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DER KINOERFOLG AUS FRANKREICH

Anouk Grinberg Bastien Bouillon Bouli Lanners

ab 12. Januar im kino

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In unserem Interview spricht Ali Abbasi, der iranisch-dänische Regisseur von HOLY SPIDER, auch über das europäische Kino. Für ihn ist es weniger durch einen geografischen Produktionsort bestimmt als von der Frage, mit „welcher Haltung man an seine Geschichten herangeht“. In diesem Sinne werden Januar und Februar sehr „europäische“ Monate werden. Wir freuen uns auf Filme, die originäre Geschichten erzählen, mutige, zum Teil waghalsige ästhetische und narrative Entscheidungen treffen und so individuell sind, wie ihre Erfinder*innen. In THE BANSHEES OF INISHERIN hat Martin McDonagh seine lakonische Verzweiflung in ein zeitloses Volksmärchen destilliert. In UNRUH erzählt Cyril Schäublin nicht nur von Schweizer Anarchist*innen in einem Uhrenwerk Ende des 19. Jahrhunderts, er legt den Film auch selbst als antihierarchisches Projekt an. Im lustigsten Film des Monats, FINAL CUT OF THE DEAD, amüsiert sich Michel Hazanavicius (THE ARTIST) mit einer unendlichen Verschachtelung von Filmebenen und wirft einen Blick hinter die Kulissen der ultimativen Regie-Fantasie: der Plansequenz. In DIE FRAU IM NEBEL gönnt Park Chan-wook sich Ellipsen und Spiegelungen, die so nur im Kino funktionieren, Davy Chous RETURN TO SEOUL ist ähnlich erratisch wie die Hauptdarstellerin, und in ANNIE ERNAUX – DIE SUPER-8 JAHRE wirft die Literaturnobelpreisträgerin einen dezidiert privaten Blick zurück.

Wir wünschen euch viel Spaß beim Lesen, viel Spaß im Kino und ein sehr gutes Jahr 2023!

Eure INDIEKINO Redaktion

10 „DIE rEALITäT Im IrAN IST NOCH VIEL

BrUTALEr“ INTErVIEW mIT ALI ABBASI

ÜBEr HOLY SPIDEr

16 mCDONAGH’S FOLK-TALE THE BANSHEES OF INISHErIN

20 „FrEUNDLICHE UNTErDrÜCKUNG IST

VIEL EFFIzIENTEr“ INTErVIEW mIT CYrIL SCHäUBLIN ÜBEr UNrUH

23 Akropolis Bonjour

IN DEr NACHT DES 12.

62 NACHBILD

63 KINOS, ImPrESSUm, ABONNEmENT

18 Aus meiner Haut

STArTS DEr WOCHE

ÜBErBLENDUNG – VErGESSENE BILDEr VON OST UND WEST

Das Brotfabrik Kino in Berlin zeigt vom 12.–29.1. eine sehr umfangreiche Retrospektive, die den (Zerr)Bildern nachgeht, die der Osten vom Westen und der Westen vom Osten zeichneten. Die Filmreihe, die von der Bundesstiftung Aufarbeitung gefördert wird, zeichnet den Wandel nach, den diese Bilder im Verlauf der Zeit und abhängig von den aktuellen politischen Positionen durchmachten – so wurde es beispielsweise mit dem wirtschaftlichen Aufschwung der BRD zunehmend schwieriger, den DDR-Bürger*innen vom verarmten BRD-Proletariat zu erzählen. Zu den über 40 Produktionen gehören viele Seltenheiten wie die Fernsehproduktionen „Aus dem Alltag in der DDR“ und die Serie „Familie Bergmann“, die Anfang der 70er Jahre, zur Zeit der Entspannungspolitik, den Westdeutschen das Leben im ihnen fremdgewordenen Osten des Landes nahebringen sollten, oder der DEFA-Film „Was wäre, wenn ...?“, der 1960 durchspielte, was geschehen könnte, sollte ein DDR-Dorf plötzlich die Seite wechseln. Alle Filme werden mit einer Einführung gezeigt. brotfabrik-berlin.de

