die Rolle des Kunden, der in einer Galerie ein Kunstwerk kauft. In True Artist’s wird die Maskerade entlarvt: Nicht unsere Kleidung oder unser Lebensstil sagen aus, wer wir sind, sondern die Motivation oder innere Haltung, die uns zu einer bestimmten Handlung bewegt, ist entscheidend. Kunstsammlerinnen und Kunstsammler, Künstlerinnen und Künstler sind Menschen, die

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aus Liebe oder Leidenschaft zur Kunst handeln. Wer sich hingegen mit Kunst schmĂźcken will, ist in letzter Konsequenz lediglich Konsument.

Jeans aus der Aktion True Artist‘s, 2013 37


Interview II, Mai 2016 LS: Du arbeitest mit Performance, Zeichnung, Text, Videoanimation, Pressebildern, Alltagsgegenständen, Naturobjekten und manchmal auch mit Sound. Hast du ein bevorzugtes Medium? YEN: Nein, aber eine bevorzugte Strategie: den Eingriff. Er ist zentral in meiner künstlerischen Arbeit. Ich interveniere gerne in Vorgefundenes oder Gegebenes. Zum Beispiel manipuliere ich Bilder aus der Presse oder aus dem Internet oder verändere mittels Saaltext die Lesart von Kunstwerken. LS: Auf ähnliche Weise gehst du auch mit Alltagsgegenständen um? YEN: Ja, ich führe ihre herkömmliche Funktionsweise durch meine Eingriffe ins Absurde, wenn ich beispielsweise einen Fliegenfänger über eine Venus-Fliegenfalle hänge oder Kletterseile und -karabiner so installiere, dass sie sich gegenseitig jeglicher Mobilität berauben. LS: Könnte man also sagen, dass bei dir der Eingriff die eigentliche künstlerische Arbeit ist und nicht das sichtbare Endprodukt?

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YEN: Wenn der Eingriff als Geste gemeint ist, die zu einem fertigen Werk führt, ist er Teil der Arbeit, kann diese aber nicht ersetzen. Es braucht das Sichtbare, um die Geste dahinter erkennen zu können. Und letztlich soll das Sichtbare auch über die Geste hinausgehen. Es darf nicht nur darum gehen, eine Geste zu illustrieren. LS: Und inwiefern unterscheidet sich deine Art des Eingriffs beispielsweise vom formenden Umgang mit Ton oder vom gestischen Farbauftrag in einer Malerei? YEN: Meistens modelliere ich mein Material nicht, sondern stelle es nur in eine neue Umgebung und verändere den Zusammenhang, in dem es üblicherweise steht. Und grundsätzlich geht es mir nicht darum, aus Rohmaterial etwas Neues zu schaffen, sondern mittels Verschiebungen auf etwas aufmerksam zu machen, das über das Offensichtliche hinausweist. LS: In L‘obvie et l‘obtus5 bezeichnet ROLAND BARTHES die Künstler als „Gestenmacher“. Siehst du dich als Gestenmacherin? YEN: Ich sehe, dass ich Gesten mache und dass daraus Kunst entstehen kann.

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Über die Geste Gesten sind der kleinste anthropologische Nenner der Kommunikation. Dies wird deutlich, wenn man fremdsprachigen Menschen oder Säuglingen zusieht und glaubt, erahnen zu können, was diese im Moment bewegt, auch wenn man kein Wort ihrer verbalen Äusserung verstanden hat. Eine Geste kann sich von einem Subjekt an einen Empfänger richten. Sie kann aber – beispielsweise als spontaner Ausdruck eines Gefühls – auch nicht direkt an andere adressiert sein, von diesen aber dennoch sofort verstanden werden, sofern sie die Geste bemerken. In jedem Fall ist die Geste vor- oder non-verbaler Ausdruck und teilt dadurch einen Wesenszug mit der bildenden Kunst oder mit Kunst generell. Denn eine Geste deutet an, lässt erahnen oder deutlich spüren, gar nachfühlen, was gemeint sein könnte, ohne jedoch eindeutig zu benennen. Sie gibt zu verstehen, lässt aber doch einen gewissen Spielraum der Interpretation offen und regt so die Imagination an. Sie weckt untergründige Interessen oder Gefühle – Regungen, die im Unbewussten schlummern wie beispielsweise Mitgefühl, Abscheu, Erstaunen, Neugier oder Verlangen, denn die Geste berührt direkt, sie ist distanzlos, weil sie nicht den Umweg über Worte oder Zeichen geht. Dieses Nonverbale, nicht Zeichenhafte bringt eine Unschärfe mit sich, die ein echtes Teilen des Ausgedrückten ermöglicht, eine Mit-Teilung auf gleicher Ebene, denn wer 40


