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BEAU IS AFRAID

Überall Wahnsinnige

Nach Ari Asters Familienhorror in HEREDITARY und dem Folkhorror in MIDSOMMAR hat der Regisseur mit BEAU IS AFRAID einen Film gedreht, der sich kaum noch in Genres fassen lässt. BEAU IS AFRAID ist eine Komödie, aber eine erschreckende. Ari Aster selbst hat BEAU IS AFRAID einen „jüdischen Herrn der Ringe“ genannt. Mordor ist Beaus Mutter. BEAU IS AFRAID ist eine mythische Höllenfahrt.

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Diese Hölle beginnt bereits, wenn Beau (Joaquin Phoenix), ein matter Mann um die 50, das Sprechzimmer seines Therapeuten verlässt, der ihn noch warnt, seine Erwartungen realistisch zu halten. Die Straße, in der Beaus schäbige Wohnung liegt, ist ein urbanes Alptraum-Chaos: Ein Latino tanzt mit nacktem Oberkörper, ein Junkie wälzt sich am Boden, irgendwo liegt ein Toter herum, ein Ganzkörpertätowierter fletscht die Zähne, überall Dreck und Wahnsinnige. Beau kann die Straße nur im Sprint überwinden.

Aber es hilft alles nichts, er muss im ersten Akt alles verlieren, und dann geht es bergab. Beau kann aus guten Gründen nicht zu seiner Mutter, und Mutter hat nichts anderes erwartet als erneutes Vollversagen. Und schon ist Mutter tot, und Beau muss zur Beerdigung.

Beau hat noch ein weiteres Problem: Er kann keinen Sex haben, und auch daran ist möglichweise Mutter schuld. Sein Vater sei im Augenblick von Beaus Zeugung gestorben, hat sie ihm erzählt, ein genetischer Defekt, der die Männer der Familie im Augenblick des Orgasmus tötet. Seine Beatrice heißt Elaine und war ein vorpubertärer Schwarm, deren Bild Beau immer noch mit sich herumträgt.

Beaus Heldenreise führt ihn aus dem Apartment in die Hände eines wahnsinnigen, aber sehr freundlichen Paares, das ihn als Ersatz für den verlorenen Sohn gefangen hält. Der amerikanische

Vorort-Traum, der zunächst Liebe, Fürsorge und Aufmerksamkeit verspricht, die Beau sich von seiner Mutter wünscht, wird zum klaustrophobischen Alptraum, mit einem durchgedrehten Ex-GI-Killer-Kettenhund, den sich die Familie im Garten hält. Von dort geht in den Wald, wo Beau auf eine seltsame Theatersekte trifft, die an Kafkas Naturtheater von Arizona aus dem „Amerika“-Romanfragment erinnert. Gespielt werden jüdische Legenden, und wie der ewige Jude wandert Beau durch Theaterkulissen in Geschichten, die er für seine eigenen hält. Von dort aus geht es in weitere düster-komische Gefilde, bis Beau sein Mordor erreicht.

Wer Kafka als komischen Autor verstanden hat, wird mit BEAU IS AFRAID Spaß haben, und vielleicht auch von Asters Film berührt werden. Aber der dreistündige Film verlangt stärker als HEREDITARY und MIDSOMMAR, dass sich das Publikum auf Asters schräge Obsessionen einlässt. Von Pawel Pogorzelski, Asters Kameramann seit seinen Kurzfilmen, meisterhaft gefilmt, mit irrwitzigen Perspektiven, und gleißenden Überbelichtungen in den Rückblendungen, ist BEAU IS AFRAID natürlich auch. Einen Kurzfilm mit einer ähnlichen Geschichte Aster namens BEAU hat Aster übrigens schon 2011 gedreht. Es ist also offenbar ein Herzensprojekt. D Tom Dorow ¢ Start am 11.5.2023

„Eine Geschichte, die nicht von ungefähr an „Die üblichen Verdächtigen“ erinnert, gibt es doch auch hier reichlich Überraschungen und eine Au ösung, die man nicht unbedingt kommen sieht.“

Programmkino.de

„Ein anspruchsvoller „Whodunit“-Krimi, in dem die üblichen Verdächtigen mal nicht die typischen Film-Täter sind!“

