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ThE

mosT BEAUTIFUl Boy IN ThE woRlD

Der wahre Tadzio

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Für seine Thomas-Mann-Verfilmung DER TOD IN VENEDIG reiste Luchino Visconti durch ganz Europa, um einen Jungen „mit honigfarbenem Haar, wie ein Gott aus der griechischen Mythologie“ zu finden, mit dem er die Rolle des Tadzio, einer Verkörperung reiner Schönheit, besetzen konnte. Diese Suche, die unangenehm an die Auswahl engelsgleicher Opfer in Pasolinis DIE 120 TAGE VON SODOM erinnert, führt das Filmteam schließlich nach Schweden. Hier begegnen sie dem 15-jährigen Björn Andrésen, der direkt engagiert und von Visconti bei der Premiere in London als „The Most Beautiful Boy in the World“ tituliert wird – auch wenn er langsam schon älter und hässlicher werde. Von Visconti vermarktet, in der Pariser Bohème herumgereicht und an die japanische Popindustrie ausgeliehen, machen seine Schönheit und ein erschreckender Mangel an Fürsorge Andrésen schnell zur Ware. „Es hat sich angefühlt wie ein Schwarm Fledermäuse um mich, die ganze Zeit. Es war ein lebender Alptraum.“ Aus diesem vampiristischen Alptraum, in dem vor allem ältere Männer sich an Andrésens Jugend und Schönheit gütlich tun, scheint auch der heute 65-Jährige noch nicht ganz aufgewacht zu sein. Die Erlebnisse seit dem ersten Treffen mit Visconti haben ihn sichtbar gezeichnet – doch erzählt THE MOST BEAUTIFUL BOY IN THE WORLD mehr als nur von den bleibenden Folgen seiner ‚Entdeckung‘. Porträtiert wird der Heilungs- und Entdeckungsprozess eines sensiblen, verschrobenen, und ja, immer noch umwerfend gutaussehenden Mannes mit langen Silberhaaren und Ledermantel, der sich, zurückhaltend begleitet von Kristina Lindström und Kristian Petri den Stationen seines Missbrauchs und seiner düsteren Familiengeschichte stellt. D Yorick Berta

¢ Start am 29.12.2022

sEAsIDE spEcIAl

Good Old England

Die Seebrücke im kleinen Seebadeort Cromer an der Küste von Norfolk beherbergt eine Rarität: die letzte europäische „End-ofPier-Show“. Im Pavillon am Ende des Piers findet in den Sommermonaten und zu Weihnachten täglich eine Variety-Show statt, ein buntes Programm aus Gesangs- und Tanzeinlagen, Zauberstücken und Comedy. Regisseur Jens Meurer, der über ein Studium und seine englische Frau eng mit der Insel verbunden ist, hat nun einen sehr persönlichen und liebevollen Film über die Show, den Ort und England in der Zeit der fatalen Brexit-Entscheidung gedreht. SEASIDE SPECIAL (wie auch die Show heißt) verfolgt die Produktion eines Sommerprogramms anhand einiger Protagonist*innen. Da ist die Regisseurin Di Cooke, die das Team zusammenstellt, die Musiknummern auswählt und Kostüme abnickt, Mrs. Duniam, die an der lokalen Tanzschule die jüngsten Bühnenstars unterrichtet und ihre aufgedrehten Zwillingstöchter, der Krabbenfischer und Brexit-Enthusiast John Lee und der lokale Conferencier Olly Day, der durch den Film wie durch eine Revue führt. Die Jahreszeiten vergehen, die Produktion nimmt Form an, und im Hintergrund nimmt das Jahr 2019, das vielleicht bizarrste Jahr der Brexit-Saga, seinen Lauf. Der EU-Vertrag wird abgelehnt, der Brexit verschoben, Theresa May tritt zurück und Boris Johnson wird gewählt, und immer noch liegt etwas Hoffnung in der Luft, dass es ein Zurück geben könnte. SEASIDE SPECIAL – in leuchtendem, berührenden 16 mm gedreht – war schon zum Drehzeitpunkt ein nostalgischer Film, der von Traditionen und Zusammenhalt und einem leicht verschrobenen „good old England“ erzählte und dessen drohenden Verlust betrauerte. Nun mischt sich beim Ansehen der Theaterproben noch das Wissen um die unmittelbar bevorstehende Corona-Pandemie und das Brexit-Disaster hinein. D Hendrike Bake ¢ Start am 19.1.2023

