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„DIE REAlITäT Im IRAN IsT Noch vIEl BRUTAlER“

Interview mit Ali Abbasi

über HOLY SPIDER

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Weil es eine heikle Balance ist, angesichts der Lage im Iran über meinen Film zu sprechen, in den ich 15 Jahre harte Arbeit gesteckt habe und der sehr viel mehr künstlerische Facetten hat als bloß ein gesellschaftspolitischer Kommentar zu sein. Und es ist mitunter auch nicht gerade einfach, immer wieder mit Journalist*innen über die Proteste sprechen zu müssen. Einerseits tue ich das gerne und weiß, dass man gar nicht genug Aufmerksamkeit auf dieses Thema lenken kann. Aber es bricht mir eben auch das Herz. Heute morgen sah ich ein Video der verzweifelten Mutter des jungen Mannes, der als erster Demonstrant seit Beginn der Massenproteste hingerichtet wurde. In solchen Momenten fehlen einem dann einfach die Worte. Ich sitze hier und rede, während dort das Regime die Bevölkerung umbringt. Da spüre ich schon viel Hilfs- und Aussichtslosigkeit.

Gewisse Themen muss man einfach auf bestimmte Weise erzählen. Der Fall, um den es im Film geht, mag 20 Jahre zurückliegen, doch er ist bis heute radioaktiv, um es mal so auszudrücken. Die Strukturen und Mechanismen, die ich mit dieser Geschichte aufzeige, existieren immer noch; die Relevanz ist spürbar. Wenn ich das nicht deutlich mache in meinen Bildern, dann hätte ich etwas falsch gemacht, würde ich sagen. Und was Sex und Nacktheit angeht, war mir auch wichtig, dass ich mich nicht einfach der Zensur des iranischen Regimes unterwerfe. Ich will ja gerade an diesem bestehenden Tabu bezüglich weiblicher Körper rütteln und es nicht noch bestärken. Ohnehin muss ich sagen, dass ich –selbst wenn das nun arrogant klingen mag – nicht viele Gedanken an die Regierung im Iran und ihre Reaktion verschwendet habe. Ich trete nicht mit ihr in einen Dialog, sondern mit dem iranischen Volk.

Wo Sie gerade die Radioaktivität der Geschichte erwähnen: Wie wirkte die sich bei der Suche nach iranischen und iranisch-stämmigen Schauspieler*innen aus?

Kann Ihr Film aber in dieser Zeit nicht auch eine Hilfe sein?

Interessanterweise verbreitete sich vor einigen Wochen wohl online eine Raubkopie des Films im Iran. Mir war immer klar, dass das irgendwann passieren würde, aber das Timing ist natürlich spannend – und selbstverständlich gaben die Staatsmedien mir die Schuld. Auf Twitter die ungefilterten iranischen Reaktionen auf den Film zu lesen, war sehr interessant. Natürlich gab es das Lager, das HOLY SPIDER als westliche Propaganda ablehnte, als pervers und anti-islamisch beschrieb und mich den neuen Salman Rushdie nannte. Aber ein Großteil der Leute fand, er zeige das wahre Gesicht der Islamischen Republik und erkannte in dem Film eine Ehrlichkeit, die es in iranischen Filmen vermisst. Manche sagten auch, er sei eine gute Motivation, um am nächsten Tag wieder gegen das Regime auf die Straße zu gehen. Wobei ich nicht glaube, dass es dazu unbedingt den Film braucht. Diese Teenager, die dort bereit sind, sich für ihren Kampf verhaften und erschießen zu lassen, die sind in ihrer Wut und Verzweiflung längst viel weiter.

Wir sprachen eben schon über die recht deutliche Gewalt im Film, aber Sie sind auch in Sachen Sex und Nacktheit ziemlich explizit. Das war doch sicherlich eine bewusste Entscheidung, quasi als Provokation in Richtung Ihrer früheren Heimat?

Ganz ehrlich: Ich finde eigentlich nicht, dass HOLY SPIDER sonderlich kontrovers, provokant oder grenzüberschreitend ist.

Enorm, weswegen sich die Suche sehr schwierig und aufwändig gestaltete. Ich habe mich mit vielen getroffen, die im Iran leben und arbeiten, und meistens war die Reaktion eine, die ich sonst vor allem aus Hollywood-Meetings kenne: Wir finden dich super und würden wahnsinnig gerne mal mit dir arbeiten, aber vielleicht lieber beim nächsten Projekt. Da klar war, dass unser Film nicht von der iranischen Regierung abgesegnet werden würde, haben fast alle abgewunken. Manchmal erst ganz spät, wie etwa die eigentlich vorgesehene Hauptdarstellerin, die erst kurz vorm Dreh doch abgesagt hat. Deswegen sprang dann Zar Amir Ebrahimi ein, die bis dahin als Casting Director für den Film im Einsatz war.