Fucking Bornholm

Angespannte Stimmung

Das gemeinsame Campingwochenende auf der dänischen Insel Bornholm ist Tradition. Maja (großartig: Agnieszka Grochowska) und Hubert (Maciej Stuhr) reisen mit ihren Kindern Eryk und Wiktor an, während ihr Freund aus Studienzeiten, der geschiedene Dawid (Grzegorz Damiecki), dieses Jahr mit Sohn Kaj und seiner deutlich jüngeren Tinder-Freundin, der Psychologiestudentin Nina (Jasmina Polak), auftaucht. Die Reisegruppe freut sich auf entspannte Maitage im Ostseeparadies, doch bereits auf der Fähre wirkt die Stimmung angespannt – und Nina und Macho Hubert flirten miteinander. Kaum sind die Wohnwagen direkt am Strand bezogen, kommt es unter den vorpubertären Kindern zu einem sexualisierten Übergriff. Erschüttert versucht die erschöpfte Maja, die sich hauptsächlich um die Jungen kümmert, richtig zu reagieren, während die anderen Erwachsenen sich nicht aus der Urlaubsruhe bringen lassen. Bald brechen Konflikte auf, die schon lange unter der Oberfläche schwelen. Die polnische Regisseurin und Drehbuchautorin Anna Kazejak (THE WORD) seziert in FUCKING BORNHOLM die Beziehung zwischen Maja und Hubert, Dawid und Nina, die sich in der Abgeschiedenheit der Ostseeinsel kaum aus dem Weg gehen können. Die – in Polen gedrehte – werbefilmartige Idylle in gesättigten Farben und Retro-Ästhetik trügt, was bedrohlich-düstere Klänge diverser Streichinstrumente von Beginn an erahnen lassen. Huberts Bemerkungen und Verhaltensweisen, die von toxischer Männlichkeit nur so strotzen, lassen Maja, deren Perspektive Kazejak vor allem einnimmt, immer mehr an ihrer Ehe zweifeln, was auch ihre Söhne spüren. Die Protagonistin, die seit Langem verinnerlicht hat, sich für die Mutterrolle aufzuopfern, denkt zum ersten Mal, an sich selbst. D Stefanie Borowsky ¢ Start am 1.6.2023

ALL tHE BEAUtY AND tHE BLOODSHED

Subkultur-Heldin

Eine Ikone queerer Fotografie und bis heute einflussreiche Aktivistin – Nan Goldins Leben zu porträtieren bedeutet, die personifizierte Rebellion auf die Leinwand zu bringen. Geboren in der amerikanischen Vorstadt, erfährt Goldin schon früh den lähmenden Griff von Konformität. Ihre ältere Schwester wird für „geisteskrank“ erklärt, weil sie aufbegehrt, ihre Sexualität entdecken will – Gefühle für Jungen und auch Mädchen. Das tragische Schicksal der Schwester ebnet den Weg dafür, mit den eigenen Waffen zurückzuschlagen. Für Goldin wird die Fotografie zum Medium für das Sichtbarmachen. Mit der Kamera hält sie all das fest, was die Gesellschaft nicht sehen will: Sex, Drogen und Tod, Ekstasen und Abgründe. So revolutionär ihre Kunst in den 70er Jahren ist, so wenig ist sie anfangs gewollt. Niemand fotografiert einfach das eigene Leben, vor allem nicht, wenn es marginalisierte Menschen sichtbar macht, die von der Gesellschaft ausgeschlossen, mit ihren Wünschen und Träumen nicht für voll genommen werden. Dann erreicht die AIDS-Epidemie ihren Höhepunkt, Goldin kuratiert die erste Ausstellung zum Thema – und löst einen Sturm der Entrüstung in Politik und Kunstförderung aus. Parallel zu diesem biografischen Erzählstrang, flankiert von Goldins legendären Diashows, sehen wir die Künstlerin heute. Als eine von hunderttausenden Betroffenen der Opioid-Krise gründet Goldin das P.A.I.N.-Kollektiv und zieht gegen die Pharmakonzern-Familie Sackler sowie durch sie geförderte Kunstinstitutionen in den Kampf. Laura Poitras gelingt nach ihren Porträts von Edward Snowden und Julian Assange ein Drahtseilakt zwischen Künstlerin-Doku und Polit-Drama. Und im Grunde ist das auch die Essenz von Goldins Werk: Das Leben abseits der Norm als einen ewigen Kampf einzufangen. D Anna Hantelmann ¢ Start am 25.5.2023