eine Geste sieht, versteht sie, weil er sie selbst vermutlich kaum anders äussern würde. Sobald man aber versucht, die wahrgenommene Geste in Worte zu fassen, kommt es zu Uneinigkeit und sprachlichen Missverständnissen. Babel. Auf ähnliche Weise begegnen wir Kunst, wenn wir uns von einem bestimmten Werk angesprochen fühlen, jedoch beim Versuch scheitern, dieses Gefühl oder diese Ahnung mit Worten zu beschreiben, weil es den Worten kaum gelingen kann, das Wahrgenommene in seinem ganzen Wesen und mit all seinen Facetten so zu erfassen, wie es uns berührt. Deshalb muss ein Text, der dieser Aufgabe gerecht werden möchte, seinerseits einer Geste gleich lediglich Andeutungen zum Werk hin machen, also seine Worte sorgfältig darum herum anordnen, sodass zwischen ihnen eine Spannung entsteht, er dadurch bestimmte Ahnungen weckt, ohne jedoch Wesen und Wirkung des Werks in einer bestimmten Form festlegen zu wollen. Denn so, wie eine Geste sich zum Beispiel in einer Bewegung, in einem Seufzer oder Augenaufschlag äussert, ist auch ein Kunstwerk von genau umrissener Unschärfe. Unscharf, da es nie genau benennt, was es meint oder erahnen lässt. Und genau umrissen, weil es trotzdem nicht beliebig lesbar ist, sondern einen bestimmten Gedankenraum eröffnet, bei unterschiedlichen Betrachtern an ähnliche Gefühle appelliert, ähnliche Assoziationen oder Denkprozesse anregt. 41


YEN lässt nicht nur mittels Geste ein Werk entstehen, sondern thematisiert sie auch mehrfach, indem sie die Geste zum Bildinhalt macht. So nahm sie in der Performance Bye Bye Rhine 2014 auf dem Vordach des ehemaligen Kunstinstituts an dessen Abschiedsfest die Haltung einer Gallionsfigur ein. Während rund zwanzig Minuten stand sie, an Seilen gesichert, auf Höhe des ersten Stocks an der Dachrinne, unter ihr der Abgrund und das Publikum, vor ihr der Rhein. Ihr durchgestreckter Körper blieb dabei reglos in leicht schrägem Winkel zur Gebäudemauer, die Arme und die offenen Hände hielt sie nach hinten gestreckt, als würde sie damit den imaginären Bug eines Schiffs umfassen, während Gesicht und Blick nach vorne gerichtet blieben. Dieses einfache Bild vermochte den Moment des Abschieds und des gleichzeitigen Aufbruchs in etwas Neues, noch Ungewisses, diesen Augenblick der Ambivalenz, besser zu verkörpern, als jede Festrede ihn hätte beschreiben können. Die Performance machte aber auch auf die Geste der Gallionsfigur aufmerksam, die gleichzeitig festhalten und aufbrechen, schützen und ziehen will. Hatte man zuvor diese Holzfiguren an den Schiffen nur als blosse Dekoration wahrgenommen, so wurde einem während der Performance unweigerlich das metaphorische Ausmass ihrer Erscheinung bewusst.

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Bye Bye Rhine, Performance am Institut Kunst, Basel 2014

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Einer besonderen Geste, dem Blick, widmet sich YEN in zwei ihrer Werke, was kaum verwundert, ist er doch unbestritten die stärkste aller Gesten. Beispielsweise schreibt ihn ROLAND BARTHES „jenem Bereich der Bedeutung“ zu, „dessen Einheit nicht das (diskontinuierliche) Zeichen ist, sondern die Signifikanz (...)“6. Demselben Bedeutungsbereich rechnet BARTHES auch die Künste zu7. Ausserdem spielt der Blick gerade in der bildenden Kunst eine doppelte Schlüsselrolle: als jener des Betrachters auf das Kunstobjekt und, im Sinne GEORGES DIDI-HUBERMANS, als das, was den Betrachter aus dem Werk heraus anblickt8. Insbesondere auf letzteres nehmen die beiden Werke YENs Bezug: Le Regard II (2016), das den Betrachter eindringlich und ununterbrochen anzublicken scheint und Le Regard I (2016), das auf einen konzentrierten und intensiven Blick verweist, der jedoch nicht sichtbar ist. Ohne den Hinweis über den Werktitel würde man bei Le Regard I kaum an einen Blick denken. Das Objekt, ein weisser Kunststoffabguss, hat die Form einer schmalen, circa 2.5 Meter hohen Konstruktion aus einer Dachlatte, an deren oberem Ende mittels Verstrebung ein zweites, flach darauf liegendes, rund 50 Zentimeter langes, schmales Holz befestigt ist. Es erinnert entfernt an einen Galgen oder an jene Konstruktionen, die zur Kreuzigung benutzt wurden. Doch ist das Objekt mit seinen dünnen Stangen viel zu filigran und auch zu kurz, um einem der 44


