heilpädagogik aktuell, Nr. 18, Sommer 2016

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6 — Reportage

Lernen, sich etw An der Tagessonderschule der Institution Vert.igo in Zürich machen Jugendliche den Schulabschluss, die aufgrund ihres Verhaltens überall sonst rausgefallen sind. Wie motiviert man sie dazu – und wie geht es danach weiter? Esther Banz (Interview) Thomas Burla (Fotos)

Im Zimmer von Miriam Schweizer lümmeln zwei Schüler auf ihren Stühlen rum, nennen wir sie Daniel* und Markus*. Eigentlich wären zwei weitere Jungs und drei Mädchen im Teenageralter in der Klasse, aber heute fehlen sie. Das ist eine Besonderheit von Vert.igo: Es sind kaum je alle Schülerinnen und Schüler anwesend. Die Schulleitung fordert das zwar, aber Unpünktlichkeit und Abwesenheit ist hier kein zwingender Grund für einen Schulverweis – warum, werden wir später erfahren. Die Jugendlichen kommen zu Vert.igo, um die Schule abzuschliessen. Hier, unmittelbar neben der Kläranlage, ist der letzte Ort, wo man ihnen überhaupt noch diese Chance gibt – und eine Perspektive: einen Beruf lernen, arbeiten, eine Zukunft haben in dieser Gesellschaft. Markus ist schon seit drei Jahren hier. Der dünne, auf den ersten Blick scheu wirkende Jüngling ist bereits achtzehn Jahre alt. Vor vier Jahren lebte er noch in Spanien, wo er die Regelschule besuchte. Sein Vater fand in Zürich Arbeit, darum ist die Familie – es gibt noch eine sechsjährige Schwester – in der Schweiz. Noch nicht lange da und mitten im Pubertieren, fing Markus an, mit seiner sexuellen Identität zu hadern. Gleichzeitig sollte er in der Schule den Anschluss finden, obwohl Deutsch für ihn so klang wie für seine Mitschüler Spanisch: fremd. Heute spricht er tadellos Schweizerdeutsch. Auf die Frage, wie er das so schnell gelernt habe, sagt er: «Ich war schon an vielen Orten, unter anderem im Heim.» Da wohnt er auch jetzt noch. In der Regelschule schickte man Markus ins Time-Out, weil er – so sagt er selber – «den Lehrern gegenüber respektlos war, die Hausaufgaben nicht machte und oft fehlte.» Bei Vert.igo nahm man ihn auf. Deren Leiter, Martin Guerra, erinnert sich an den ersten Tag des Schülers: «Er stellte sich ans Klavier und drückte auf den höchsten Ton. Lange und immer wieder. Es war, also ob er darauf wartete, dass sich jemand richtig fest aufregte und ihn anherrschte.» Sie hätten dann erstmal einfach nur darauf hingearbeitet, in Markus das Vertrauen zu wecken, dass sie ihn respektieren und er sich bei ihnen sicher fühlen kann. Mehr als drei Jahre Vert.igo ist eine lange Zeit, laut Guerra bleiben die meisten Jugendlichen zwischen einigen Monaten und zwei Jahren, aber Durchschnitt oder Norm sind nicht Parameter, auf die man hier setzt. Zu Miriam Schweizers Klasse gehört auch Irina*. Sie hatte ebenfalls eingewilligt, sich interviewen zu lassen, und die Schule versucht nun, sie zu motivieren, zu kommen. Eine Stunde später ist klar: Die 18-Jährige ist nicht hierher zu bewegen. Guerra: «Sie ist zurzeit oft abwesend. Die Situation zuhause ist komplex und angespannt, Irina leidet darunter. Wir erwarten zwar, dass sie zur Schule kommt. Aber Präsenz funktionierte bei ihr schon in der Regelschule nicht – das ist einer der Gründe, warum sie überhaupt hier ist. Was tun? Irina braucht weiterhin einen geschützten Rahmen, um den Übertritt in eine Berufsausbildung zu schaffen. Ihre Absenzen tun uns nicht weh und stören auch den

