Stiftung Schweizer Zentrum für Heil- und Sonderpädagogik (SZH) Bern Fondation Centre suisse de pédagogie spécialisée (CSPS) Berne Fondazione Centro svizzero di pedagogia specializzaza (CSPS) Berna Fundaziun Center svizzer da pedagogia speciala (CSPS) Berna
Umschlaggestaltung: iStock (Coverbild) und Isabelle Laugery (Grafik)
Layout: Weber Verlag AG
Lektorat: Edition SZH/CSPS
ISBN Print on demand: 978-3-907667-02-6
ISBN E-Book: 978-3-907667-01-9
Die Verantwortung für den Inhalt der Texte liegt bei der jeweiligen Autorin/beim jeweiligen Autor.
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2 Diagnostische Reisen bei Kindern und Jugendlichen
2.1 Eine Reise über zahlreiche Stationen oder eine Matrjoschka der Diagnosen
2.2 Zusätzliche Kilometer nach der Diagnose Lese- und Rechtschreibschwäche
2.3 Tics als Wegweiser zur Tourette-Diagnose
2.4 ADHS: eine Reise der Bewältigung und Entdeckung
2.5 Von Erziehungsschwierigkeiten zur Hippocampussklerose – eine Odyssee
2.6 Im Labyrinth der Fehldiagnose geistige Behinderung
2.7 Aus den tiefen Tälern eines Traumas hinauf
2.8
2.9 Störung des Sozialverhaltens und eine Reise ins Ungewisse
2.10 Der Weg in die soziale Phobie und zurück
3.1
3.2
3.3 Faktoren fachstellen-übergeordneter
3.4
3.5 Internale Faktoren der Eltern, Kinder und Jugendlichen
3.6 Zukunftsgedanken
I Vorwort
Während meiner beruflichen Laufbahn bin ich in verschiedenen Rollen mit Diagnosen psychischer Störungen in Berührung gekommen: als Forscherin im Bereich der Entwicklungsstörungen, als Entwicklerin von Intelligenz und Entwicklungstests, als Psychologin und nun als Professorin an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik (HfH). Dort stehen die Diagnostik und die Förderung von Kindern und Jugendlichen mit besonderen pädagogischen Bedürfnissen im Zentrum. Als Psychologin habe ich selbst Diagnosen gestellt. Ich habe erlebt, dass der Weg zu einer Diagnose schwierig und herausfordernd sein kann. Der Moment der Diagnosestellung kann unterschiedlichste Gefühle auslösen wie Erleichterung, Gleichgültigkeit, Besorgnis, Ablehnung oder auch eine Mischung aus allem. Zudem endet der Weg nicht mit der Diagnosestellung – Diagnosen können sowohl Brücken zu Ressourcen als auch Tore zu Vorurteilen sein.
Da ich kein Buch über diagnostische Reisen kannte, entstand die Idee für dieses Buchprojekt. Das Buch beleuchtet die Chancen und Risiken psychischer Diagnosen und erzählt die Reisen von zehn Kindern und Jugendlichen. Die anschliessenden Reflexionen mögen auf viele weitere Reisen zutreffen, auf andere vielleicht nicht. Das ist in Ordnung. Dieses Buch soll kein Ratgeber für den richtigen Umgang mit Diagnosen und Diagnostik sein. Vielmehr soll es für die damit verbundenen Herausforderungen sensibilisieren und mit einem besonderen Blick auf die Heilund Sonderpädagogik zum Nachdenken anregen.
Dieses Buch konnte nur durch die Unterstützung vieler Menschen verwirklicht werden. Ich danke den Eltern, die ihre Erlebnisse im Umgang mit den diagnostischen Reisen ihrer Kinder und Jugendlichen mit mir teilten, sowie den Fachpersonen, die von ihren Erfahrungen berichteten. Ein besonderer Dank gilt Jasmin Gygi, Sabine Oppliger und Liliana Tönnissen für den wertvollen fachlichen Austausch. Ein grosses Dankeschön geht an Barbara Fäh und Claudia Ziehbrunner von der HfH, die mir die Möglichkeit gaben, dieses Buchprojekt umzusetzen. Schliesslich danke ich Barbara Egloff, Tamara Carigiet Reinhard und Milena Gautschi der Stiftung Schweizer Zentrum für Heil- und Sonderpädagogik (SZH) für die hervorragende Zusammenarbeit.
Ich wünsche allen Kindern, Jugendlichen, Familien, Fachpersonen und Leser:innen auf ihren eigenen Reisen, ob diagnostisch oder nicht, viel Erfüllung und gangbare Wege.
Zürich, im August 2025
Prof. Dr. Priska Hagmann von Arx
Professorin für Lernprozesse und Lernentwicklung unter erschwerten Bedingungen
II Einleitung
Die Diagnosen von psychischen Störungen bei Kindern und Jugendlichen haben in den letzten Jahren zugenommen und stehen vermehrt im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit. Aktuell verfügbare Daten aus Deutschland zeigen (Steffen et al., 2018), dass im Jahr 2017 rund 28 Prozent aller Kinder und Jugendlichen die Diagnose einer psychischen Störung erhielten, darunter
• 1 974 249 Kinder und Jugendliche mit Entwicklungsstörungen,
• 1 307 290 mit Verhaltensstörungen und emotionalen Störungen,
• knapp 690 000 mit neurotischen, Belastungs und somatoformen Störungen,
• etwa 164 000 mit Persönlichkeits und Verhaltensstörungen sowie
• knapp 128 000 mit affektiven Störungen.
Ähnliche Zahlen finden sich für die Schweiz (Peter et al., 2022; Steinhausen et al., 1998; von Wyl et al., 2017) und für Österreich (Wagner et al., 2017). Hinter diesen Zahlen verbergen sich die individuellen diagnostischen Reisen von Kindern und Jugendlichen sowie ihren Familien.
Die Diagnose einer psychischen Störung ist komplex, da man sie sowohl als festgelegte Kategorie als auch als fortlaufenden Prozess versteht (Blaxter, 1978). Die Zuordnung eines psychischen Zustandes zu einer festgelegten Kategorie erfolgt im «diagnostischen Moment», wie Jutel (2014, S. 78) beschreibt. Der dazugehörige Prozess ist ein sensibler Vorgang, der von den beteiligten Personen, Institutionen und dem jeweiligen Kontext beeinflusst wird. Er beginnt, sobald bei Kindern und Jugendlichen erste Auffälligkeiten bemerkt werden, was lange vor der Einleitung einer formellen Diagnostik geschehen kann. Zudem dauert dieser Prozess weit über die Diagnosestellung hinaus an. Denn die Kinder und Jugendlichen, ihre Familien sowie weitere beteiligte Personen müssen mit den Konsequenzen umgehen, die aus der Diagnose resultieren (Jutel & Nettleton, 2011). Angesichts dieser Komplexität kann der Weg zur Diagnosestellung und darüber hinaus, wie auch in anderen Veröffentlichungen beschrieben (z. B. Jeske et al., 2024; Ryan, 2013), wahrlich als «diagnostische Reise» bezeichnet werden.
Diagnostische Reisen wurden hauptsächlich im Hinblick auf medizinische Diagnosen soziologisch erforscht (z. B. Jeske et al., 2024). Einzelne Beschreibungen von diagnostischen Reisen finden sich zu Autismus (Ryan, 2013; Zener,