Master Thesis von Lara Caluori, MA Art Education, Hochschule der Künste Bern, 2022

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aspettiamo l‘acqua


Masterthesis Lara Caluori 2022


Inhalt Recherche Theorie: Wind, Wildwuchs und Relationen im leeren Stauseebecken windig intraagierend wildwüchsig der Feral Atlas als Beispiel die Contra-Talsperre als Sprengkörper die Entitäten als Wildwuchs agentiell forschend-vermittelnd Epilog: Regen Literatur Abbildungen



Die folgenden Abbildungen stammen aus meinem Rechercheprozess. Es handelt sich sowohl Internetbilder und Scans aus Fachpublikationen als auch um eigens produzierte Bilder. Ich behandle diese Abbildungen als assoziative Recherche und Dokumentation und führe keine Bildnachweise aus.
















TENERO FRACCIA, 5.4.22 Ich erkunde zum ersten Mal das Dorf Vogorno. Irre durch das Dorf, das steile, den Flechten nach. Alles ist voller Verzasca-Gneis und Flechten und Wellblech –altes und neues. Sehr viel Wellblech. Das Dorf scheint aus den alten Steinen und Fiberglass zu bestehen. Mauereidechsen wohin das Auge reicht. Sie räkeln sich auf den sonnengewärmten Steinen. Die Flechten wie Hautirritationen, wie Pigmentflecken, wie Muttermale auf den Dachziegeln, Schieferdächern, Wellblechen. Die Gassen sind so eng, dass kaum zwei Personen aneinander vorbeigehen können. Steile Treppenstufen führen durch die verwinkelten Gassen. Viele Häuser scheinen leer, ihre bewohnenden Feriengäst*innen hausen wohl gerade anderswo. Vendesi wohin das Auge reicht. Trotz zerfallender Rustici und im Winde wehende Plastikplanen, welche einstürzende Dächer bedecken, wirkt der obere Dorfkern intakt, kompakt, belebt. Als würden sich die Häuser eng zusammenschmiegen, umarmen, nahe beieinanderstehen wollen, um gemeinsam in die graue Tiefe zu blicken. Das einstige und eigentlich präsente Ufer des Stausees bildet gerade eine sichtbare Grenze; oben blühendes Leben wo die warmen Sonnenstrahlen die Häuser einige Stunden am Tag mit Wärme bescheinen, unterhalb dieser horizontalen Linie eine graue Wüste.


Überreste von alten Baumstämme und vor allem: viel Schlamm. Fango, Sediment, Staub. Mauereidechsen gab es bei meinem letzten Besuch noch nicht, kamen erst kürzlich aus der Kältestarre, wieder aufgewacht aus dem Winterschlaf um sich in der Frühlingssonne zu wärmen. é brutto adesso, il fango. un villaggio tranquillo un villaggio coperto dalla polvere del passato ein dorf, bedeckt mit dem Staub der Vergangenheit. Die Sedimente werden vom Wind fortgetragen. dem Staub nachgehen, dem Wind und den Sedimenten. vendesi-schilder, Anzeigen für Neues, Hoffnung in die Zukunft stecken Die Tragetasche, das fein geflochtetene Netz aus menschlichen Haaren, Flaschenkürbisse, eine Muschel, eine Schlinge, ein Sack, eine Schachtel – Geschichten in einen Beutel packen








VOGORNO, 5.4.22 Posso domandare qualcosa? Si, ma qui fa freddo – andiamo al sole. Siete cresciuto qui à vogorno? No, sono da frasco, ma il mio marito é nato qui. Com‘é per voi vivere con il lago vuoto? é brutto! adesso e veramente brutto, (hält ihre nase zu), perché non é sabbia, é fango – malma! é meglio quando il lago e pieno. Adesso c‘é niente, si é pieno c‘é alberi, é bello. C‘era una parte dell villagio sotto, no? Si! C‘era una posta, qualche case, un ristorante... Ah si? C‘era un ristorante? Si - sono persone chi hanno adesso il ristorante al lago a berzona. Allora, grazie Signora ed una buona serata!