artigen Zweck dienen zu können, zudem würde der poröse Kunststoff diese Nutzung gar nicht erlauben. Ginge man aber von einem Modell aus, dann stimmten die Proportionen nicht. Tatsächlich handelt es sich beim Objekt denn auch um den Abguss eines echten Vogelsitzes. Derlei Holzgerüste werden oft von Bauern oder Autobahnbetreibern am Feld- oder Strassenrand aufgestellt, um gezielt Raubvögeln einen Jagdstand zu bieten. Die Vögel, die sich im Naturraum auf kahle Äste setzen, um nach ihrer Beute am Boden Ausschau zu halten, nutzen diese künstlich errichteten Sitzgelegenheiten im Kulturraum gerne, da oft auf weiter Strecke andere brauchbare Möglichkeiten fehlen. Selbsterklärend jagen sie folglich im näheren Umraum dieser Vogelsitze nach Kleintieren,

Vogelsitz, dokumentatrische Fotografie, YEN 2015 45


vor allem nach den unerwünschten Wühlmäusen. Ausserdem halten sie durch ihre blosse Anwesenheit andere Vögel vom frisch gesäten Acker oder von den Windschutzscheiben der Autos fern. Im Kunstraum, weitab seines eigentlichen Einsatzgebietes, hat YENs Vogelsitz seinen Bestimmungszweck hingegen verloren – erst recht, da es sich dabei nicht um ein echtes Gerüst aus Holz handelt, sondern um den erwähnten Kunststoffabguss. In seiner Künstlichkeit verweist das Objekt jedoch weiterhin auf einen Vogelsitz, ohne den Anspruch zu haben, einer zu sein. Ebenso verweist es auch auf die möglichen Nutzniesser solcher Konstruktionen, wiederum ohne den Anspruch, dass wirklich ein Raubvogel auf ihm lande. Das weisse Objekt steht im Raum wie ein leerer Sockel, doch im Gegensatz zu letzterem, der einem beliebigen Gegenstand als Träger dienen kann, suggeriert der künstliche Vogelsitz ganz klar, für wen er da ist. Wir müssen uns also einen Raubvogel vorstellen, sei das nun ein Falke, Milan, Mäusebussard oder eine Eule, einen Jäger jedenfalls, der auf seiner Sitzstange harrt und mit scharfem, bohrendem Blick das Feld vor sich absucht, bis er seine Beute entdeckt, sich sodann erhebt, um nach einem präzisen Anflug schliesslich kraftvoll und tödlich zuzupacken. Sein Blick, und damit kommt YEN zurück auf die stärkste aller Gesten, ist eindringlich, denn er ist existenziell: Existenziell für den Hungrigen, dessen Überleben von der Schärfe und Aufmerksamkeit dieses Blicks abhängt, existentiell 46