Eine Ausnahme ist Ihr Hauptdarsteller Mehdi Bajestani…

Auf den fiel meine Wahl, weil ich unbedingt jemanden wollte, der aus der Region kommt, in der die Geschichte spielt. Der diesen Dialekt spricht und einem ähnlichen Milieu entstammt, um wirklich für möglichst viel Authentizität zu sorgen. Als ich ihn besetzte, lebte er noch im Iran. Heute allerdings nicht mehr. Es wäre zu gefährlich für ihn gewesen, wieder dorthin zurückzukehren. Für die Besetzung der anderen Rollen haben wir auf der ganzen Welt gesucht, denn iranische Schauspieler*innen leben ja überall, von Paris und Berlin bis Istanbul, Toronto oder Sydney. Und für manche Rollen und Szenen, etwa die, in der es einen Blowjob zu sehen gibt, war mir auch klar, dass ich keine iranische Schauspielerin dazu würde überreden können. Selbst wenn sie längst im Ausland lebt, denn die kulturelle Verankerung wäre zu groß und der Bruch damit zu krass gewesen. Weswegen ich für die Rollen der Sexarbeiterinnen dann konkret Ausschau hielt nach jener neuen Generation, die schon in Europa geboren wurde und mit den dortigen Werten aufgewachsen ist.

Sie selbst kamen erst als Student nach Europa, inzwischen haben Sie den dänischen Pass. Verstehen Sie sich als europäischer Filmemacher?

Europäisches Kino ist für mich keine Frage der Sprache, sondern hat eher damit zu tun, mit welcher Haltung man an seine Geschichten herangeht. Deswegen verstehe ich mich definitiv nicht als iranischer Filmemacher. Natürlich ist vieles an mir noch immer iranisch, aber die Art und Weise, wie ich Filme drehe, hat im Iran keine Tradition. Da sind mir Buñuel, Lars von Trier oder Pasolini sicherlich näher.

Was macht für Sie denn einen europäischen Film aus?

Zum einen das Prinzip der Meinungs- und Kunstfreiheit. Bei jedem meiner Filme gab es irgendwann den Punkt, wo sich Verleiher aus nicht-europäischen Ländern meldeten, und zwar Interesse hatten, aber fragten, ob man nicht die eine oder andere Szene entfernen könne. Etwa weil da ein Penis zu sehen war oder so. Das habe ich in Europa eigentlich noch nicht erlebt. Zum anderen die Tatsache, dass in Europa das Kino und allgemein die Kultur auch als öffentliche Dienstleitung gesehen wird. Nicht ohne Grund wurden nach dem Zweiten Weltkrieg überall Kultureinrichtungen gegründet und öffentliche Gelder bereitgestellt, in der Hoffnung, dass kulturelle Bildung eine Wiederholung etwa des Nationalsozialismus verhindern könnte. Das sollte nun heute nicht dadurch unterlaufen werden, dass wir plötzlich anfangen, mit Fördergeldern nur noch halbherzige Marvel-Imitate statt schwieriger Stoffe zu unterstützen.

Apropos Marvel: hat Hollywood denn bei Ihnen schon angeklopft oder könnten Sie sich die Arbeit an einem US-Blockbuster ohnehin nicht vorstellen?

Fluch und Segen meiner Karriere ist es, dass ich mir erst einmal alles vorstellen kann und überall Potential sehe. Ich habe Hardcore-Arthouse-Kollegen hier in Europa, die sich beim Gedanken an einen Superhelden-Film von vorherein naserümpfend abwenden. Aber da bin ich anders. Zu den passenden Bedingungen könnte ich mir durchaus vorstellen, sehr gerne einen HULK-Film zu drehen. Worüber ich übrigens tatsächlich mit Marvel gesprochen habe. Ob man dort dann allerdings wirklich bereit wäre, mir eben diese passenden Bedingungen zu garantieren? So richtig kann ich es mir ehrlich gesagt nicht vorstellen. Aber wer weiß, offen bin ich auf jeden Fall erst einmal für alles.

D Das Gespräch führte Patrick Heidmann.

holy spIDER

Religiöser Wahn

HOLY SPIDER, der in der iranischen Stadt Maschhad spielt –jener Stadt, in der im September die 22-jährige Mahsa Amini von der „Sittenpolizei“ erschlagen wurde, weil sie ein Kopftuch nicht korrekt trug – ist ein Film von ungeplanter, beklemmender Aktualität. Ali Abbasi (BORDER) erzählt, angelehnt an reale Ereignisse, vom Serienmörder Saeed Hanaei, der in der Pilgerstadt Maschhad Prostituierte umbringt und „Spinnenmörder“ genannt wird. Saeed (Mehdi Bajestani) ist ein tiefreligiöser Familienvater und Bauunternehmer bei Tage. Abends, wenn Frau und Kinder bei den Großeltern sind, steigt er auf seinen Motorroller, sammelt auf der Straße Prostituierte auf, bringt sie nach Hause und erdrosselt sie. In seinen vielen Nachtszenen folgt der Film Saeed wiederholt bei der Ausübung seiner „Mission“.

