heilpädagogik aktuell, Nr. 18, Sommer 2016

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heilpädagogik aktuell — Sommer 2016

beseitigt, der Förderbedarf möglichst erfüllt, eine erfolgreiche Schullaufbahn durchlaufen wird. Lehrpersonen stehen unter Druck mit der Erwartung nach Integration von Schülern mit besonderem Förderbedarf, und dies in zum Teil grossen Klassen. Kinder sind generell nicht angepasster geworden, sondern werden zu Jugendlichen erzogen, deren Individualität zur Entfaltung kommen soll. Überall dort, wo diesen Ansprüchen mit genügenden und kompetenten Ressourcen begegnet werden kann, scheinen gute Lösungen zu gelingen. Dort, wo Therapie den einzigen Ausweg aus dem Förderdruck verspricht, wird dieser Weg auch genutzt. Wenn dann die Steuerung fehlt, kann es zu ausufernden Systemen führen. Von einem «Wahn» zu sprechen, ist aber übertrieben. Der Ausdruck wurde im Zusammenhang mit einer Untersuchung zur Quote der Therapiemassnahmen in der Stadt Zürich angewendet. Nicht beachtet wurde dabei, dass die genannte Quote auch die Anzahl Kinder in «Deutsch als Zweitsprache» enthielt, was keine Therapie darstellt. Die integrative Schulung von Kindern mit besonderem Förderbedarf hat das heilpädagogische Feld deutlich verändert. Welche Entwicklungen lassen sich beobachten? Strasser:Tatsächlich hat die integrative Schulung das Feld der Heilpädagogik, aber auch der Regelpädagogik sehr verändert. Heilpädagoginnen und Heilpädagogen haben in integrativen Settings eine komplexe Rolle zu bewältigen: Sie arbeiten oft im Teamteaching oder aber in der Form des Förderzentrums, wenn sie Schüler aus verschiedenen Klassen betreuen. Die Zusammenarbeit mit den Regelklassen-Lehrkräften ist in diesen Formen zwingend notwendig. Die Quote der Schüler mit integrativer Sonderschulung hat in einzelnen Kantonen stark zugenommen. Es handelt sich vermutlich um diejenigen Lernenden, die früher in Kleinklassen als eher anspruchsvoll galten. An den Sonderschulen ist die Tätigkeit eher gleich geblieben. Einige Schülerinnen und Schüler werden nun in der Regelschule integriert. Abgenommen hat darum die Anzahl der Zuweisungen bei Schuleintritt. Allerdings gibt es Schülerinnen und Schüler, die nach Integrationsversuchen beim Übergang in die Mittel- oder Sekundarstufe

Wissenschaft und Praxis Prof. Dr. Urs Strasser absolvierte die Primarlehrerausbildung, das Heilpädagogische Seminar Zürich (HPS) und studierte Pädagogik und Sonderpädagogik an der Universität Zürich. Nach einigen Jahren in der Praxis, unter anderem als Sonderschullehrer und in der Ausbildung von Fachpersonen, wurde er Dozent und Leiter der Abteilung Geistigbehindertenpädagogik am HPS. Seit 2002 ist Prof. Dr. Urs Strasser Rektor der HfH, im Sommer 2016 tritt er von diesem Amt zurück. Dr. Alois Bigger lehrt seit 2002 als Dozent im Schwerpunkt Pädagogik für Menschen mit geistiger Behinderung im Masterstudiengang Schulische Heilpädagogik. Seine Schwerpunkte setzte er unter anderem in Entwicklungspsychologie und in der Förderdiagnostik. Strasser und Bigger haben vielbeachtete Publikationen zu Themen der Heil- und Sonderpädagogik veröffentlicht.

Die Pädagogik für Menschen mit geistiger Behinderung, immer ein wichtiges Thema für Prof. Dr. Urs Strasser und Dr. Alois Bigger.