aber auch für die Beute, deren Existenz in gleichem Masse davon bedroht ist. Es ist ein Blick, der im Kunstraum zwar nicht visuell erkennbar ist, der vor unserem inneren Auge aber umso eindringlicher erscheint, da er dort kraft unserer Erinnerung und unseres Vorstellungsvermögens alle selbst erlebten oder gesehenen Blicke dieser Art in sich vereint. Im Ausstellungsraum trifft so der Blick des hungrigen Jägers auf den des Kunstbetrachters, der, kann oder will er diesem Blick nicht standhalten, auf einmal selbst zum Angeblickten wird, vielleicht sogar zum Beobachteten. Oder der sich, erwidert er den Blick, plötzlich einem Spiegel gegenüber sieht. Im Gegensatz zu Le Regard I, wo kein Blick sichtbar ist, dafür aber ein umso eindringlicherer im Raum steht, zeigt Le Regard II zwar einen Blick, der aber leerer nicht sein könnte: An der Ausstellungswand hängt ein flacher Monitor, auf dem ein Video-Loop läuft, der ein seltsam anmutendes Augenpaar vor schwarzem Hintergrund zeigt. Die ungewohnt bunten Augen verändern stetig ein wenig ihre Form und Farbverteilung. Bald wird klar, dass es Überblendungen verschiedener Varianten des immer gleichen Motivs sind. Wer sich die Zeit nimmt, dieser ständigen Veränderung eine Weile zuzusehen, wird herausfinden, dass es sich um Fotografien von Schmetterlingsflügeln handelt, aus denen YEN mittels eines Bildbearbeitungsprogramms die Augenflecken, sogenannte Ocellen, ausgeschnitten und auf schwarzem Bildgrund in einer einheitlichen 47


Maske arrangiert hat. Diese Erkenntnis stellt jedoch die zuvor gemachte Wahrnehmung eines Blicks fundamental in Frage: Was ist das, was einem hier vermeintlich und unergründlich entgegenblickt? Jedenfalls kein schauendes Wesen. Der Schmetterling schützt sich mit seiner augenähnlichen Zeichnung gegen Fressfeinde, die beim Anblick der geöffneten Flügel an Stelle der Beute den Blick eines gefährlichen Kontrahenten erkennen sollen. Die echten Insektenaugen des Schmetterlings befinden sich an seinem Kopf und haben von ihrer Form und Funktion her nicht das Geringste mit den Zeichnungen auf seinen Flügeln zu tun, die eher den Augen von Säugetieren oder Vögeln gleichen. Die Ocellen imitieren Iris, Pupille und sogar Glanzlicht, wodurch der Eindruck von Räumlichkeit entsteht. Die Ähnlichkeit dieser Zeichnungen mit echten Augen ist derart verblüffend, dass man beinahe von einem Abbild sprechen könnte. Doch im Unterschied zu einem herkömmlichen Abbild fehlt in diesem Fall die spezifische Vorlage, und im Unterschied zu jeder Zeichnung gibt es hier keinen konkreten Autor. Jedenfalls nicht im herkömmlichen Sinne von Autorschaft, denn die gestaltende Kraft liegt, der Evolutionstheorie folgend, nicht beim einzelnen Schmetterling, sondern bei ganzen Arten beziehungsweise in einem wechselseitigen Prozess von Auslese und Fortpflanzung: Generation für Generation haben sich bei gewissen Schmetterlingsarten, zum Beispiel dem Tagpfauenauge, über

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Jahrtausende hinweg Flügelzeichnungen gebildet, die eben diesen abschreckenden visuellen Effekt bei Tieren erzeugen sollen, die Schmetterlinge jagen. Und da der Mensch die Sehfähigkeiten eines tagaktiven Säugetiers besitzt, erkennt auch er beim Betrachten der Flügel eine Art Blick. Es ist demzufolge die Evolution selbst, die uns entgegenblickt, ein Blick des Kosmos, der weder wertet noch urteilt, sondern einfach nur ist, gleichzeitig lebendig und tot, intensiv, aber teilnahmslos und deshalb verstörend und unheimlich.

Le Regard II (Tagpfauenauge), Videostill, YEN 2016

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Aus unserer Sehgewohnheit heraus glauben wir zwar automatisch, einen Blick zu erkennen, ihn vielleicht sogar deuten zu können, was uns aber in diesem Fall niemals gelingen mag, da es kein Blick ist. Was wir sehen, ist eine Art Abbild der stärksten aller Gesten und im selben Moment die pure Antigeste, da keine Emotion, kein Affekt, kein Ausdruck je in diesem Blick liegen können. In den beiden soeben beschriebenen Werken tritt das dialektische Spiel zwischen dem Sichtbaren und dem, worauf es verweist, was gleichsam dahinter verborgen ist, am deutlichsten hervor. Angedeutetes und Vorenthaltenes, Gesagtes und Verschwiegenes, Anwesendes und Fehlendes kippen in ständigem Hin und Her und bilden so die Gegenpole einer genau umrissenen Unschärfe. Oder anders ausgedrückt: Sie formulieren ein präzises Schweigen; ein Schweigen, das, im Gegensatz zur Stille, die beliebig auftreten kann, voraussetzt, dass etwas da ist, war oder sein wird, worüber oder weshalb geschwiegen wird. Es ist das Schweigen der Geste, die nur andeutet, aber nie benennt. Dieser Andeutung, die einem etwas vor Augen führt, um es im selben Moment wieder zu entziehen, liegt eine Spannung inne, durch die das Verschwiegene in Bewegung bleiben kann, in Form-Werdung, die nie ganz endet. Demgegenüber wird alles Eindeutige zwangsläufig zur Hülle, seien dies nun Worte, Codes, ein bestimmtes Image oder Rollen.