Abbasi filmt die Morde mit großer, verstörender Genauigkeit. Immer lernt man die Frauen zunächst kurz in ihrer Persönlichkeit und Lebenssituation kennen, dann begegnen sie Saeed, dessen kalter Fanatismus keine Individuen sieht, nur „Schmutz“, den er auslöschen will. Immer wieder hofft man, sie mögen nicht auf den Roller aufsteigen. In diesen Szenen wird einem schmerzlich bewusst, wie ausgeliefert die Frauen – nicht nur die Sexarbeiterinnen, sondern alle Frauen und nicht nur bei Nacht allein auf der Straße, sondern eigentlich in allen öffentlichen und privaten Situationen ihres Lebens – sind. Mit Glück begegnen sie keinem Mörder, aber auch einem Schläger oder Lügner wären sie rechtund schutzlos ausgeliefert.

Das geht auch der Journalistin Rahimi (Silberne Palme in Cannes für die beste Hauptdarstellerin: Zar Amir Ebrahimi) so, die in einem parallel erzählten Handlungsstrang den Fall recherchiert und überall auf Widerstand stößt, und peinlich genau darauf achtet, niemals allein mit einem Mann zu sein. Einige der Hürden, die ihr in den Weg geworfen werden, sind misogyn gegen die moderne Frau gerichtet, andere sind politisch-religiös motiviert: Der „Spinnenmörder“ scheint von den Machthabern der Stadt wenn nicht aktiv unterstützt so doch geduldet zu sein. Der Verdacht erhärtet sich beim anschließenden Prozess, als Saeed bei Teilen der Bevölkerung zum Helden wird.

HOLY SPIDER bewegt sich auf der Grenze zwischen Sozialdrama und Thriller. Fast beklemmender als die physische Gewalt ist dabei die Atmosphäre von religiösem Wahn und totaler Unterdrückung aller Frauen der Stadt. D Hendrike Bake ¢ Start am 12.1.2023

HOLY SPIDER blurs the boundaries between social drama and thriller. In the pilgrimage site Mashhad, deeply religious serial killer Saeed is killing prostitutes in order to “purify“ the city.

Park Chan-wook bleibt der koreanische Regisseur, dem es am besten gelingt, die klassische Erzähltechnik um innovative Elemente zu ergänzen. Für seinen Film DECISION TO LEAVE bzw.

DIE FRAU IM NEBEL bekam er beim Filmfestival in Cannes die Goldene Palme für den besten Film und die beste Regie.

DIE FRAU IM NEBEL ist Polizeifilm, Thriller und ein Melodram über Obsession und Täuschung. Der Polizist Jang Hae-joon (Park Hae-il) leidet an Schlaflosigkeit. Die Fernbeziehung zu seiner Ehefrau ist zu einem streng geregelten Ritual geworden. Als er den Fall eines beim Bergsteigen in den Tod gestürzten Beamten übernimmt, verdächtigt er zunächst dessen Witwe, die Altenpflegerin Song Seo-rae (Tang Wei). Die aber hat ein scheinbar wasserdichtes Alibi. Hae-joon beginnt, sie nachts zu überwachen, nicht nur aus professionellem Interesse. Park zeigt, wie Hae-joon sich während des Blickes durch sein Fernglas in ihre Nähe träumt: Er sitzt plötzlich neben ihr oder steht hinter ihr und redet mit ihr. Sie sitzt am Tisch, blickt auf, und es ist, als ob sich ihre Blicke kreuzten, dabei sitzt Hae-joon hunderte von Metern entfernt in seinem Auto. Morgens ist er dort eingeschlafen. Dort findet Seorae ihn. Jetzt beobachtet sie ihn, und es entsteht ausgerechnet aus Verdacht und Überwachung eine Art Vertrauen und Nähe, bevor Wendungen und weitere Wendungen die Schichten der Geschichte zerlegen und immer neue Perspektiven eröffnen. Park inszeniert seine Liebes- und Mordgeschichte in Bildern, die reines Gefühl sind. Der größte Teil des Films spielt in Innenräumen, in denen die Figuren wie eingesperrt herumstehen. Erst als Hae-joon und Seo-rae sich ihre Liebe gestehen, öffnet sich der Kamerablick und lässt Luft in die Bilder und Seelen. Dann wieder führt Park Unsicherheiten ein: Ist ein Blick, eine Großaufnahme ein Hinweis auf zärtliches Interesse, oder enthüllt sich ein Indiz? Vielleicht sogar – tragischerweise – beides?