STUTTGArTEr FILmWINTEr

Der Stuttgarter Filmwinter - Festival for Expanded Media widmet sich vom 12.–17.1. in Wettbewerben für Kurzfilm, Musikvideos, Medien im Raum und Network Culture, in Gesprächen, Ausstellungen und Workshops der Film-, Medien- und Netzkunst. Angelehnt an Aldous Huxleys Dystopie lautet das Motto diesmal „Unendlicher Spaß“: „Die Zeit ist aus den Fugen und wir sind inmitten der Blase der größten Spaßinszenierung einer schönen neuen Welt, in der jedes noch so kleine Ereignis medienwirksam in Szene gesetzt wird und in der alles zur Unterhaltung wird. Die Grenzen verschwimmen, die deutliche Trennung zwischen Wahrheit und Fiktion löst sich auf. Es wird immer unklarer, wie und wofür wir Stellung beziehen können, wenn nicht mehr durchschaubar ist, wer für was steht und in welcher Weise dieses ganze Spiel zusammenhängt?“ filmwinter.de

WOCHE DER KRITIK: CINEMA OF CARE

Parallel zur Berlinale präsentiert die Woche der Kritik wieder aktuelle Independent Filme und kritische Positionen zum Filmgeschehen der Gegenwart im Hackesche Höfe Kino. Die Auftaktkonferenz trägt den Titel „Cinema of Care – Wer kümmert sich um das Kino?“ und diskutiert, ob und wie sich aktuelle Debatten zum Verhältnis von Sorgearbeit, Gesellschaft und Kunst auf das Kino übertragen lassen: „Wen brennt die Filmbranche aus? Welche Verantwortung tragen heute Institutionen und Filmschaffende füreinander, und welche Arbeitsverhältnisse sind überholt? Was kostet ein „fürsorgliches Kino“, und welche Filme weisen die Richtung?“ Los geht es am 15.2. in der Akademie der Künste mit einer Diskussionsrunde, zu der auch Claire Denis erwartet wird. Am 17.2. ab 20 Uhr folgt dann ein Filmprogramm mit anschließendem Gespräch zu „Ästhetik und Care-Ethik“. wochederkritik.de

Ich Will Zum Film

Das Filmjobportal crew-united.com hat ein neues Webangebot speziell für junge Filminteressierte erstellt. Auf ichwillzumfilm.de findet man unter „Infos, Tipps und Tricks“ eine gute Linksammlung zu Berufsbildern, Praktika oder möglichen Ansprechpartner*innen für Fragen. Wer detaillierte Infos bekommen und in einen Nachwuchspool für Arbeitgeber*innen aufgenommen werden möchte, kann einen Fragebogen zu Ausbildung und Interessen ausfüllen.

VERLOSUNG: MONA LISA AND THE BLOOD MOON

Zehn Jahre verbrachte

Mona Lisa in einem katatonischen Zustand in einer gruseligen psychiatrischen Anstalt, doch in dieser Blutmondnacht erwacht sie – und mit ihr ihre telepathischen Superkräfte ... Die feministische Horror-Außenseiter-Komödie von Ana Lily Amirpour zerlegt genüsslich Gender-Stereotype und ist zugleich eine Hommage an ein neondurchflutetes New Orleans. Wir verlosen zwei DVDs/Blurays. Bei Interesse schreibt uns bis zum 15.1. eine Mail an info@indiekino.de. Betreff: Mona Lisa.