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Hüllen und präzises Schweigen Der Gegensatz zwischen dem Eigentlichen, das nur in seiner ständigen Transformation zu begreifen ist und einer Hülle, die lediglich den Anspruch hat, dafür zu stehen, ist immer wieder Thema in YENs Werk. Oft macht sie durch einen Eingriff in die Hüllen auf das komplexe und letztlich unfassbare Wesentliche dahinter aufmerksam. In Jäger von Zoest und True Artist’s schachtelt sie mehrere Rollen und ihre Handlungszusammenhänge derart eng ineinander, dass deren Zuschreibung obsolet wird und sich zwangsläufig die Frage nach dem Wesentlichen stellt. In Energy (2014 - ), einer fortlaufenden Fotoserie, verweist sie mittels leerer Hüllen auf deren ehemals energiegeladenen Inhalt: Die einzelnen Bilder sind im Rahmen des Projekts Zu Fuss ans Mittelmeer (2012 - ) entstanden, ein Fussmarsch von der Haustür durch die Alpen bis an die Meeresküste. Sie zeigen entweder überfahrene Kleintiere oder weggeworfene Verpackungshüllen von Instant-Sportnahrung. Der wesentliche Inhalt ist bei beiden Sujets durch den Menschen im wahrsten Sinne des Wortes ausgepresst worden. Die so fotografierten Objekte treffen allerdings nicht erst an der Ausstellungswand aufeinander, sondern liegen ausserhalb davon, nämlich auf Wanderwegen und Gebirgspfaden, verstörend eng beieinander. Was die Künstlerin auf ihrem Fussmarsch durch die Alpen fotografiert, spricht von Verbrauch, Verschleiss und

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Achtlosigkeit, von einem bestimmten Umgang mit Wesentlichem und von dessen Ende, dem Tod, der in seiner puren Leere seinerseits fĂźr jedes Lebendige wesentlich ist.

oben: Energy, Einzelbild (2014_07, Enervitene Sport 1), 2014 unten: Energy, Einzelbild (2014_07, Eidechse blau), 2014 52


Peakperformance (2014 - ), eine Serie von Wandobjekten aus massiven Ketten, Kletterseilen und Karabinern, lässt durch seine durchaus dekorativen Elemente erahnen, wie in Folge der Vereinnahmung durch die Konsumindustrie die ursprünglich simple, existenzielle Alpin- und Kletterausrüstung zu einem durch und durch designten Lifestyleprodukt wurde. Was einmal einer relativ kleinen Gruppe von Berggängern seiner lebenssichernden Funktion wegen als Werkzeug diente, findet sich mittlerweile losgelöst von seiner Wesentlichkeit in breiten Teilen der Bevölkerung als ein formschöner, bunter Fetisch für Naturnähe, Abenteuer und Freiheit wieder. Eine Hülle, die ihren Träger als etwas erscheinen lässt, das er in den seltensten Fällen wirklich ist.

Peakperformance, Annapurna 1 + 2, 2015 53


Einen besonderen Platz in YENs Schaffen nimmt in diesem Zusammenhang die Serie Verwesung (2012 - ) ein, denn hier ist der Eingriff eine doppelte Versinnbildlichung von Transformation und gleichzeitig auch der Verweis auf Wesentliches unter der Oberfläche aus Wörtern und Bildern. Durch zeichnerische Intervention ersetzt YEN in Zeitungsbildern, die einen gewissen Zeitzeugencharakter haben, jeweils einen Menschen durch ein madenartiges Wesen. Die ersetzte Person bleibt dem Betrachter grundsätzlich unbekannt und ist auch nicht in der Bildlegende benannt. So werden die Maden zu Platzhaltern für jeden von uns. Der Titel bezeichnet sowohl die Verwandlung einer Person in dieses Wesen als auch den Zersetzungsprozess eines Organismus. In letzterem spielen Maden oft eine wichtige Rolle bei der Umwandlung von toter Materie in wieder verwertbare Stoffe. Allerdings ist die Rolle der Made ambivalent, denn Maden ernähren sich nicht nur von totem Material, sondern oft auch von lebendigem, zum Beispiel einem Apfel. Ebenso ambivalent kann die Rolle der Maden in den Zeitungsbildern verstanden werden: Durch ihre Präsenz in den Bildern stellen sie einen Zusammenhang zwischen Zeitungsartikeln verschiedener Verlage und Ressorts her und machen klar, dass es um mehr als eine bestimmte Zeitung oder ein bestimmtes Thema geht. Sie sind entweder stumme Zeugen oder Teilnehmer des Geschehens auf dem Bild. So oder so aber sind sie Teil der Prozesse, die unsere Gesellschaft und mit ihr unsere Welt 54


