in münchen Ausgabe 06/2016

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Redaktion_0616_Redaktionsseiten 14.03.2016 12:59 Seite 14

THEATER

Nicht ohne meine Ziege Krieg, Frieden, Zerstörung und bukolische Landliebe Wie gut, dass man den kiloschweren politischen oder sozialkritischen Ebene, Schmökern nicht selbst auf den Knien sondern fast noch radikaler dadurch, balancieren muss. Die englischsprachi- dass sie sich eine sehr subjektive, perge Performer-Gruppe Gob Squad sönliche Sichtweise zugesteht. (Giesinnimmt den Literaturfreunden eine ger Bahnhof, 17. und 18.3.) schwere Last ab und arbeitet sich stellEbenfalls im Rahmen des kleinen vertretend durch den Leo-Tolstoi-Klasdeutsch-japanischen Theaterfestivals in siker War and Peace. Und das auf eine Giesing kommt auch die Truppe Theaangemessen spielerische Art. In einer Trie in die Stadt. Kiru annya to U-Ko Art Salon, an einem angeblich „vom san – Bruder Sense und Frau U ist Frieden verwüsteten Ort“, versammelt ein endzeitliches Stück, das an einem sich eine Gruppe von Künstlern, die ihfast unbewohnbaren Ort spielt. Weiß re Gespräche um „Krieg und Frieden“ gekleidete, aus der Zeit gefallene Menkreisen lassen. Dadurch erwacht der schen eint alle ein Wunsch: Sie wollen vor fast 150 Jahren geschrieben Rodie geheimnisvolle Frau U wieder finman, der sich mit Napoleons Feldzug den. Für die einen ist sie eine Köchin, in die Tiefen Russlands beschäftigt, zu für andere eine Betrügerin, für viele eineuem Leben. Es geht darum, Phänone Freundin aus der Kindheit. Die Abmene von Historie zu begreifen und wesenheit von Frau U wird zum Symbol aus dieser Perspektive diese neu zu ereines großen Verlustes, den die Menzählen. Dabei erlebt das Publikum im schen erleiden mussten. Immer deutliLaufe der Nacht eine schier nicht encher wird, dass Fukushima einen Ort den wollende Parade an Charakteren benennt, der für viele Japaner eine – 135 Handelnde zählt allein der Roschmerzhaft vermisste Heimat war. man -, die über Tolstoi weit hinaus(Giesinger Bahnhof, 19.3.) geht. Es wird getanzt, gezecht, geliebt. Und die Hitzköpfe duellieren sich. Ebenfalls mit der oft so fremd und Außerdem zieht man in die Schlacht, befremdlich wirkenden japanischen und die Performer positionieren sich in Stellungen wie auf einem Strategie-Brettspiel. Immer wieder steht die Frage im Zentrum, wie Konflikte überhaupt entstehen können, wie sich das Individuum zur Gesellschaft verhalten soll und wie sich ein moralisch vertretbares Leben führen lässt – in einer Welt, die ethisch imperfekt ist. Oder anders: Wie können wir sorglos und träge vor uns hinwurs- Auf der Suche: BRUDER SENSE UND FRAU U teln, wenn unser vermeintlich „friedlicher“ Lebensstil doch so viel Leid, Chaos und Kultur beschäftigt sich die performative Zerstörung in der Welt verursacht? Konzert-Installation Über ge setzt von Ruth Geiersberger (Performance), Mar(Kammerspiele, ab 23.3.) tina Koppelstetter (Gesang) und MasaApropos Zerstörung: Das Menetekel ko Ohta (Klang). Die drei Frauen reder jüngsten Moderne war sicher die flektieren über den Moment, in dem Atomkatastrophe von Fukushima, die Gedanken verschriftlicht werden. Was sich dieser Tage zum fünften Mal jährt. passiert mit dem Klang der Worte, Die japanische Autorin und Regisseurin wenn der Stift übers Papier fährt? WerMisaki Setoyama war eine der ersten, den Gedanken so sicht- und hörbar? die sich in Tokio dem allgemeinen Hier öffnen sich Welten aus Zeichen, Trend entgegenstellten, sich angesichts die ebenso ungewohnt wie seltsam verder Mensch-gemachten Apokalypse in traut erscheinen. (Grundschule an der seichtes Unterhaltungstheater zu flüchBazeillestr. 8, 17. bis 19.3.) ten. Ihr Hot Particle-Drama bezog bereits ein halbes Jahr nach dem GAU kriGanz ähnlich gelagert der Ansatz, tisch Stellung. Und das nicht auf der den das Klavier-Tanz-Duo aus Susanne 22 IN 6 / 2016