44. FILmFESTIVAL mAX OPHÜLS PrEIS

Das Filmfestival Max Ophüls Preis findet vom 23. – 29.1. statt und ist das wichtigste Festival für den jungen deutschsprachigen Film. In vier Wettbewerben – für Spiel- und Dokumentarfilme, sowie für kurze und mittellange Filme – sind Preise ausgeschrieben. Im Spielfilm-Wettbewerb lassen sich als Schwerpunkt Familiengeschichten ausmachen. In ALASKA (R: Max Gleschinski) flieht eine junge Frau vor der Auseinandersetzung mit dem Tod ihres Vaters, im Science-Fiction-Drama ENTER MYCEL (R: Daniel Limmer) versuchen Vater und Tochter über ein Pilzgeflecht Kontakt mit der verstorbenen Mutter aufzunehmen. In REDUIT (R: Leon Schwitter) läuft ein Aufenthalt auf einer einsamen Hütte für Vater und Sohn aus dem Ruder. SEID EINFACH WIE IHR SEID (R: Alice Gruia) ist ein Spielfilm über den Versuch, einen Hochschul-Abschlussfilm über die Versöhnung der eigenen, verstrittenen Familie zu drehen. In SPRICH MIT MIR (R: Janin Halisch) wird eine gemeinsame Reise von Mutter und Tochter zu einem Trip in die Vergangenheit, und in TAMARA (Jonas Ludwig Walter) kehrt die mittlejunge Heldin nach dem Tod des Vaters zurück zu ihrer Mutter nach Ostdeutschland. In SEMRET (R: Caterina Mona) will Tochter Joe von ihrer Mutter Semret genaueres über ihre Wurzeln in Eritrea erfahren. Ähnliche Geschichten erzählen auch zwei Filme im Dokumentarfilmwettbewerb: In INDEPENDENCE erkundet die afrodeutsche Schauspielerin Helen Wendt ihre Familiengeschichte zwischen DDR, Mosambik und Berlin, und in HAO ARE YOU will Regisseur Dieu Hao Do herausfinden, warum seine Familie, die 1975 Vietnam verlassen musste, seit Jahren nicht mehr miteinander spricht. ffmop.de

BEST OF CINEmA

Die Reihe “Best of Cinema“ bringt „Meisterwerke, Klassiker und Kultfilme“ in restaurierter Fassung wieder ins Kino. Am 3.1. zeigt die Reihe RAMBO (OT: FIRST BLOOD). John Rambo wollte im Städtchen Hope eigentlich nur nett frühstücken, aber dem Sheriff Teasle gefällt sein abgerissenes Aussehen nicht. Der Konflikt eskaliert. Im Februar folgt am 7.2. dann Paul Verhoevens Erotikthriller BASIC INSTINCT, in dem Michael Douglas als Polizist der Mordverdächtigen Krimi-Schriftstellerin Catherine Tramell (Sharon Stone) näher kommt, als es geraten scheint.

„SO FUNNY, OIDA“ – JANUAr UND FEBrUAr Im INDIEKINO CLUB

Feministisch, (post)-migrantisch, ironisch: Vom 1. Januar bis 31. März findet ihr im Indiekino Club die erste Werkschau der österreichischen Newcomerin Kurdwin Ayub im deutschsprachigen Raum. Bis auf ihren neuesten Film SONNE, der seit Dezember im Kino läuft, werden alle ihre bisherigen Arbeiten zu sehen sein. Außerdem im Club: King Hu’s meditativer Martial Arts Klassiker A TOUCH OF ZEN (Taiwan 1971), Jim Jarmuschs chilliger GHOST DOG (USA 1999), in dem der gleichnamige mysteriöse Auftragskiller sich am Verhaltenscodex der Samurai orientiert und gerne aus der „Hagakure“ zitiert, Antonia Kilians Dokumentarfilm über kurdische Kämpferinnen THE OTHER SIDE OF THE RIVER (Deutschland 2021) und die GESCHICHTEN VOM KÜBELKIND (Deutschland 1971) von Ula Stöckl und Edgar Reitz. Die Filmemacher*innen drehten ohne Geld, gegen alle Konventionen und gemeinsam mit Freund*innen 25 wilde Episoden – von einer Minute bis zu einer halben Stunde Länge – über das „Kübelkind“, eine Frau in Rot, die nicht in die Gesellschaft passt.