Verwesung (Brics), Auschnitt, 2012 55


umgestalten. In diesem Zusammenhang kann man die im deutschsprachigen Raum bekannte Redensart „Da ist der Wurm drin!“ verstehen. Diese meint, dass ein System nicht so funktioniert, wie es sollte, nicht mehr einwandfrei ist, sondern von etwas Unerwünschtem durchdrungen und langsam aber sicher davon zerstört wird. Auch hier kann die Rolle der Made mehrdeutig verstanden werden: Entweder ist sie die Verursacherin des Zerfalls oder nur dessen Symptom. Auf jeden Fall aber treibt sie ihn voran. Doch ist die Made nicht nur treibende Kraft einer Umwandlung, sondern steht ihrerseits wiederum symbolisch für Metamorphose oder Transformation, da sie die zweite der vier Entwicklungsstufen von Ei, Larve, Kokon und geschlechtsreifem Tier verkörpert. YEN transformiert eine abgebildete Person in ein Symbol doppelter Transformation. Ähnlich wie LAWRENCE WEINERS Beitrag THE MIDDLE OF THE MIDDLE OF THE MIDDLE OF (2012) an der dOCUMENTA (13), verweist die Ineinanderschachtelung bei Verwesung auf den wesentlichen Kern von etwas, den man zwar erahnen, aber nie ganz fassen kann, weil er sich einem durch jeden Benennungsversuch erneut entzieht. Doch während sich WEINERS MITTE in präzise konzentrischem Rückzug bewegt, fressen sich YENs Maden unberechenbar kreuz und quer durch Zeit- und Weltgeschehen. Statt zu kontemplativer Konzentration regen sie zum Nachdenken über Informationsfluss und Presse an. 56


Verwesung (Afghanistan 2012), Ausschnitt, 2012 57


Vor dem Hintergrund der Dichotomie aus Hülle und Wesen wirft YEN in ihren Werken einen eigenständigen Blick auf wichtige Fragen ihres Umfelds: Einer scheinbar objektiven Berichterstattung stellt sie die Unberechenbarkeit subjektiver Wahrnehmung entgegen. Die oft zitierte Entscheidungsträgheit ihrer Generation zeigt sie als ein komplexes und perfides Dilemma aus Zwängen und Verlockungen, das nur schwer zu durchschauen und noch schwerer zu durchbrechen ist. Gängige Identitätsmodelle entlarvt sie als Lifestyle-Fassaden, denen sie fluide Existenzen gegenüberstellt, die sich stets einer festen Zuschreibung oder eindeutigen Festlegung entziehen. Den Definitionsversuchen von Identität begegnet sie mit der Frage nach dem Wesentlichen, das mitunter auch ungeachtet von Individuen existiert. Und den Ruf nach Individualität und Authentizität im Kunstbetrieb erwidert sie mit einer polymorphen Künstleridentität, die sich sowohl in Einzelautorschaft, unter eigenem Namen oder als alter Ego, wie auch als Teil der multiplen Autorschaft des KünstlerkuratorenKollektivs Dr. Kuckucks Labrador manifestiert. Das Hin und Her vor einer Entscheidung, das Fluktuieren zwischen verschiedenen Rollen und Identitäten, das Suchen nach einer eigenständigen Form bearbeitet YEN mittels Eingriff, mit dem sie die sogenannte Realität verschiebt, zu Gunsten einer unverstellten Sicht auf die Unschärfe. Ihr favorisiertes Sujet, die Geste, ist ihr 58


