"heilpädagogik aktuell", Frühjahr 2013, Nr. 8

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4 — Reportage

Im Spital ist die Schule Vom Recht auf Schule und der grossen Befriedigung der Lehrpersonen beim Unterrichten von kranken Kindern – eine Reportage im Kinderspital Zürich: im Rehabilitationszentrum, auf der Psychosomatisch-Psychiatrischen Therapiestation und im Akutspital.

Christine Loriol (Text) Thomas Burla (Fotos)

Drei Kinder sind an diesem Morgen da. Jedes sitzt an einem Pult, zusammen mit einer Frau, und arbeitet. Es ist ruhig, auch wenn gesprochen wird. Es sind zwei Schulzimmer, getrennt durch eine Faltwand, die an diesem Morgen offen steht: hell, freundlich, das üb­ liche Interieur. Schulmaterial, Arbeiten von Kindern, ein Schreibtisch mit Computer für die Lehrerin. Das Aussergewöhnliche zeigt sich an der Pinnwand neben der Türe: Dort hängt der Stundenplan der aktuellen Woche. Ein Stundenplan pro Kind! Und darin stehen nicht nur Schulstunden, sondern auch Phy­ siotherapie, Ergotherapie, Logopädie, Geh­ training, Sporttherapie, Neuropsychologie usw. – je nach dem. Das eine ist das Schulzimmer von Anita Dutler. Sie ist Klassenlehrerin Unterstufe im Rehabilitationszentrum des Kinderspitals Zürich in Affoltern am Albis, Primarlehrerin, Schulische Heilpädagogin (SHP) und seit 16 Jahren hier tätig. Wie später ihre Kollegin­ nen im Akutspital und in der Psychosoma­ tisch-Psychiatrischen Therapiestation sagt sie, für diese Art Lehrberuf sei eine Zusatzausbil­ dung als Schulische Heilpädagogin von gros­ sem Vorteil. Und wie ausnahmslos alle Kolle­ ginnen betont sie, wie gross die Zufriedenheit bei dieser Art Arbeit mit den Kindern sei, getragen von einem starken Gefühl von Sinn. Grosse Wertschätzung der Schule Rund 50 Kinder und Jugendliche werden im Rehabilitationszentrum von Lehrpersonen, pädagogischen Mitarbeiterinnen und Prak­ tikantinnen schulisch betreut. Als Teil des Rehabilitationsprogrammes wird der Schul­ unterricht individuell mit den verschiedenen Therapien abgestimmt. Deshalb werden von den Disponentinnen der Institution wö­ chentlich um 4’000 Termine für die unter­ schiedlichen Rehabilitationsaktivitäten der Schülerinnen und Schüler geplant. Unterrichtet werden Kinder bereits im Vorschulalter (bis Vierjährige in der heilpäda­ ­gogischen Früherziehung), im Schulalter im Kindergarten und auf Unter-, Mittel- und Oberstufenniveau sowie in zwei heilpädago­ gischen Förderklassen. Alle Kinder haben einen individuell abgestimmten Förderplan, und es finden Absprachen mit der Her­ kunftsschule statt. Schulleiter Richard Kiss­ ling: «Auch Kinder im Spital oder in einem Rehabilitationsprozess haben ein Recht auf Schule.» Für sie kann die Schule auch das Highlight des Tages sein, eine Struktur, die sie trägt und die etwas Normalität in den Spitalalltag bringt. «Dann sind sie Schülerin­ nen und Schüler – und nicht primär Patien­ ten», sagt Richard Kissling. «Die Schule ist ein Ort, an dem es darum geht, was sie (noch) können und wie sie eigene Ressourcen zum Wiederaufbau von Fehlendem oder zu Kom­ pensationsstrategien nutzen können.» Und die Schule ist auch der Ort, «an dem der Schmerz einmal Pause macht.» Die interdisziplinäre Zusammenarbeit ist intensiv, die Wertschätzung der Schule im Rehabilitationszentrum sehr gross. «Wir ha­ ben Zugang zu allen Informationen und ste­ hen in ständigem Austausch», sagt Klassen­ lehrerin Anita Dutler. Dies mache einen Teil ihrer beruflichen Zufriedenheit aus, «und

