be longing

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Konzept Die vorliegende Arbeit basiert auf meinem letztjährigen Austauschsemester in Ahmedabad, in Gujarat, Indien. Die vielen Erinnerungen an dieses prägende Erlebnis sollten die Inspiration sein für meine BA-Arbeit. Den Fokus setzte ich auf den Prozess des Eintauchens in die neue Kultur und Lebensweise, bis zum anschliessenden Zurückkehren und Loslassen. Ich habe 6 Phasen innerhalb dieses Prozesses festgelegt, zu welchen ich je ein Foulard gestaltet habe. Während meiner Zeit in Indien war das Tuch meine stete Begleitung und aus meinem Alltag nicht wegzudenken. Ich benutzte es als Schutz vor extremer Hitze, vor Kälte, zum Schutz meiner Atemwege vor verschmutzer Luft, oder auch einfach als Accessoire. Aus diesem Grund war es naheliegend, als Produkte meiner Arbeit Tücher zu gestalten. Ich habe mich dazu entschieden, die Entwürfe auf Seide umzusetzen. Die Entwürfe und die tiefe Wertschätzung für die Geschichte dahinter sollen durch dieses wertvolle und edle Material unterstützt werden. Ausserdem eigenet sich Seide mit ihrer Leichtigkeit und ihrem Glanz sowie ihrer isolierenden Wirkung sehr gut als Material für ein Tuch, das auch in den Sommermonaten getragen werden soll. Die Foulards sollen von Menschen, ungeachtet ihres Geschlechts oder Alters getragen werden. Denn ich finde es wichtig, dass insbesondere ein Produkt wie das Tuch, das über keine Eigenschaften verfügt, die es für bestimmte Menschen untragbar machen würde, nicht in gesellschaftliche Schubladen gelegt wird.

be longing Gestalterische BA - Arbeit 2020 Rebecca Frei

Mit diesem prozessorientierten Ansatz möchte ich erreichen, dass die vorliegenden Entwürfe den möglichen Erwartungsrahmen eines „an Indien inspirierten“ Tuches zu sprengen vermögen. Gerade deshalb, da Indien und das indische Textilhandwerk schon seit Jahrhunderten eine Inspirationsquelle für das Textildesign sind. Mir geht es nicht darum, eine andere Kultur darzustellen. Der Fokus liegt auf meiner, sich verändernden Wahrnehmung. Es geht um Annäherungsprozesse, um Zugehörigkeit und Heimat – textil behandelt am Beispiel meines Indienaufenthalts. Mit viel Wertschätzung probiere ich, die Vielfältigkeit dieses Prozesses aufzuzeigen. Getrieben vom Versuch, der Flüchtigkeit der Erinnerungen entgegenzutreten.

Mentorin: Franziska Born Hochschule Luzern – Design & Kunst Fachrichtung Textildesign


Prozess Motive Inspiriert von meinen Fotografien habe ich angefangen digitale Zeichnungen verschiedener Verkehrsteilnehmenden zu erstellen.

Hintergrund Um das Einnehmende, die Unübersichtlichkeit und die visuelle Überforderung darstellen zu können, probierte ich, durch die Gestaltung des Hintergrunds eine gewisse Sogwirkung zu erreichen.

new beginnings Ankommen an einem neuen Ort, wo die altbekannten Regeln und ungeschriebenen Gesetze nicht gelten. Dies kann Überforderung und Hilflosigkeit auslösen. Das Thema dieser Phase ist der Verkehr Ahmedabads. Diesen werde ich immer mit der einschüchternden Wirkung verbinden, den er auf mich ausübte, als ich zum ersten Mal mit dem Taxi in die Stadt hinein fuhr. Vorbei an hupenden Autos, Menschen, Hunden und Kühen. Verkehr ist für mich mit klaren Regeln verbunden. Doch in Ahmedabad musste ich komplett neue Verhaltensweisen erlernen um auf den Strassen zurechtzukommen. Charakteristik unübersichtlich dynamisch keine erkennbaren Regeln

Motive Verkehr Ahmedabads

Technik digitale Umsetzung

Kombinieren Abwägen der Farbigkeit, Verteilung und Wildheit – im Vergleich zu den anderen Entwürfen.


Prozess Motive Passend zu meinem Inspirationsthema pflückte ich Wiesenblumen, die ich anschliessend fotografierte. Kombinieren Ich stellte eine Blumenkonstellation zusammen, inspiriert an diesem Blockdruck aus Gujarat (Abb.1).