DIE FRAU IM NEBEL berührt politische Themen wie die illegale Migration von China nach Korea, die Ausbeutung von Migrant*innen, misogyne Gewalt und Korruption. Vor allem aber geht es um ein Dickicht des Begehrens und der Selbstzerstörung. Park war den Filmen seines Vorbildes Alfred Hitchcock selten näher. DIE FRAU IM NEBEL ist großes, virtuoses Kino mit einem so spektakulären wie schockierendem Finale.

¢ Start am 2.2.2023

D Tom Dorow

DIE FRAU Im NEBEl Obsession und Täuschung

An einem märchenhaften Regenbogen und einer Madonnastatue vorbei läuft Pádraic (Colin Farrell) über eine sehr grüne irische Insel zum Meer, wo sein Freund Colm in einem alleinstehenden weißen Häuschen wohnt. Er klopft. Nichts. Er schaut durchs Fenster. Das Grammophon läuft. Colm (Brendan Gleeson) ist offenbar da, rührt sich aber nicht. Pádraic ruft „Ich geh dann schon mal vor“, geht zum Pub und bestellt zwei Guinness. Eins für sich und eins für seinen Freund Colm. Wie immer. Doch Colm ist nicht mehr sein Freund, und die einzige Erklärung, die er später dafür abgibt, während der wortkarge Chor der Männer im Pub zuschaut, ist „Ich mag dich einfach nicht mehr.“

THE BANSHEES OF INISHERIN spielt nominell im Jahr 1923 auf der abgelegenen (fiktionalen) Insel Inisherin. Gelegentlich machen Nachrichten vom Bürgerkrieg auf dem Festland die Runde, aber eigentlich beschäftigt die Menschen hier das nächste Bier, die Musik, ihre Tiere, ein bisschen Tratsch und die existentielle Einsamkeit, die jeden hier befallen zu haben scheint. Aber das Dilemma, das Pádraic und Colm betrifft, ist zeitlos, und McDonaghs Erzählweise so allgemein gehalten und zugleich so idiosynkratisch, dass die Story sich wie eine Art Volksmärchen anfühlt, mit Archetypen, die McDonagh für diesen Zweck erfunden hat.

Nach Colms Ankündigung macht Pádraic Phasen einer schweren Trennung durch: Auf Ungläubigkeit folgt Wut, zumal als er von seiner Schwester erfährt, dass Colm ihn schlichtweg langweilig findet und seine verbleibende Lebenszeit lieber dem Komponieren widmen möchte, als mit Pádraic über die Verdauung seines Esels zu plaudern. Pádraic versucht so zu tun, als ob nichts wäre und er versucht es mit Konfrontation, bis Colm ihm ein Ultimatum stellt: Für jeden Versuch von Pádraic, mit ihm Kontakt aufzunehmen, wird er sich einen Finger seiner Geigenhand abhacken. Und, wie vom Regisseur von BRÜGGE SEHEN … UND STERBEN? und THREE BILLBOARDS OUTSIDE EBBING, MISSOURI nicht anders zu erwarten, setzt er die Ankündigung um.

Die lakonische Grausamkeit der Figuren im Umgang mit sich selbst und miteinander gehört zu McDonaghs Markenzeichen. Bisher wirkte sie manchmal willkürlich, wie pure Lust an der Grenzüberschreitung, ein Gag unter Jungs, politisch bisweilen unschön. In BANSHEES entspringt sie dagegen spürbar einem grundsätzlichen Unvermögen, in der Welt glücklich zu sein. Colms Verlangen nach Ruhe und Kunst ist ebenso existentiell, berechtigt, banal und übertrieben wie Pádraics Festhalten an seinem Freund. Die Fehde, die sich aus der Absolutheit dieser Ansprüche unaufhaltsam, in kargen Dialogen und skurrilen Szenen entfaltet, während die Dorfhexe düstere Prophezeiungen abgibt, ist ebenso lächerlich wie von epischer Tragweite. D Hendrike Bake

¢ Start am 5.1.2023

Irland/Großbritannien/USA 2022

D 109 min

D R: Martin McDonagh

D B: Martin McDonagh D K: Ben Davis D S: Mikkel E.G. Nielsen D M: Carter Burwell D D: Colin Farrell, Barry Keoghan, Kerry Condon, Brendan Gleeson

D V: Walt Disney

Once upon a time, musician Colm quit his friendship with his best friend, Pádraic the farmer. Just like that. An existential folk fairy tale directed by Martin McDonagh.