Am Spieltisch: WAR AND PEACE Zäpfel und Thorsten Paetzold verfolgt. Ihr Dazwischen-Stück lotete den Raum aus, der sich zwischen den Dingen und ihren Bezeichnungen öffnet – zwischen den Zeilen, zwischen den Stühlen, zwischen zwei Menschen. (Einstein Kultur, 18.3.) Und noch einmal Japan, bitte: Die Butoh-Tänzerin Aya Irizuki aus Tokio, die Filmfreunde aus Doris Dörries Kinofilm „Kirschblüten – Hanami“ kennen könnten, gastiert dieser Tage in München. The Vermilion Bubbles heißt ihre neueste Choreografie, für die man natürlich mal wieder die Seele in den BaumelBetrieb hängen kann. Irizuki ist übrigens auch in einer Nebenrolle im neuen Dörrie-Film „Grüße aus Fukushima“ zu sehen. (Pasinger Fabrik, 19. und 20.3.) Noch ein Tanz, ein ganz besonderer: Die Choreografin Claudia Senoner und der Hamburger Komponist Michael Maierhof haben für ihre Performance Zonen 4.2. einen außergewöhnlichen Raum eingerichtet. Dort platzieren sie Plastikbecher, Nylonsaiten, viele leere Dosen, Besteck- und Stimmgabeln, Motoren aus elektrischen Zahnbürsten, Wäscheklammern und Putzschwämme. Das gesamte Arrangement ergibt ein riesiges Raum-Instrument, dessen Einzelteile sich verbinden, sich bewegen und gegenseitig beeinflussen. „Ich mag Systeme, die nicht starr sind“, sagt Maierhof über den kuriosen Resonanzraum, in dem sich neue Klänge erzeugen lassen. „Es geht mir um eine Form des Tanzes, die nicht auf Handlung fußt, sondern selbst Hand-

lung wird“, sagt seine Kollegin. Spannendes Experiment! (Schwere Reiter, 19. und 20.3.) Zurück zum Gegenständlichen: Die Groteske Die Polizei von Slawomir Mrozek erzählt von einer beklemmenden Zukunft. Das gesamte Volk steht geschlossen hinter der Regierung. Eben erst ist der letzte Regime-Gegner übergelaufen, die Gefängnisse stehen gähnend leer. Nicht einmal durch gezielte Provokation lassen sich die braven Bürger zu kritischen Äußerungen hinreißen. Die Staatsmacht muss handeln. „Ein jeder muss einmal irgendeine Bombe auf irgendeinen General werfen – das fordert der Organismus.“ (Haus der Kleinen Künste, 18.3. bis 23.3.) Absurd wirkt auch der Lebensentwurf von Jakob, der allerdings jegliche Konventionen des bürgerlichen Lebens ablehnt. Ihn widern „Bratkartoffeln mit Speck“ an, das Glaubensbekenntnis seiner nach Höherem strebenden Kleinbürgerfamilie. Seine Protesthaltung bleibt resolut: Partout möchte er sich im Eugène-Ionesco-Stück Jakob oder der Gehorsam nicht verheiraten lassen. Dem Ehezwang kann er nur entkommen, wenn er überzogene Anforderungen an seine Heiratskandidatinnen stellt. Doch dann kommt Roberta um die Ecke. (Pasinger Fabrik, 18.3.) Martin dagegen hat seine Liebe gefunden – und eckt genau deswegen an. Der erfolgreiche Architekt hat sich mit seiner Frau Stevie einen Traum erfüllt: Sie sind aufs Land gezogen und wollen dort ihren Lebensabend genießen, der über ein Vierteljahrhundert lang noch nie von einem Seitensprung überschattet war. Doch dann verliebt sich Martin – in ein Huftier. Edward Albees Die Ziege oder Wer ist Sylvia? erzählt von einer nicht ganz alltäglichen außerehelichen Beziehung. (Theater Und so fort, ab 26.3.) Rupert Sommer


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