vogElpERspEkTIvEN

Arten erhalten

Es ist wahrlich keine vollkommen neue und überraschende Botschaft, die am Anfang von Jörg Adolphs Dokumentarfilm VOGELPERSPEKTIVEN steht: Vögel sind eine bedrohte Art. In den letzten 60 Jahren hat Deutschland fast die Hälfte seines Artenreichtums verloren. Wer im Frühjahr und Sommer in der Natur unterwegs ist, dem wird aufgefallen sein, dass das Gezwitscher abgenommen hat.

Jörg Adolph behandelte mit seinem Dokumentarfilm zum Besteller von Peter Wohlleben DAS GEHEIME LEBEN DER BÄUME bereits das Schwinden der Arten. In VOGELPERSPEKTIVEN begleitet er Ornithologen und Vogelschützer mit seiner Kamera. Dr. Norbert Schäffer ist Vorsitzender des Landesbunds für Vogel- und Naturschutz in Bayern. Er hat sich die Rettung der Vogelwelt zum Ziel gesetzt und leistet Lobbyarbeit in der Politik ebenso wie aktiven Umweltschutz. Arnulf Conradi wiederum ist Gründer und früherer Verleger des Berlin Verlages und begeisterter Birdwatcher seit Kindertagen. Vor der Kamera und zu faszinierenden Naturaufnahmen erzählt er von seiner Begeisterung für die heimische Vogelwelt. Dazu liefert Jörg Adolph einen Blick hinter die Kulissen der Umweltpolitik und zeigt konkrete Beispiele des Artenschutzes wie etwa die Wiederansiedlung des Bartgeiers in Bayern. Adolph nähert sich dem Thema auf einer Gefühlsebene, klammert aber auch die Fakten nicht aus. Sein Film ist bewusst keine Anklage. Stattdessen will er Mut machen, sich einzusetzen für den Erhalt der Vogelwelt. Vielleicht haben wir uns etwas zu selbstverständlich an der Allgegenwärtigkeit der gefiederten Lebewesen gewöhnt. VOGELPERSPEKTIVEN ruft ins Gedächtnis, dass etwas fehlt, wenn sie nicht mehr da sind. D Lars Tunçay

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closE

Etwas verschiebt sich

Der zweite Spielfilm des belgischen Regisseurs Lukas Dhont taucht wie sein Debüt GIRL in die nicht immer einfache Welt Jugendlicher ein. Im Drama CLOSE behandelt er den Suizid eines 13-Jährigen. Leo (Eden Dambrine) und Remi (Gustav De Waele) sind beste Freunde, und Remi übernachtet fast täglich bei Leo. Remi, dessen Eltern riesige Blumenfelder bewirtschaften, ist eigentlich schon ein Teil von Leos Familie. Bis sich irgendetwas zwischen den beiden verschiebt. Leo wird Remi zu viel. Er will ständig an seiner Seite sein. Auch da, wo Remi ihn nicht haben will. Zum Beispiel beim Hockey-Training. Nach einem Streit kommt Leo nicht mehr in die Schule.

Remi kämpft mit Schuldgefühlen, mit Scham gegenüber Leo und seiner Familie. Gerade auf dem Sprung zum (männlichen) Teenager, denkt Remi, dass er da allein durch muss und setzt auf Wut. Auf die Erwachsenen, die mit Stuhlkreisen in der Schule oder am Abendessentisch Trauerbewältigung anstreben, angesichts der Tragödie aber selbst hilflos erscheinen. Remi, der Sportler, findet ein Ventil im Körperlichen. Er powert sich beim Hockeyspielen aus. Arbeitet bis in die Nacht auf den elterlichen Feldern, schneidet Dahlien und erntet ihre Zwiebeln als Saatgut. Remi der stille Held. Der alles mit sich ausmacht. In den atmosphärischen Bildern wirkt Remi aber fehl am Platz, wenn er durch regnerische Nächte läuft oder wie ein Besessener Blumenzwiebeln rupft. Als müsste da jetzt eigentlich ein erwachsener Mensch an seiner Stelle stehen, denn wie soll ein Kind das so bewältigen?