ANNIE ERNAUx –

DIE sUpER-8-JAhRE

Subversiver Familien-Filmabend

In ANNIE ERNAUX – DIE SUPER-8 JAHRE kommentiert die Literaturnobelpreisgewinnerin Ernaux die Super-8-Filme, die in der Familie zwischen 1972 und 1981, vor allem von ihrem damaligen Ehemann Phillippe Ernaux gedreht wurden. So erinnert der Film einerseits an einen privaten Filmabend in der Familie Ernaux –aus eben solchen ist die Idee zum Film auch entstanden – andererseits an Ernaux Buch „Les anées“ (dt. „Die Jahre“), an das auch der Titel angelehnt ist. Im Buch beschreibt Ernaux alte Fotografien und schildert die Lebenswirklichkeit der Zeit, die Vorstellungen und Wünsche, die in die (Selbst-)Inszenierungen der Bilder eingeflossen sind, und Erinnerungen, die sich mit der Zeit verbinden. Im Film kommentiert Ernaux kühl und aufmerksam, was Phillippe Ernaux filmte, die neuen Möbel, die größer werdenden Wohnungen und Häuser, die Kinder, den Garten, die ungewöhnlichen Reiseziele des jungen linken Paars: Chile, Russland, Albanien, aber auch ein Skiurlaub und ein entspannter Trip nach London mit den Kindern. Wie in ihren Büchern entsteht aus der sachlichen Beschreibung ein hochemotionales und analytisches Bild der Zeit, ihrer Zwänge und Hoffnungen – und einer Beziehung, die sich beginnt aufzulösen, je mehr Annie Ernaux selbst aus den Bildern verschwindet. Ernaux’ Kommentare zu den Reisebildern sind beinahe ein Gegenentwurf zu klassischen Reisedokus. Sie spricht vor allem darüber, was das Paar damals nicht gesehen und verstanden hat, ähnlich ihren Beschreibungen der eigenen beschränkte Perspektiven in „Die Jahre“. Als Ergänzung zum Buch ist der Film eine schöne Bereicherung. Als erster Kontakt mit Ernaux’ Werk lässt der Film einige zunächst vielleicht eher achselzuckend zurück. Die subversive Qualität von Ernaux’ Arbeit erschließt sich erst allmählich. D Tom Dorow ¢ Start am 29.12.2022

AUs mEINER hAUT

Körpertausch-Fantasy

Leyla (Mala Emde) und ihr Freund Tristan (Jonas Dassler) besuchen eine schräge Kommune mit magischen Kräften, die auf einer abgelegenen Insel Körpertausch als spirituelles Ritual anbietet. Während Tristan mit der Sache hadert, macht es Leyla sehr froh, sich in einem anderen Körper wiederzufinden – und, noch viel wichtiger, den eigenen endlich los zu sein.

In seinem Langfilmdebüt AUS MEINER HAUT widmet sich Regisseur Alex Schaad dem philosophisch wie filmisch traditionsreichen Gedankenexperiment des Körpertauschs. Die fantastische Prämisse gibt den Schauspieler*innen eine Steilvorlage: Emde und Dassler sowie Dimitrij Schaad, Maryam Zaree und Thomas Wodianka tauschen die Rollen und spielen nicht nur andere Figuren, sondern diese auch noch unter dem Einfluss der neuen Körper. Besonders mitreißend sind die Momente, in denen Leyla einen neuen Körper „anprobiert“ und vor Erleichterung und neuer Lebensfreude erblüht. „Hier drin stimmt etwas nicht“, sagt Fabienne (Maryam Zaree) derweil über Leylas Körper – kein Wunder also, dass Leyla eigentlich am liebsten gar nicht mehr zurücktauschen würde. Der Film nutzt seine Prämisse auf vielfältige Weise, um über psychische Gesundheit zu sprechen. Nicht alle Ideen werden zufriedenstellend zum Ende geführt, einige Nebenfiguren bleiben etwas blass. Ein sexualisierter Übergriff durch einen anderen Mann, den Tristan erlebt, wird tendenziell eher trivialisiert – sehr schade, zumal das Drehbuch von Alex und Dimitrij Schaad ansonsten auch zum Thema Männlichkeit spannende Beobachtungen macht. Dass nahezu alle Körper im Film normschön, jung und unversehrt sind, bleibt außerdem zu sagen – es zeigt sich also, dass dem Subgenre „Körpertausch“ auch nach AUS MEINER HAUT noch viel erzählerisches Potenzial innewohnt. D Eva Szulkowski ¢ Start am 2.2.20230

Leyla and her boyfriend Tristan visit a commune on a remote island that offers body swapping as a form of spiritual ritual. While Tristan is struggling with it, Leyla is very happy to rediscover herself in a different body …

DAs hAmlET syNDRom

Der Dokfilm DAS HAMLET SYNDROM zeigt Theaterproben, bei denen Schauspieler*innen gemeinsam ein Stück entwickeln. Anders als Hamlet in seinem „Sein oder nicht sein?“-Monolog blicken sie dabei auf Folgen von Entscheidungen zurück, die sie bereits getroffen haben.