BErLINALE 2023

Vom 16.–26.2. findet die 73. Berlinale statt, soviel ist klar. Kristen Stewart wird Jury-Präsidentin, das ist auch klar, und offenbar wird das Musical-Theater am Marlene-Dietrich-Platz nun doch wieder zum „Berlinale-Palast“ umgerüstet, nachdem es zunächst Hickhack um dort laufende Mietverträge für ein Elvis-Musical gab. Der Traum für eine Berlinale, die zentral am Potsdamer Platz stattfindet, ist dagegen vorerst ausgeträumt. Das Cinestar-Kino im Sony-Center ist schon länger geschlossen, das Cinemaxx wird derzeit umgebaut und die Sitzplatzanzahl reduziert. Als neue Spielstätten sind die „Verti-Musical-Hall“, ein Konzertsaal am trostlosesten Corporate-Plaza Berlins, dem „Mercedes-Platz“, und das eigentlich geschlossene Kino Colosseum im Gespräch. Die Sektion „Generations“ zieht in die Urania, und in Steglitz wird es wieder Berlinale-Filme im Cineplex Titania geben. Zoo-Palast, International und Cubix und eine Auswahl von Kiez-Kinos sind ebenfalls für Publikumsvorführungen vorgesehen. Ein paar Sonderveranstaltungen stehen bereits fest: Steven Spielberg erhält einen Ehrenbären und sein Film THE FABLEMANS wird zu sehen sein. TÀR von Todd Field mit Cate Blanchett wird als Gala gezeigt, es gibt einen Boris Becker-Dokumentarfim und eine Loriot-Kompilation. Das gesamte Programm wird am 23. Januar bekanntgegeben. berlinale.de

Ali Abbasi emigrierte 2001 aus dem Iran nach Schweden, studierte zunächst Architektur in Stockholm und schließlich Film an der Nationalen Dänischen Filmschule. Bisher hat er drei Spielfilme gedreht, die alle mit Genre experimentieren. Der Horrorfilm SHELLEY (2016) erzählt von einer jungen Leihmutter, die ein Kind für ein Paar, das in einem abgelegenen Waldhaus lebt, austrägt. In BORDER, der in Cannes 2018 in der Reihe „Un certain regard“ gewann, tauchen menschenartige Wesen mit sehr eigenartigen Fähigkeiten auf, und HOLY SPIDER folgt, basierend auf einem realen Fall, einem Serienmörder im Iran. Hauptdarstellerin Zar Amir Ebrahimi wurde in Cannes 2022 mit dem Preis für die beste Darstellerin ausgezeichnet. Patrick Heidmann hat sich mit Ali Abbasi über HOLY SPIDER unterhalten.

INDIEKINO: Herr Abbasi, bei der Weltpremiere von HOLY SPIDER in Cannes sagten Sie, Ihr Film solle wie eine Ohrfeige wirken. Was genau meinten Sie damit?

Ali Abbasi: Nun, zunächst einmal war mein Ziel, als ich mich dieser realen Mordserie aus den Jahren 2000 und 2001 widmete, ein Spiel mit dem Serienkiller-Genre. Wobei mich nicht das „wer“ interessierte, sondern das „warum“ hinter diesen Taten. Deswegen ist HOLY SPIDER auch weniger ein persisches SCHWEIGEN DER LÄMMER als ein persischer Film Noir. Aber um Ihre Frage zu beantworten: Die besagte Ohrfeige, meinetwegen auch der sprichwörtliche Mittelfinger gilt dem seit bald 50 Jahren existierenden Paralleluniversum des iranischen Kinos, in dem Frauen in ihrer Kleidung und mit Kopftuch zu schlafen scheinen. Sie haben keinen Körper, keine Körperlichkeit, gehen nicht auf die Toilette und haben keinen Sex. Diesem Bild des Irans und iranischer Frauen, das wir dank des Kinos auch alle im Kopf haben, wollte ich etwas entgegenschleudern. Und dass mir das gelungen ist, bedeutet mir mehr als jede Auszeichnung.

Seit September gehen im Iran die Menschen in bislang ungekanntem Ausmaß auf die Straße, um für die Freiheit der Frauen und allgemein Menschenrechte und damit gegen die Regierung zu kämpfen. Haben diese Proteste, denen mit schrecklicher Brutalität begegnet wird, Ihrem Film noch einmal eine neue Bedeutung gegeben?

Vor allem hat sich der Kontext verändert und damit auch der Blick auf HOLY SPIDER. In Cannes zum Beispiel hörte ich häufig, dass der Film zu brutal sei und dass ich zu deutlich das Leiden der weiblichen Opfer des Mörders zeigen würde. Sogar von Misogynie war mitunter die Rede. Nun habe ich den Eindruck, dass viele dieser Stimmen verstummen, weil sich zeigt: Die Realität im Iran ist noch viel brutaler – und um darüber sprechen zu können, muss man diese Brutalität auch zeigen. Gleichzeitig empfinde ich als Regisseur es natürlich auch als schwierig, dass mein Film nun in eben diesem Kontext steht.

Warum?