In der Schule im Rehabilitationszentrum des Kinderspitals Zürich in Affoltern am Albis: Schüler mit Klassenlehrerin Anita Dutler.

natürlich der Erfolg der Kinder! Man darf nicht vergessen, wie sehr die Kinder auch psychisch herausgefordert sind. Wenn ein Kind nach einem Unfall nicht mehr sprechen kann und fast daran verzweifelt, weil es weiss, dass es das einmal konnte, dann ist es schön und befreiend, wenn so ein Kind dann zum ersten Mal mit wenigen Sätzen wieder eine Geschichte erzählt!» Die Kinder bleiben zwischen ein paar Wochen und mehreren Monaten im Reha­ bilitationszentrum. Anita Dutler: «Wir wis­ sen, dass sie wieder gehen und freuen uns mit ihnen. Aber manchmal ist es auch gar nicht so einfach, ein Kind wieder ziehen zu lassen. Sie wachsen uns schon auch ans Herz.»

Etage ist der Wohnbereich mit persönlichen Zimmern und Gemeinschaftsräumen. Aufgenommen werden hier Kinder und Jugendliche, die an komplexen, oft lang­ dauernden pyschosomatischen Störungen (insbesondere Anorexie und Bulimie) oder anderen Krankheitsbildern leiden, welche

Heilpädagogik in der Psychosomatik

Anita Dutler, Lehrerin Unterstufe und SHP, ­ ehabilitationszentrum Affoltern R

Während die Schule im Rehabilitationszent­ rum Affoltern am Albis aussieht wie eine normale Schule, erinnert die Psychosoma­ tisch-Psychiatrische Therapiestation des Kinderspitals in der Stadt Zürich im Baustil ein bisschen an ein Ferienlagerhaus: ein von aussen schlichtes Gebäude, zweigeschossig, das einen Innenhof formt bzw. umfängt. Es hat diese freundliche, farbige, leichte Aus­ strahlung, die man von Häusern aus Nord­ europa kennt und auch diese gescheite Funk­ tionalität: im Parterre sind die Schulzimmer, Therapieräume und Büros, in der oberen

«Die inter­ disziplinäre ­Zusammenarbeit ist intensiv.»

durch ambulante Behandlungen nicht gebes­ sert werden konnten. Durch den regelmäs­ sigen Austausch von psychiatrischen, psy­ chologischen, heilpädagogischen und medi­ zinischen Perspektiven soll eine ganzheit­ liche Diagnostik und Therapie erreicht werden. Monika Kudelski ist Primarlehrerin und Schulische Heilpädagogin. Sie unterrichtet seit 22 Jahren in der Psychosomatisch-

Psychia­trischen Therapiestation: «Und ich lerne immer noch jeden Tag hinzu! Ich freue mich immer noch.» Drei Lehrpersonen ste­ hen zur Verfügung: ein weiterer Primarlehrer und Heilpädagoge sowie ein Oberstufenleh­ rer. In zwei Schulzimmern unterrichten sie alle Schulniveaus in Gruppen von sechs bis sieben Kindern mit jeweils individuellem Arbeitsplan. «Flexibel ist bei uns das grosse Wort», sagt Monika Kudelski, «das prägt un­ sere Arbeit.» Am Morgen stehen immer vier Lektionen Schulunterricht auf dem Pro­ gramm, an dem alle teilnehmen. Am Nach­ mittag finden verschiedene Gruppenarbeiten statt: von Gespräch über Entspannung bis zu Kunst-Ausdruck, Ergotherapie und Psycho­ motoriktherapie. Die Kinder und Jugendli­ chen – von Mittelstufe bis Gymnasium – sind im Durchschnitt drei Monate lang hier. «Wir versuchen einerseits, ihnen den An­ schluss an ihre Stammschule nach der Rück­ kehr zu ermöglichen. Und das gelingt meis­ tens. Andererseits hat die Schule hier ganz klar einen therapeutischen Auftrag.» Das heisst etwa: Alltagskonfrontation, Tagesstruktur, aber auch interdisziplinäre Information und genaue Beobachtung. Es geht u. a. auch um Schulangst, jegliche Arten von Essstörungen, selbstverletzendes Ver­ halten und somatoforme Störungen, d. h. ­körperliche Symptome, die anhaltend oder


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