CLOSE seziert schmerzhaft Remis Gefühlswelt, ergötzt sich aber nicht am Thema. Immer in Remis Perspektive, erfahren wir nur so viel wie er. Tasten uns mit ihm durch das, was passiert ist und zu dem, was wirklich hilft, um weiterzumachen - so wie die zarten Dahlien, die im Frühling wieder aus den Zwiebeln treiben.

cATch ThE FAIR oNE

Rape-Revenge-Thriller

Unterwürfig nimmt sie, die Servicekraft, jedes Motzen der Gäste im Diner auf sich, packt sich aus Hunger Essensreste ein, schläft im Frauenwohnheim. Sie war Boxerin, jetzt lässt sie sich ein auf Selbstverteidigungs- und Kampftraining mit großen, massigen Männern. Sie unterliegt jedes Mal. Aber sie hat ein Ziel, eine Mission: Einen Informanten hat sie bereits aufgetan, und einen Weg in die Organisation, die Mädchen und junge Frauen aus der Perspektivlosigkeit in die Prostitution treibt - und die Kaylees Schwester geschnappt hat. Kaylee, die Kämpferin, lässt sich selbst einschleusen, lässt sich verschleppen auf der Spur nach oben, zum Kopf des Menschenhändlerrings.

Kaylee wird von Kali Reis gespielt, Boxweltmeisterin im Halbweltergewicht. Reis hat auch am Drehbuch mitgearbeitet, es ist offenkundig eine Geschichte, die ihr am Herzen liegt: die aussichtslose Situation von native americans, die rassistischen Sexualverbrechern in die Hände spielt. Reis ist selbst aktive Unterstützerin der Bewegung für vermisste und ermordete indigene Frauen MMIWG. Reis und Regisseur Josef Kubota Wladyka gelingt in CATCH THE FAIR ONE die Verbindung von Sozialdrama, Action und Rape-Revenge-Thriller, sie lassen keinen Zweifel, dass die blutige Rache, die Kaylee zu üben gewillt ist, aus ihrer eigenen Lage kommt, nichts mehr zu verlieren zu haben. Geschickt fusioniert der Film Genreelemente mit der Realität der US-indigenen Bevölkerung, erzählt ist er in düsteren Bildern zwischen sachter Stilisierung und realistischer Unmittelbarkeit (Kamera: Ross Giardina). Wie der Film ein konstruiertes, aber ehrliches Porträt sozialer Realität liefert, wie er Genreelemente einsetzt, wie er Klischees von bösen Mädchenhändlern spielerisch unterläuft – das hat offensichtlich auch Darren Aronofsky überzeugt, der als Executive Producer fungiert. D Harald Mühlbeyer ¢ Start am 26.1.2023

Ex-boxer Kaylee has a mission: she wants to take revenge on the organization that drives girls and young women, many of them Native American, to prostitution due to a lack of prospects.

Originaltitel: Ezrah Mudag D Israel 2022 D 82 min D R: Idan Haguel D K: Guy Sahaf D S: Shauly Melamed D M: Zoe Polanski D D: Shlomi Bertonov Ariel Wolf

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coNcERNED cITIzEN

Bürger in der Krise

Etwas stimmt nicht, das merkt man gleich. Dabei läuft eigentlich alles gut für Ben (Shlomi Bertonov) und Raz (Ariel Wolf). Gerade haben es sich die beiden in ihrer neuen Wohnung in einem angesagten Viertel in Tel Aviv gemütlich gemacht. Jetzt wollen sie Eltern werden. Doch als Ben eines Abends vom Fenster aus einen Fall von brutaler Polizeigewalt beobachtet, gerät sein Weltbild ins Wanken. Er hatte kurz zuvor selbst die Behörden eingeschaltet, weil zwei junge Migranten den jungen Baum nicht in Ruhe lassen wollten, den er zum Einzug vor dem Haus gepflanzt hat. An derart harsche Folgen hatte er dabei nicht gedacht.