dabei lieber als das Wort oder das Zeichen, denn in der dialektischen Kraft der Geste, in der Spannung ihrer Andeutung sieht YEN sowohl Methode als auch Inhalt einer unmittelbaren und unvermittelten künstlerischen Kommunikation. Einer Kommunikation, die sich durch präzises Schweigen ausdrückt. Ich setze mich mit meiner Vernunft auseinander – nicht im Streit, ganz sachlich. Ich frage sie: „Vernunft, was weisst du?“ Sie antwortet nicht. Ich fahre fort: „Vernunft (da wir einen nüchternen Umgang miteinander pflegen, scheint mir dies die richtige Anrede für sie zu sein), Vernunft, wenn ich mich immer an deinen Rat halte, wo führst du mich hin?“ Sie antwortet immer noch nicht. Ich fahre fort: „Angenommen, Mutter, Bruder und Hund lägen bewusstlos zwischen den Flammen in meinem Elternhaus und es könnte jeden Moment zusammenstürzen. Wen rätst du mir zu retten? Die Mutter, weil sie mich geboren hat? Den Bruder, weil er mir am längsten bleibt? Oder den Hund, weil er der leichteste der dreien ist? Ich liebe sie alle, deine Kriterien sind lächerlich – nein, grausam. Was würdest du mir raten? - Egal, du könntest mich niemals über den Verlust der anderen beiden hinwegtrösten.“ Meine Vernunft antwortet, dass es unvernünftig sei, ein brennendes Haus zu betreten und dass sie zwar 59


für den Schmerz mitverantwortlich wäre, aber für den Trost nicht zuständig. Und sie fragt mich eindringlich, ob ich den Hund wirklich genau so liebe wie den Bruder und die Mutter, das sei doch nicht normal. Ich gebe ihr Recht: „Ja. Das entzieht sich jeder Norm. Vernunft, das kannst du nicht verstehen – musst du auch nicht. Dafür bist du nicht zuständig.“ Yolanda Esther Natsch (2010)

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Fussnoten: 1 Ein fundierter Überblick zur Generation Y findet sich bei URSULA KOSSER, Ohne uns. Die Generation Y und ihre Absage an das Leistungsdenken, DuMont, 2014 2 Eine weitere gängige Bezeichnung für die Gesellschaftsgruppe der Generation Y, vgl. OLIVER JEGES, Generation Maybe. Die Signatur einer Epoche, Hoffmanns Tolkemitt, 2014 3 Siehe dazu u.a. REGINA WENNINGER, Artistics and Authentic. Philosophische Untersuchung eines umstrittenen Begriffs, Königshausen & Neumann, 2009 4 Ausführlich dazu LEONTINE SCHELLING, L‘Image des Artistes au Temps du Post Individu, Editions Gallimard, 2014 5 ROLAND BARTHES, Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, Kritische Essays III, aus dem Französischen von Dieter Hornig, Suhrkamp, 1990, S. 168 6 ROLAND BARTHES, Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, Kritische Essays III, aus dem Französischen von Dieter Hornig, Suhrkamp, 1990, aus dem Anhang zum ersten Teil, S. 315 7 ROLAND BARTHES, Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, Kritische Essays III, aus dem Französischen von Dieter Hornig, Suhrkamp, 1990, aus dem Anhang zum ersten Teil, S. 315 8 Siehe dazu GEORGES DIDI-HUBERMAN, Ce que nous voyons, ce qui nous regarde, Les Éditions de Minuit, Collection Critique, 1992