Abb. 1 Blockdruck aus Gujarat¹ Ausprobieren Um meinen Entwurf etwas näher an den Blockdruck anzulehnen entschied ich mich dazu, einerseits die Verteilung im Halbversatz zu wählen und andererseits die Motive zu überlagern und leicht verschoben zu platzieren. Es folgte eine lange Untersuchung zur Farb- und Randwahl.

missing home Der erste Schock und die erste Neugier sind vergangen. Plötzlich erstarkt die Sehnsucht nach dem Altbekannten. Nach bekannten Gesichtern, nach bekannten Geschmäckern, nach Geborgenheit. Die Phase des Heimwehs. Das Thema dieser Phase ist der Frühling, die damit verbundenen Düfte und Farben, die Leichtigkeit. Im aufregenden Leben im heissen Ahmedabad, wo ich stets auffiel durch meine helle Hautfarbe, sehnte ich mich nach Ruhe und einem Rückzugsort. Bestenfalls in Form einer weiten Frühlingswiese. Damit dieses Thema, das so Schweiz - fokussiert ist, nicht aus dem Rahmen fällt, habe ich mich dazu entschieden, mich für die Anordnung an einem Blockdruck aus Gujarat zu inspirieren. Charakteristik romantisiert träumerisch zurückhaltend überschaulich

Thema Frühlingsblumen Blockdruck

Technik Fotografie 1 Fotografie aus Buch: Indiennes. Material for a Thousand Stories, S. 33


Prozess Motive Angefangen hat die Arbeit an diesem Entwurf, in dem ich mich zeichnerisch mit den wichtigsten Zutaten von Chai-zeremonien befasst habe. Der Teepflanze, Ingwer und Kardamom sowie dem ChaiGlas, der Chai-Kanne und den Händen, die die Lebendigkeit bringen.

Ausprobieren In der ersten Version gestaltete ich den Entwurf vom Zentrum aus, doch die Ruhe und Symmetrie sind nicht perfekt für dieses Thema geeignet. Der Entwurf sollte interaktiver werden und mehr Dynamik entwickeln. Aus diesem Grund fügte ich einerseits die Hände hinzu und andererseits durchbrach ich den symmetrischen Aufbau.

new rituals Neue Rituale haben sich geformt, die den Alltag strukturieren. Eine positive Dynamik ist enstanden und die Hochs und Tiefs haben sich ausbalanciert. Es ist das wirkliche Ankommen, das Finden eines neuen Zuhauses. Als Thema für diese Phase habe ich Chai gewählt. Es ist das Getränk, das meinen Alltag in Indien von morgens bis abends prägte. Wir trafen uns zum Chai vor dem Unterrichtsbeginn, mitten drin, auch um 12 Uhr abends sassen wir noch mit Chai zusammen. Es waren diese kurzen Momente an denen man sich hinsetzte, neue Leute kennenlernte, oder sich Zeit nahm, um Tagebuch zu schreiben. Charakteristik verspielt floral

Motive Chai

Technik Zeichnung

Auch her stellte sich wieder die Frage nach dem Rand.


Prozess Motive Die Motivinspiration für diesen Entwurf entnahm ich meiner Sammlung indischer Zündholzschachteln, die ich während der Zeit in Ahmedabad und meiner anschliessenden Reise durch Nord(-ost)indien zusammengestellt habe.

Erstes Ausprobieren Ich liess mich von den Motiven inspirieren und begann sie zu kombinieren. Es sollte eine lebendige, fröhliche Matchbox-Welt entstehen.

street treasures Alles ist interessant. Das Zuhause weit weg. Man befindet sich wie in einer anderen Welt, wo alles farbig, lebendig und Neugierde-erweckend ist. Für mich war klar, dass ich zu dieser Phase mit den Motiven indischer Zündholzschachteln arbeiten möchte. Ich liess mich inspirieren von meiner eigenen Sammlung, die während meiner Zeit in Indien entstanden ist. Jede Zündholzschachtel habe ich auf der Strasse gefunden und aufgehoben. Sie verkörpern für mich diesen Blick von Aussen, geprägt durch Neugierde und Faszination, der Dinge zu sehen vermag, die für andere unsichtbar sind. Charakteristik black outline satte Farben verspielt

Motive Motive indischer Zündholzschachteln

Technik Zeichnung digitale Umsetzung

Anordnung Nachdem ich zuerst in kleinen Quadraten arbeitete, verband ich sie zu einem Ganzen und begann die Verteilung zu optimieren. Auch entschied ich mich zu einer Änderung der Farbkarte, wozu ich mich von der Farbigkeit des Matchbox-Motives „King“ inspirieren liess.


Prozess Motive Um mit der Gestaltung dieses Entwurfes zu beginnen, ging ich los um Rolltreppen zu fotografieren. Durch die Situation, ausgelöst durch Covid-19, hatte ich das Glück, sogar am Bahnhof eine leere Rolltreppe vorzufinden.