Als 2014 der Krieg im Osten der Ukraine ausbrach, mussten sich die fünf Schauspieler*innen entscheiden: Kämpfen oder nicht? Bleiben oder Fliehen? Oxana ging auf die Demos am Maidan. Rodion nähte Militäruniformen. Slavik, Roman und Katya gingen an die Front und kehrten von den Erlebnissen traumatisiert zurück. Wenn sie versuchen, in den Proben ihre Erlebnisse zu kommunizieren und zu verarbeiten, geraten sie oft an ihre Grenzen oder in Konflikt miteinander, und immer wieder müssen die Proben unterbrochen werden. Sie sprechen über Erfahrungen mit dem Tod, aber auch die Frage, wie das Kriegserlebnis die Beziehung der Kämpfenden zu ihrem Heimatland verändert hat, kommt zur Sprache, die besonderen Herausforderungen für weibliche Kämpfende und ob die ukrainische LGBTQ-Community in Friedenszeiten diskriminiert, im Krieg aber für politische Zwecke instrumentalisiert wurde.

Elwira Niewiera & Piotr Rosolowski begleiten die Darsteller*innen auch jeweils abseits der Probenbühne und zeigen ihre Familien und das soziale Umfeld, in einer Verschränkung, die deutlich durch das Theater von Heiner Müller inspiriert ist. Dieser Kontext ist hilfreich, verschiebt den Fokus aber weg vom Geschehen im Theater. Als Porträt einer ukrainischen Generation, die nach dem Ende der UdSSR geboren wurde und sich seit dem Ende der Dreharbeiten schon im nächsten Krieg befindet, hinterlässt der Film, trotz seiner Fragmenthaftigkeit und innerer Widersprüche einen starken Eindruck. D Christian Klose ¢ Start am 19.1.2023

When the war broke out in eastern Ukraine in 2014, five actors had to make a decision: Fight or not? Stay or flee? The film documents rehearsals for a play based on their reflections on that decision.

AchT BERgE

Zwei Lebenswege

Mit der bittersüßen, musikalischen Liebesgeschichte THE BROKEN CIRCLE schufen Charlotte Vandermeersch und Felix van Groeningen basierend auf dem Theaterstück von Johan Heldenbergh das Drehbuch zu einem der emotional kraftvollsten Filme des vergangenen Jahrzehnts. Mit ACHT BERGE adaptierten sie nun den gleichnamigen Roman von Paolo Cognetti erneut als Gemeinschaftsprojekt und führten auch erstmals gemeinsam Regie. Über mehrere Jahrzehnte hinweg erzählt der Roman von der Freundschaft zweier Jungs, deren Wege sich in einem kleinen Bergdorf im italienischen Aostatal kreuzen. Pietro kommt aus der Stadt, Bruno ist das letzte Kind in der entlegenen Siedlung. Trotz ihrer Gegensätze werden sie Freunde. Doch ihr Heranwachsen zu Männern lässt sie auseinanderdriften. Während es Pietro in die Welt zieht, bleibt Bruno dem Leben in den heimischen Bergen treu. Das Schicksal führt sie schließlich wieder zusammen. Ganz getragen von der mächtigen Naturkulisse und den zwei überzeugenden Hauptdarstellern Luca Marinelli (MARTIN EDEN) und Alessandro Borghi (SUBURRA) erzählt ACHT BERGE von unterschiedlichen Lebenswegen und Konzepten, dem Verlust von und dem sturen Festhalten an Idealen. Ist es besser, sich selbst treu zu bleiben, oder die Veränderung zu suchen? Einfühlsam führen Vandermeersch und Groeningen zweieinhalb Stunden durch zwei Leben, die sich gegenseitig bereichern. Eine Beziehung mit Höhen und Tiefen. Es sind die großen Themen – Familie, Freundschaft und Verlust – verhandelt im Kleinen einer Beziehung zwischen zwei Menschen. Bei den Filmfestspielen in Cannes gab es dafür den Großen Preis der Jury. Die ACHT BERGE zu erklimmen, ist ein Kraftakt, aber die Aussicht von der Spitze ist wahrhaftig und wundervoll.

