büchermenschen_2/2003

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Amerikas Zeuge :

INTERVIEW

Beschwerden gehört Philip Roth zur Elite der Weltliteratur. Aus Anlaß seines 70. Geburtstages sprach Thomas Steinfeld mit dem Amerikaner, dessen jüngstes Werk Das sterbende Tier gerade erschienen ist.

SPÄTESTENS SEIT PORTNOYS

> Die meisten Ihrer Bücher handeln von Menschen, die aus ihrer Haut heraus möchten und es doch nicht können. Eines von ihnen, Das amerikanische Idyll (1997) handelt sogar von einem, der mit Haut Geschäfte macht, von einem Lederfabrikanten. Wie wichtig ist für Sie die Idee, daß ein Mensch ein anderer werden kann? < Wir leben in einer Gesellschaft, die davon überzeugt ist, daß solche Veränderungen möglich sind. Tatsächlich beruht ein großer Teil dessen, was man landläufig den „amerikanischen Traum“ nennt, auf einer solchen Idee. So fing die Idee irgendwann an, im 18. und im 19. Jahrhundert, so wurde sie groß, Jahrzehnte bevor es überhaupt so etwas wie die Bürgerrechtsbewegung gab, und so ist es bis heute. Ich habe hingegen die Vorstellung, daß das so leicht nicht ist. Nicht, weil man seine Haut nicht verlassen könnte, das geht sogar, vielleicht, für eine gewisse Zeit, sondern weil eine solche Idee die Planbarkeit von Leben voraussetzt und diese durch Ereignisse herausgefordert wird, die man gar nicht voraussehen kann, durch Krankheit zum Beispiel, oder durch historische Ereignisse. Denken Sie nur an den 11. September. An diesem Tag hatten Millionen von Menschen Millionen von Plänen, sie mußten Schulden bezahlen, zur Arbeit gehen und Kinder zur Schule bringen, und alles wurde ganz anders, als sie es sich vorgestellt hatten. > Manche Ihrer Romane sind als Kommentare zu einer bestimmten hi-

storischen oder politischen Situation verstanden worden, so Mein Mann, der Kommunist aus dem Jahr 1998 oder zuletzt vor zwei Jahren das Buch Der menschliche Makel, der manchen Kritikern als Abrechnung mit den Idealen der „political correctness“ erschien. Halten Sie Ihre Bücher selbst für Kommentare zu aktuellen Ereignissen? < Nein, das ist viel zu eng gefasst. Wenn mich etwas interessiert, dann ist es meistens zwar auf eine bestimmte historische Situation bezogen, auf das Amerika der Ära McCarthy zum Beispiel, oder auf das scheinbare Ende der „political correctness“ an den amerikanischen Universitäten gegen Ende der 90er Jahre und die Clinton-Lewinsky-Affäre – ach, Sie wissen schon, was ich meine. Aber was mich daran interessiert, ist eher die besondere Stimmung, die ich dann beschreiben

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Ich habe keine Heimat mehr“ möchte. Ich möchte ein Bild davon zeichnen, und wenn es in sich selbst lächerlich oder grotesk ist, dann ist das so, ohne daß ich deswegen das Buch selbst als Groteske oder Satire anlegen würde. Und am Ende verstehen wir, daß es sich dabei immer wieder um dieselben einfachen Motive handelt, um Opportunismus, um eingebildete oder tatsächliche Leidenschaften, um Macht. Was mich interessiert, ist die Anatomie dieser Verhältnisse, und deswegen stehen immer einzelne Menschen im Mittelpunkt meiner Bücher. > Was bedeutet das Alter für Sie? < Nun, ich bin jetzt 70 Jahre alt. Und seit etwa zehn Jahren muß ich zusehen, wie Menschen, mit denen ich vertraut war, krank werden und sterben. Ich kenne ihre Geschichte, ich war manchmal Zeuge ihrer Leiden, ich sah, wie sie ihre Kraft verloren. Und das beschäftigt mich sehr, in Gestalt des Prostata-Krebses, der den Erzähler in Der menschliche Makel heimgesucht hat, mit all dem Elend, den diese

© Jürgen Frank

Zum 70. Geburtstag des großen

Makellos: Philip Roth

Krankheit zur Folge hat, oder in Gestalt des Brustkrebses, der in Das sterbende Tier eine große Bedeutung hat. Diese Krankheiten sind furchtbar, sie verändern einen Menschen von Grund auf – und diesem Leiden möchte ich ein Bild geben, mit dem ganzen Gewicht, das ihm gebührt.

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Man kann sagen, daß Amerika ein bißchen weiser geworden ist“ > Sie sind mit Ihren Helden gealtert, Ihre Helden mit Ihnen. Und irgendwie scheint auch das Land gealtert zu sein, in dem sie alle wohnen. Wie alt sind die Vereinigten Staaten tatsächlich? < Für Europäer mag die Idee sehr verführerisch sein, daß es so etwas wie den allmählichen Verfall der Vereinigten Staaten gäbe. Es mag nun tatsächlich Bereiche geben, in dem ein Verfall zu beobachten ist, im Schulsystem beispielsweise. Aber so etwas darf man nicht zu einem Urteil über die ganze Nation ausweiten. Amerika ist die mächtigste Nation der Welt – wer wollte da von Verfall reden. Das Land ist reich, es entstehen darin immer neue Ideen, es hat über die vergangenen 50 Jahre hinweg den technischen Fortschritt

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06.03.2003, 13:40:00 Uhr


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