Erstes Ausprobieren Nachdem die Fotografien gemacht waren, begann ich, sie übereinanderzulegen.

letting go Ein abrupter Wechsel und plötzlich befindet man sich wieder zurück. Es fühlt sich an, als wäre die PauseTaste gedrückt, wie ein luftleerer Raum, geräusche-, und gefühllos. Nur die Tagträume, die Erinnerungen vermögen einen in diese andere Welt zurückversetzten. Zwischenwelten. Als Inspiration diente mir für diese Phase die Rolltreppe. Als ich zum ersten Mal in der Schweiz wieder auf einer Rolltreppe stand wurde ich intensiv mit dieser tiefen Traurigkeit und Bedeutungslosigkeit konfrontiert. Ich bewegte mich in die Höhe, ohne meine Beine anzuheben. Ich schwebte, reglos, gefühllos. Damit auch dieser Entwurf nicht aus dem Rahmen fallen würde, entschied ich mich, auch die Tagträume, verbildlicht durch die Affen, in den Entwurf einzubauen. Charakteristik dumpf still tief

Motive Rolltreppe Affen

Technik Fotografie Zeichnung

Es waren interessante Effekte erzielbar, jedoch realisierte ich schnell, dass die Kombinationen nicht zu dieser Phase passen. Die Kanten sind zu scharf, die Kontraste zu hoch, die Lichteffekte zu grell. Der Ausdruck ist nicht dumpf, nicht still. Aus diesem Grund begann ich, mit grösseren Fotografie-Ausschnitten zu arbeiten und die ganze Fläche dunkler und sanfter zu gestalten. Schliesslich zeichnete ich den Affen und die Palmblätter und setzte sie in die Fläche.


Prozess Motive Die Motivinspiration für diesen Entwurf kommt einerseits aus den vorhergehenden Entwürfen, als auch von meinen eigenen Fotografien. Dieser Entwurf soll die Reihe abrunden, weshalb ich einige bekannte Motive miteingebaute habe. Ich habe mir lange überlegt, wie die Reihe abgeschlossen werden soll und hatte lange Zeit einen Entwurf im Kopf zum Thema Unterwegssein mit den Erinnerungen. Ich merkte jedoch, dass es mir eine zu romantische und unnatürliche Schlussszene war. Ohne, dass es eine Abwertung sein soll, wurde mir klar, dass die Erinnerungen in den Hintergrund treten müssen. Denn es geht in diesem Bild um einen Aufbruch, einen Neuanfang. Darum, Frieden geschlossen zu haben mit dem Loslassen. Und dies ist nur möglich, wenn die Erinnerungen ihren Platz haben. Schrift „visit your memories“ – eine Aufforderung, dem Vergessen zu trotzen. Denn ob man will oder nicht, die Erinnerungen verändern sich, fangen an, sich aufzulösen, verlieren an Schärfe. Doch befasst man sich regelmässig mit ihnen, so werden sie bestenfalls bleiben – und sicher weniger schnell verblassen. Das Rot der Schrift soll einen Kontrast schaffen zu den restlichen Farben, sie verleiht der Farbkarte eine Frische und das gewisse Etwas. Die Schrift ist schnörkellos gehalten, um eine Verbindung zu schaffen zwischen der Farbstiftzeichnung und dem geometrischen, strukturlosen Hintergrund und Rand. Durch die Verteilung der Palmblätter ist die Schrift zwar nicht auf jeder Seite lesbar, jedoch im Ganzen verständlich.

living memories Die Phase, in der die Erinnerungen nur die Schwere des Verlusts vor Augen führen sind vorbei. Es ist etwas Distanz gewonnen und die Erinnerungen haben ihren Platz gefunden. Einen Ort, an dem sie wieder Farbe annehmen können. Es ist die Phase, in der ein neues Abenteuer beginnen kann. Ich habe mir viele Gedanken gemacht, wie ich diese letzte, hoffnungsvolle Phase darstellen möchte. Schlussendlich habe ich mich dazu entschieden, die Erinnerungen in einer Schatztruhe zu platzieren. Es ist die Anerkennung, dass die Erlebnisse nun Erinnerungen sind, und dass es gut ist so. Diese Phase steht für Akzeptanz, für Frieden und neue Offenheit. Charakteristik verspielt fröhlich

Motive Erinnerungen Motive aus vorhergehenden Entwürfen

Technik Farbstift

Anordnung Die Anordnung ergab sich bei diesem Entwurf relativ schnell, da mir wichtig war, mit grossen Motiven zu arbeiten. Weiter war mir wichtig, dass es kein Allover werden sollte, da durch das Schloss und den Schlüssel eine klare Richtung gegeben ist, die ich beibehalten wollte.