zur Sonderschule wechseln. Zunehmend fallen scheinbar auch Schüler mit schwierigem Verhalten im Vorschul- und Kindergartenalter auf. Welche Trends werden die Heilpädagogik in naher Zukunft noch stärker beschäftigen bzw. worauf sollte man sich als Heilpädagoge, als Heilpädagogin vorbereiten? Bigger: Auf den Wunsch nach dem idealen und optimalen Menschen. Wir wollen sozusagen einen Einheitsmenschen ohne Fehl und Tadel. Wir wollen jede Abweichung entweder wegtherapieren oder gar verhindern. Nicht die Lebensqualität, nicht die optimale Partizipation mit den individuell vorhandenen Möglichkeiten ist das Ziel. Vielmehr geht es um maximale Leistung und zwar absolut, nicht relativ. Heilpädagogik wird hier immer wieder versuchen müssen, Gegensteuer zu geben. Strasser: Ich bin überzeugt davon, dass die vierte digitale Revolution viele Entwicklungen mit sich bringen wird, aus denen Menschen mit Behinderungen, aber auch Heilpädagoginnen und Therapeuten oder Dozentinnen und Dozenten einen grossen Nutzen ziehen können. Die HfH wurde 2001 gegründet, als Nachfolgerin des Heilpädagogischen Seminars. Der Übergang brachte eine Akademisierung der Ausbildung mit sich. Inwiefern hat das der Heilpädagogik gut getan? Bigger: Unsere Studierenden werden besser ausgebildet in differenzierter Diagnostik. Sie können ihre Arbeit auch besser theoretisch begründen. Die Ausbildung muss aber nach wie vor den Einbezug versierter Praktiker und Praktikerinnen gewährleisten. Strasser: Ich habe den Eindruck, dass die Ausbildung generell viel weniger auf die persönlichen Erfahrungen der Dozierenden abstellt, sondern mehr auf valide Erkenntnisse aus Forschung und Wissenschaft. So hat die Auseinandersetzung mit der Wirkungsfrage und Evidenzbasierung doch einen grossen Schub an Versachlichung bei der Beurteilung heilpädagogischer Methoden gebracht. Ein wichtiger Faktor sind auch die Bachelor- und

Masterarbeiten. Ich besuche hin und wieder die Präsentationen, an denen die Studierenden ihre Projekte vorstellen. Dabei staune ich manchmal über das Niveau, das sie erreichen. Auch wenn sie bei ihren Arbeiten überwiegend qualitative Methoden einsetzen, sind diese oft von hoher Relevanz und zeichnen sich durch grosse Nähe zur Praxis aus. Welche Erlebnisse an der HfH und im heilpädagogischen Feld haben Euch im Laufe der Jahre besonders gefreut? Bigger: Dass so viele Personen, jung und alt, sich so engagiert in die Ausbildung stürzen und sich vor allem als Person in ihre Arbeit mit den Schülern und Schülerinnen eingeben. Strasser: Extrem gefreut haben mich in meiner ganzen Zeit als Rektor die Diplomfeiern mit ihrem Einbezug von Kulturschaffenden und Angehörigen. Es waren immer ganz speziell tolle Anlässe von hoher Kultur! Eine Freude waren mir natürlich auch die guten Rückmeldungen, die wir für die Arbeit der HfH in der Regel erhalten. Was macht Heilpädagogik als Profession und als Wissenschaft unverzichtbar? Strasser: Ich bin überzeugt, dass weder die Bemühungen um Inklusion und Integration noch andere gesellschaftliche Tendenzen alle Behinderungen und Probleme in menschlichen Entwicklungsverläufen zum Verschwinden bringen werden. Mitunter werden sogar neue auftauchen. Lernen, Erleben und Handeln bleiben Phänomene, die sich durch hohe Individualität auszeichnen. Gesellschaft und Schule werden daher weiterhin Bedarf nach einem Supportsystem haben – und das war bis heute die Heilpädagogik. Bigger: Mit Hilfe einer wissenschaftlichen und professionellen Heilpädagogik kommen heilpädagogisch Tätige eher zu einer Haltung gegenüber Menschen mit Behinderung, die weder von Mitleid noch von Abwertung geprägt ist – stattdessen von Respekt und Anerkennung. Wissenschaftlichkeit und Professionalität verschaffen der Heilpädagogik zudem eine öffentliche Anerkennung. Ohne diese Profession und Wissenschaft wären Menschen mit Behinderung eventuell immer

«Tatsächlich hat die integrative Schulung das Feld der Heilpädagogik, aber auch der Regelpädagogik sehr verändert.» Prof. Dr. Urs Strasser

noch auf die Caritas, auf Nächstenliebe und Wohltätigkeit angewiesen. Was wünscht Ihr der HfH für die kommenden Jahre? Bigger: Eine Ausbildungsstätte zu bleiben, die Menschen mit Beeinträchtigung in den Mittelpunkt rückt – und auch, dass sie vermehrt auf die Männer zugeht. Im Moment steigen noch zu wenige in die Heilpädagogik ein. Die HfH sollte ihnen stärker die Vorzüge und die Bedeutung des heilpädagogischen Berufs aufzeigen. Strasser: Ich wünsche der HfH weiterhin ein blühendes Dasein! Dass sie ihre Kompetenzen weiter ausbauen und wirkungsvoll umsetzen kann. Ausserdem wünsche ich ihr, dass sie ihr Profil weiter schärft, sich nicht auf ihrer Monopolstellung ausruht, und auch betroffene Menschen noch mehr in ihre Tätigkeit einbezieht. Dr. Monika T. Wicki ist wissenschaftliche Mitarbeiterin mit besonderen Aufgaben im Bereich Forschung und Entwicklung an der HfH. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind unter anderem Erwachsene und alte Menschen mit Behinderung.


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