Jugendliche erhalten die Chance, einen Schulabschluss nachzuholen oder eine berufliche Anschlusslösung zu finden. Martin Guerra und Miriam Schweizer

«Was die Jugendlichen lernen müssen, ist für ihr eigenes Tun Verantwortung zu übernehmen.» Miriam Schweizer, Lehrerin

Betrieb nicht, wir reagieren aber – wie immer, bei allen – auf Absenzen und Verspätungen. Der Unterschied ist, dass wir diese in einen Kontext mit ihrer Geschichte setzen und darauf aufbauend entscheiden, wie zurückhaltend oder auch vehement wir intervenieren.» Die Jugendlichen, die hier zur Schule gehen, stehen vor dem Übertritt ins Arbeitsleben, das Finden eines passenden Anschlusses an die Schule hat oberste Priorität. Marc Ribaux, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Pädagogik bei Schulschwierigkeiten an der HfH, sagt: «Wenn der Einstieg in die Berufswelt nicht gelingt, wird die Integration in die Gesellschaft zunehmend schwieriger.

Deshalb ist es wichtig, dass es Schulen wie Vert.igo gibt: Sie geben Jugendlichen, die in der Regelschule zwischen Stuhl und Bank gefallen sind, nochmals eine Chance, ihren Platz in der Berufswelt und somit in der Gesellschaft zu finden.» An Vert.igo schätzt Ribaux unter anderem, dass man dort unkonventionelle Wege nicht scheut. Die Lehrerin und angehende schulische Heilpädagogin Miriam Schweizer geht mit Markus zu Beginn der Stunde dessen Planungsblätter durch – ein Werkzeug, das sie selber eingeführt hat: Für jeden Schultag gibt es ein vorgedrucktes Blatt, das der Schüler teils selbständig, teils mit ihr zusammen ausfüllt. Da geht es etwa darum, was er in den jeweiligen Stunden zu erledigen plant: tägliche Übungen, das Führen des Schultagebuchs oder das Nachdenken über sich und sein Verhalten. In der nächsten Stunde steht Mathematik auf dem Plan. Miriam Schweizer bereitet den Besuch vor: «Markus wird im Internet Musikvideos anschauen und dazu die Rechnungsaufgaben lösen. Ich staune selber, dass er sich so konzentrieren kann, aber er kann. Markus ist übrigens gut in Mathematik. Schaut selbst!» Tatsächlich: Während sich auf dem Bildschirm des Laptops junge Frauen verrenken – den Ton hört man nicht, weil

Markus Kopfhörer trägt –, blickt der Schüler immer wieder auf das Blatt, das vor ihm auf dem Tisch liegt, und schreibt Lösungen zu Rechenaufgaben hin. Im Versteckten schielt er gelegentlich aufs Handy. Multitasking vom Feinsten. Es gibt eine Verwarnung. «Das Handy gehört zu ihrem Leben, wir wollen es nicht gänzlich verbieten», sagt Schweizer, «aber sie sollen lernen, damit umzugehen.» Handy-Auseinandersetzungen gibt es heutzutage in jeder Schulklasse. Der Unterschied ist: Im Vert.igo gibt es praktisch kein Druckmittel. Miriam Schweizer: «Die Jugendlichen wissen ja bereits, dass Erwachsene zornig werden, wenn sie sich ihnen gegenüber verweigern, Befehle nicht befolgen. So kommen wir also nicht weiter, das wissen wir beide. Wir setzen deshalb anderswo an. Was Schülerinnen und Schüler lernen müssen, ist für ihr eigenes Tun Verantwortung zu übernehmen.» Verwarnungen, so scheint es, lassen sich aber auch hier nicht vermeiden. Die Jugendlichen bei Vert.igo mussten in ihrem bisherigen Leben bereits einiges ein- und wegstecken. Viele würden von sich aus erzählen, sagt Schweizer, «Trauriges, Erschreckendes, ohnmächtig Machendes. Die Geschichten zu kennen, könne wichtig sein, sagt sie, beispielsweise wenn einer zuhause grosse Schwierigkeiten habe, «dann frage ich


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