Fotoshooting Als Ort für das Shooting habe ich einen kleinen Bahnhof mitten in der Natur ausgewählt. Der Titel meiner Arbeit „be longing“ enthält die beiden Worte „Zugehörigkeit“ und „Sehnsucht“, die Grundthemen meiner Arbeit. Auch der Bahnhof ist ein Ort der Zugehörigkeit, der Heimat sowie ein Ort der Sehnsucht und des Traums der weiten Welt. Aus diesem Grund schien mir dieser Ort geeignet um die Tücher abrundend zu inszenieren.



Schriftliche Arbeit

Ausblick

In meiner schriftlichen BA-Arbeit befasste ich mich mit dem Diskurs um „kulturelle Aneignung“. Da ich mich in meiner gestalterischen Arbeit an meinen Erlebnissen in Indien zu meinen Designs inspirieren liess, war es mir wichtig, mich intensiv mit den Hintergründen und verschiedenen Aspekten des Diskurses um kulturelle Aneignung auseinanderzusetzen. Nicht nur für diese Arbeit, auch allgemein als angehende Textildesignerin möchte ich mich ernsthaft mit dieser Thematik auseinandersetzen und zu einem durchdachten und respektvollen Umgang mit der Inspiration am kulturell Anderen finden.

Nachdem ich die Tücher und Entwürfe in dieser starken Chronologie und ihrem inhaltlichen Zusammenhalt gestaltet habe möchte ich weiterdenken. Auch wenn sie für mich noch immer zusammengehören, sie zusammen diese Geschichte verbildlichen, so sollen sie auch als Einzelstücke funktionieren. Dies ist wichtig, denn auch wenn sie für mich diese tiefere Bedeutung haben, so sollen andere Menschen auch „nur“ die Designs, die Tücher an sich sehen können. Auch wenn dadurch eine Entkoppelung geschehen kann, so werden die einzelnen Tücher durch ihre Namengebung noch immer ein Stück Geschichte mit sich tragen und durch die Assoziationen der Träger*innen neue Bedeutungen erhalten können.

Die eingehende Auseinandersetzung mit der Thematik hat mehr Fragen aufgeworfen als sie beantwortet hat. Die Lage ist hoch komplex und jede Lösung scheint einseitig und zu simpel. Trotzdem gelang es mir, einige Richtlinien auszuarbeiten, die helfen könnten, dem Ziel einer respektvollen und nachhaltigen Nutzung von Exotik im Textildesign näherzukommen. Aufbauend auf diesen Richtlinien habe ich meine gestalterische Arbeit ausgeführt. Mit meiner Arbeit möchte ich zeigen, dass ein positiver Gebrauch von Inspiration am kulturell Anderen möglich ist. - Jede/r Designer*in sollte sich selbst vertieft mit dem Thema auseinandersetzen, um zu einer persönlichen Positionierung zu finden. Gerade in der heutigen Zeit ist eine ehrliche und kritische Auseinandersetzung mit dieser Thematik gefragt. Denn auch als Designer*innen haben wird die Möglichkeit mit unserer Designhaltung ein Zeichen zu setzten für Respekt und Wertschätzung im Umgang mit anderen Menschen. - Es ist dem Prozess nicht dienlich, Regeln aufzustellen, da diese zu einer passiven Haltung führen können und dem Denken nicht förderlich sind. - Die kulturellen Ausdrucksformen anderer Kulturen sollen so behandelt werden, als würde ihnen unter dem internationalen Recht der gleiche Schutz eingestanden, wie der kreativen Individualleistung. - Die Arbeit und die Art und Weise, wie die Inspiration verwendet wird, sollen keine stereotypen Vorstellungen von anderen Kulturen oder ethnischen Gruppen fördern. - Motive und Textilien, die in ihrer Kultur als heilig angesehen werden oder eine rituelle Bedeutung besitzen, sollen mit Respekt behandelt werden.

Für mich war es ein wichtiger Schritt, die Tücher zum Schluss noch losgelöst von ihrer Chronologie und Bedeutung als Foulards zu inszenieren. Sie sollen nicht nur Bedeutungsträger sein, sondern auch durch ihr individuelles Design bestechen können. Aus diesem Grund habe ich während des zweiten Teils des Fotoshootings ausprobiert, nicht die Geschichte, sondern die Tücher an sich zu inszenieren. Dies stellt für mich auch ein Ausblick dar, wie die Tücher in Zukunft präsentiert werden könnten.


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