D Lars Tunçay

¢ Start am 12.1.2023

Over decades, two friends cross paths, lose touch and find each other again in a small mountain village in the Italian Aosta Valley.

lUANAs schwUR

Status: Mann

Frauen in patriarchalen Gesellschaften sind eingesperrt in viele miteinander verwobene Zwänge. Wer rebelliert, stolpert statt in ein freies Leben oft nur in neue Zwangskonstrukte hinein. So ergeht es der titelgebenden Hauptfigur im Spielfilm LUANAS SCHWUR des albanischen Regisseurs Bujar Alimani. In den 50er Jahren wächst sie in Albanien auf, eines der ärmsten Länder Europas und von 1944 bis 1990 kommunistische Diktatur. Von den geschichtlichen Umwälzungen bekommen Luana und ihre Familie auf dem Land nicht viel mit – sie leben noch immer nach den Regeln des Kanun, ein Verhaltenskodex aus dem 15. Jahrhundert, sowie ihres christlichen Glaubens. „Wir brauchen die Regeln, sie machen uns zu Menschen, egal wie grausam sie uns erscheinen mögen“, sagt ihr Vater, als er erfährt, dass Luana heimlich das Lesen gelernt hat. Luana gibt sich Mühe, sich an seine Weisungen zu halten, doch ihre unerhörten jugendlichen Befreiungsversuche holen sie im Erwachsenenalter wieder ein. Schließlich trifft sie die Wahl, zur Burrnesha zu werden – zur „eingeschworenen Jungfrau“, die ihren Status als Frau aufgibt und in der Gesellschaft die Rolle eines Mannes übernimmt.

Was gewaltvolle Traditionen wie das Gebot der Jungfräulichkeit, Zwangsehen und die Tradition der Blutrache mit Frauen und Familien machen, erzählen Alimani und die deutsche Drehbuchautorin Katja Kittendorf schonungslos. Zugleich betrachten sie auch streitbare Figuren wie Luanas Eltern mit einem differenzierten Blick und zurückhaltendem Optimismus. LUANAS SCHWUR ist ein dichtes Historiendrama, das mit bewegenden Naturaufnahmen in der Abgeschiedenheit der albanischen Berge eine subtile Westernatmosphäre entfaltet. Dabei hinterlässt gerade auch der hervorragende, mit albanischen Volksliedern gespickte Soundtrack einen bleibenden Eindruck.

D Eva Szulkowski ¢ Start am 9.2.2023

Albania in the 50s: the emancipatory attempts of young Luana cause her to come in conflict with the traditions of the village community. She decides to become a Burrnesha – a “sworn virgin”, who gives up her status as a woman and is considered a man in society.

Originaltitel: Petrovy v grippe D Russland 2021 D 145 min D R: Kirill Serebrennikov

Originaltitel: Maria rêve D Frankreich 2022 D 93 min D R: Lauriane Escaffre, Yvonnick Muller D K: Antoine Sanier D S: Valérie Deseine D M: René Aubry

D D: Karin Viard, Grégory Gadebois, Philippe Uchan, Noée Abita D V: Atlas Film

pETRov’s FlU

Reise in die russische Nacht

Mehrere Jahre stand der russische Theater-, Opern-, und Filmregisseur Kirill Serebrennikov unter Hausarrest, vage Vorwürfe der Untreue schränkten seine Freiheit ein, die Gefahr einer Verurteilung und der Lagerhaft hingen in der Luft. Es hilft, mit diesem Wissen Serebrennikovs neuen Film PETROV’S FLU zu sehen, die Verfilmung eines Romans von Alexey Salnikov – eine atemlose, irritierende, delirierende Reise in die russische Nacht. Vom ersten Moment an schwebt ein Gefühl der Paranoia, der Bedrohung über den Bildern, die Russland Anfang der Nuller Jahre zeigen. Schauplatz ist Jekaterinburg, eine Stadt wenige Kilometer östlich des Urals, also der fiktiven Grenze zwischen Europa und Asien, zwischen West und Ost. Hauptfigur ist Petrov, ein Automechaniker, der wie fast alle Bewohner*innen der Stadt von einer Grippe geplagt ist. (Bezüge zur Corona-Pandemie sind natürlich zufällig, aber nicht weniger reizvoll.) Von einem Freund bekommt er ein Medikament, das vor allem dafür sorgt, dass Petrov – und mit ihm der Zuschauer – in einen wilden, oft auch wirren Strom aus Gedanken und Erinnerungen gezogen wird. Bilder aus Petrovs Vergangenheit vermischen sich mit der Gegenwart, kontemplative Momente wechseln ab mit Szenen, in denen der Verfall der staatlichen Ordnung überdeutlich wird. War Serebrennikovs vorheriger Film LETO geprägt von sommerlichen Bildern und Melancholie, ist PETROV’S FLU durchzogen von Chaos und Anarchie. Weniger eine nachvollziehbare Handlung, als lange Kamerafahrten halten das Geschehen zusammen, verbinden in fließenden Einstellungen die disparaten Ideen und Gedanken. Viel zu viel ist das oft, gespickt mit Anspielungen an die russische Realität, die aus der Ferne kaum zu verstehen sind, wild und ungezügelt, voller eindringlicher Bilder und Momente, auf die es sich einzulassen lohnt. D Michael Meyns ¢ Start am 26.1.2023