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Abbildungsverzeichnis: S. 11 Zu keiner Zeit in Gefahr, Installationsansicht, Filter4, Basel, 2012, Foto: YEN S. 15 Get Closer!, Detailansicht aus der Ausstellung, Messe Basel, 2013, Foto: Christian Knörr S. 18 EXIT, Ausstellungsansicht links, Atelier Mondial Basel, 2014, Foto: YEN S. 19 EXIT, Ausstellungsansicht rechts, Atelier Mondial Basel, 2014, Foto: YEN S. 21 in excess of, Ausstellungsansicht (Detail), Atelier Mondial Basel, 2014, Foto: YEN S. 23 Lysann König mit dem Galeriebuch Jäger von Zoest, LISTE 17 Art Fair Basel, 2012, Foto: YEN S. 25 Jäger von Zoest an der LISTE 17 Art Fair Basel, Sicht auf den Galeriestand, 2012, Foto: YEN S. 31 Bsp. aus der Alexander McQueen Cruise Colletion, Herbst 2010. Gefunden auf: http://geniusbeauty.com/ fashion-and-wear/cruise-collection-2010-alexander mcqueen/ (17.07.2014) Splatter Toe B34497 Adidas ZX Flux, Modell aus der Adidas-Sommerkollektion 2015. Gefunden auf: www.kicksonfire.com/another-look-at-the-adidas zx-flux-splattered-toe/ (04.08. 2015) S. 33 Alexandra Meyer und Chris Hunter bei Rent an Artist von Beuystoys&Mudisten, Liste Art Fair Basel, 2012, Foto: YEN S. 37 Jeans aus der Aktion True Artist‘s, 2013, Foto: YEN S. 43 Bye Bye Rhine, Performance am Institut Kunst, Basel, 2014, Foto: Shirin Abuzaid S. 45 Vogelsitz, dokumentatrische Fotografie, YEN 2014 S. 49 Le Regard II, Videostill, YEN 2016 S. 52 Energy, Einzelbild (2014_07, Enervitene Sport 1), Energy, Einzelbild (2014_07, Eidechse blau), beide Fotos: YEN 2014 S. 53 Peakperformance, Annapurna 1 und 2, 2015, Installatiojnsansicht, Foto: YEN S. 55 Verwesung (Brics 2012), 2012, Auschnitt, Foto: YEN; Original: Sammlung Rudolf Bechtler S. 57 Verwesung (Afghanistan 2012), 2012, Ausschnitt Foto: YEN 63


YEN (*1983) lebt und arbeitet als Künstlerin in Basel und Bern. 2013 - 2016 Master of Fine Arts unter Chus Martinez, Institut Kunst der Hochschule für Gestaltung und Kunst HGK | fhnw 2010 - 2013 Bachelor in Kunst unter René Pulfer, Institut Kunst der Hochschule für Gestaltung und Kunst HGK | fhnw 2010 - 2012 Mitglied der Performancegruppe Beuystoys&Muddisten seit 2012 zusammen mit Lysann König Teilhaberin der Galerie Jäger von Zoest seit 2012 Gründungsmitglied des KünstlerkuratorenKollektivs Dr. Kuckucks Labrador Ausstellungen und Performances (Auswahl): (2016) Every Contact Leaves a Trace, Kunsthalle Basel / Edit-a-Thon, Art&Feminism, Strauthof Zürich / Hello Beograd, U10 Art Space Belgrade / LISTE Total, LISTE 21, BASEL / filzfabrik rocks, Filzfabrik Bern (2015) Angesehen, Basler Münster / Doing Nothing Festival, Rote Fabrik Zürich (2014) Art in Redlight, Beurs van Berlage, Amsterdam (Netherlans) / Cantonale Berne Jura 14, Musée Jurassien des Arts, Moutier / REGIONALE 15, Fabrikculture Hegenheim (France) / International Art Festival Patras, Re-Culture III, Patras (Greece) / ArtStadt Bern / Le Corbeau et Le Renard, Museum für Gegenwartskunst Basel / Foreign Zone, Atelier Mondial Basel (2013) REGIONALE 14 / Jungkunst 2013, Winterthur (2012) REGIONALE 13, Haus für elektronische Künste HeK Basel / Special Guest at LISTE 17 Art Fair Basel 64


Dr. Leontine Schelling Geboren in Argentinien, aufgewachsen in Paris und Zuoz (CH), Kunsthistorikerin, freischaffende Autorin und zusammen mit Yves Perrin Teilhaberin der Galerie Surplus Paris, lebt und arbeitet in Paris und London. 2004 Master in Contemporary Art Theory, Goldsmiths Univercity of London 2007 doktoriert am Sotheby’s Institute of Art New York „Kitsch. Prinziples of a dynamic cultural phenomenon“ Seit 2008 freischaffende Autorin mit Veröffentlichungen u.a. in ArtNow, Off Art, Exhale und dem Online-Magazin Contemporary 2010 Étienne Galimard-Sachbuch-Preis für „Études et Préludes – un jet d’Oeil sur les Après-Gardes“ 2011 vorgeschlagen für den Albert Magnus Preis für ihren Essay „Etel Adnan - Travelling in Exile“ Letzte Veröffentlichungen: Gestures of Shifting. In Between Artist and Artwork, University of California Press, 2015 L‘Image des Artistes au Temps du Post Individu, Editions Gallimard, 2014 65


Hrsg.: Dr. Leontine Schelling Druck & Bindung: Druckkollektiv Phรถnix, Basel 2016 1. Auflage, 20 Exemplare 66


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