Der Vorfall bringt Bens Leben aus dem Tritt. Erst ist es nur eine leichte Anspannung, die sich wie ein Schleier über sein Gemüt legt. Aber immer öfter reagiert er Raz gegenüber passiv-aggressiv. Er wird hypersensibel für alles, was in seiner unmittelbaren Umgebung nicht stimmt. Auch die Wohnung ist plötzlich am falschen Ort – für ihn als schwulen Mann, und für das ungeborene Kind sowieso. Als er einen Makler engagiert, ohne Raz davon zu erzählen, bringt er damit auch ihre Beziehung in Gefahr.

Idan Haguels dritter Spielfilm, der im letzten Jahr im Panorama der Berlinale lief, will einen sozialkritischen Blick auf die heutige Zeit richten. In vielen kleinen Details gelingt ihm das auch. Nur vergisst er darüber, seiner Hauptfigur die nötige Aufmerksamkeit zu schenken, um seine Beobachtungen in eine Charakterstudie zu verwandeln. Oft bewegt sich die Handlung in einer Art Grauzone, weil so große Themen wie Schuld und Sühne, Einwanderung und Rassismus, Armut und Stadtentwicklung angesprochen, aber nicht ausreichend reflektiert werden. Trotzdem schafft es der Regisseur, eine rätselhafte, seltsam schwebende Spannung zu erzeugen, die auf faszinierende Weise zum Weiterschauen verleitet.

D Pamela Jahn

¢ Start am 2.2.2023

Ben and Raz have just gotten comfortable in their new apartment in a trendy Tel Aviv neighbourhood. Then Ben becomes partially responsible for a police brutality case and his self-image is shaken.

HUmAN FLOWErS OF FLESH

Magnetische Wirkung

Schon mit ihrem Debüt DRIFT zog die Künstlerin und Filmemacherin Helena Wittmann aufs Meer, und auch ihr zweiter Film spielt wieder auf, in und mit der See. Segelbootbesitzerin Ida (Angeliki Papoulia) macht darin mit ihrer Schiffscrew Halt in Marseille. Dort trifft die Gruppe auf Fremdenlegionäre. Ida und die Männer sind wie gebannt von den Söldnern und den Legenden um sie und machen sich schließlich über das Mittelmeer auf, in das algerische Sidi bel Abbès, das bis 1962 Hauptquartier der Französischen Fremdenlegion war. Mit dem Verlassen des Hafens übernimmt die See immer mehr den Rhythmus. Wellen bestimmen die Kamerabewegungen. Die Kajüten sind Tag und Nacht mit dem Knarzen des Schiffs gefüllt. Eine sehnsüchtige Sprachnachricht für die an Land Gebliebenen wird verschickt. Auf dem Deck lesen sich die Männer der Crew Gedichte vor und tanzen mit Ida zu Elektro, das Meer reflektiert die Nachtlichter wie eine Diskokugel. Dazwischen mikroskopische Aufnahmen von Plankton und blaue Unterwasserwelten. Die bestechenden Bilder verschmelzen mit dem Sound der Hamburger Musikerin und Künstlerin Nika Son zu betörenden Szenen. Wittmann, die auch Kamerafrau ist, nutzte trotz der erschwerten Bedingungen Filmmaterial und arbeitete u.a. mit Cyanotypie.

HUMAN FLOWERS OF FLESH ist kein Erzählfilm, viel mehr stupst er Emotionen und innere Narrative an. Dekonstruiert nautische Mythen um brummige Seebären und wütende Fluten. Neben historischen und mythologischen Referenzen greift Wittmann auch auf Filmzitate zurück. So trifft Ida zum Ende auf „Galoup“, gespielt von Denis Lavant, der 1999 eine gleichnamige Rolle in Claire Denis’ DER FREMDENLEGIONÄR besetzte. Aber auch ohne jeden Verweis zu entschlüsseln, erzeugt der atmosphärische Film eine magnetische Wirkung – unerklärlich und sirenenhaft, wie das Meer selbst. D Clarissa Lempp  Start am 2.2.2023

After departing from the harbor, the sea takes over the rhythm more and more. Waves determine the camera movements. The cabins are filled with the creaking of the ship day and night.