Petrov, a car mechanic, is plagued by the flu like almost all the residents of the city. He gets medication from a friend that causes him to go into a wild and often tumultous stream of thoughts and memories.

mARIA TRäUmT – oDER:

DIE kUNsT DEs NEUANFANgs

Beschwingt-romantisch

Nachdem die alte Dame, bei der Maria (Karin Viard) jahrelang geputzt hat, das Zeitliche gesegnet und ihrer ehemaligen Angestellten nichts als eine Messingtaube hinterlassen hat, findet Maria eine Putzstelle an der renommierten Pariser Académie des Beaux-Arts. Doch kaum hat sie dort angefangen, passiert ihr das erste Malheur. Getreu ihrer Devise „Immer zweimal wischen!“ entfernt sie beherzt zerlaufene Butter von einem Sockel, die sich im Nachhinein als das Werk eines brasilianischen Künstlers entpuppt. Doch Hausmeister Hubert (Grégory Gadebois), heimlicher Hobbytänzer und gute Seele der Hochschule, rettet Maria – und ersetzt das Œuvre durch Butter aus der Kantine. Maria, die auf dem Heimweg in den Vorort Gedichte schreibt, und Hubert, der sich mit YouTube-Tutorials den Hüftschwung à la Elvis beizubringen versucht, sind sich sympathisch, doch Maria ist verheiratet. Das Regieduo Lauriane Escaffre und Yvonnick Muller stellt in MARIA TRÄUMT eine Mittfünfzigerin in den Mittelpunkt – allein das ist angesichts fehlender Sichtbarkeit älterer Frauen auf der Leinwand bemerkenswert. Unsichtbar zu sein ist das, was Reinigungskraft Maria an ihrem Job gefällt. Doch in der Kunsthochschule erkennen Hub und Studentin Naomie (Noée Abita) Marias Talente. Bald sitzt Maria – zunächst verschämt, dann zunehmend selbstbewusster – abends als Aktmodell im Zeichensaal. Die dreifache César-Gewinnerin Karin Viard, bekannt aus VERSTEHEN SIE DIE BÉLIERS (2014), trägt die beschwingt-romantische Komödie mit ihrer immer losgelösteren Darstellung einer erfahrenen Frau, die nicht nur die Liebe, sondern vor allem sich selbst findet – und dabei aufblüht. Escaffre und Muller, die zwei Nebenrollen spielen, widmen ihren feministischen Film „allen Marias der Welt“.

D Stefanie Borowsky ¢ Start am 19.1.2023

After the old lady who Maria cleaned for dies, Maria finds a cleaning job and new perspectives at the renowned Parisian Académie des Beaux-Arts.

DER gEschmAck DER klEINEN DINgE

Gérard Depardieu spielt den berühmtesten Chefkoch Frankreichs. Gabriel Carvin kann sich allerdings schon lange nicht mehr an seinem Erfolg freuen, seine Familie ist in Trümmern, seine Frau betrügt ihn mit einem Restaurant-Kritiker, und nicht einmal das Essen schmeckt mehr. Als Carvin einen Herzinfarkt erleidet, beschließt er, sein Leben umzukrempeln und reist zu einem ehemaligen Konkurrenten nach Japan, um sich genauer mit dem „Umami“ jener fünften Geschmacksnote neben süß, sauer, salzig und bitter zu beschäftigen.

¢ Start am 9.2.2023

Originaltitel: Umami D Frankreich 2022 D 92 min D R: Slony Sow D D: Gérard Depardieu, Pierre Richard, Kyôzô Nagatsuka,

AkRopolIs BoNJoUR

Thierry (Jacques Gamblin) geht seit seiner Pensionierung allen mit der Archivierung der Familienfotoalben auf die Nerven. Als seine Frau Claire (Pascale Arbillot) sich – nicht nur deswegen –trennen will, bequatscht er sie, ein letztes Mal mit der ganzen Familie Urlaub zu machen, bevor sie es den beiden erwachsenen Kindern sagen. Das Ziel: Griechenland 1998 – der schönste Urlaub aller Zeiten. Thierry versucht, alles exakt so zu rekreieren wie damals, alle anderen sind vornehmlich genervt. Kathartisches Chaos ist die Folge.

¢ Start am 16.2.2023