VOGORNO, 5.4.22 Ich gehe in den Gassen umher, in den engen Gssen der linken Hälfte des oberen Dorfes. Da erblickt mich plötzlich eine alte Frau. Sie trägt eine schwarze Schürze, Strümpfe, Zoccheli, beige Wollsocken& einen beigen Woll- und Kashmerepullover. Ich sage freundlich „buongiorno signora“. Sie blickt mich an und sagt: „Biongiorno – ho gia visto voi!“ – ich habe sie schon mal gesehen! Ich sage: potrebbe la mia mamma –i miei genitori hanno una casa a tenero fraccia, potrebbe voi conoscheta la mia mamma –(sie spricht so schnell, ich komme fast nicht mehr nach) potrebbe voi avete una faccia conosciuta. Sind sie hier aufgewachsen? Si, sono cresciuto qui! aber sie ist aus dem oberen Teil des Dorfes. Sie fragt mich, ob ich runtergestiegen bin. Ich bejahe etwas zögerlich, unsicher, ob sie es gutheisst. Sie sagt, fate attenzione! Es ist gefährlich, da unten sei ein Mann im Fango steckengeblieben und die Rega musste ihn holen. Ich frage sie, wie es für sie ist, nun mit dem leeren See – brutto, meint sie. Hatte es da noch alte Häuser unten? In Vogorno Pioda? Si, si! Sagt sie ganz aufgeregt. Da unten –Li –vedi! Ah, man sieht es nicht gut von hier, sagt sie. Sie steht auf der Treppe und zeigt mit der Hand auf das graue Loch, das Flussbett.


DA! DA stand die Post, die Häuser etc. (sie kommt in Fahrt, sagt –komm mit, von unten sieht man es besser. Sie eilt ganz aufgeregt die Steintreppen hinunter, bis wir auf die graue Fläche des Seegrundes blicken. Da (sie zeigt mit dem Arm in die Ferne). Da stand die alte Post, mehrere Häuser, da standen die zwei Restaurants. (Ich wünschte, ich hätte ihre Handbewegungen irgendwie zeichnen/aufzeichnen/filmen können). Haben sie noch Fotos von früher? Non, é pecato, leider, leider nicht. Was waren Sie früher von Beruf? Ho lavorato come postina. si, si, primo nella posta sotto e po un po piu sopra, ma adesso non c‘é una posta piu qui, c‘éra una a brione, ma adesso dobbiamo andare a tenero. habe versucht, nach noch mehr details zu fragen, aber sie hat nicht so genau beschrieben. ma dovete domandare soldati bruno da gordola. Das sei ein alter Professor, der mit Gruppen Führungen macht und Informationen zum Tal erzählt. Ich solle doch den fragen. Er würde bestimmt für mich eine Führung machen. (Schon wieder richtet sie ihre Aufmerksamkeit auf einen Mann, dabei interessiere ich mich doch für ihre Geschichten).


Wo wohnen Sie? Sie zeigt auf ein grosses, eher neues Haus am Hang. „Hier, in diesem grossen Haus, es gibt viel zu tun. Wer hat diese beiden Restaurants unten in Pioda geführt? Carmen Berresini. L. Berri –Namen tauchen auf, ich kann kaum unterscheiden, was ein Name und was sonst ein Substantiv ist –Sprachprobleme. Sie nennt ganz viele Namen, ich komme nicht mehr nach. Brauche ganz klar eine Übersetzerin hierfür. Wo sind denn alle diese Menschen hin nach der Flutung? Quasi tutti sono andato à Gordola! Ma le persone della osteria hanno adesso il ristorante al Lago. Aber das seien die Kinder, die alte Frau sei bereits gestorbe! Sie erzählte, dass es das schlimmste sei, dass kein Regen kommt und den Stausee füllt. Perche c‘é tanto fango, Puderstrukturen, die mit dem vielen Wind durch das Tal getragen werden. Sich verflüchtigendes Sediment. Alles sei voll mit diesem Staub.




VOGORNO, ST. ANTONIO, AM HANG, 6.4.22 am Abgrund sitzen. auf festem Grund, aber neben mir gehts steil runter. ich höre die Rinnsaale, die Bäche, die von den Seitentälern in die Verzasca fliessen, den Fluss zum See, wieder zum See machen sollen. es war mal ein Fluss ein enges, steiles Tal viel Gneis, Forstwald, Rebberge nun ist es ein entblösster Pool. der Grund wird sichtbar, und er imponiert. vor allem imponiert er den Tourist*innen. mir auch. bin auch Touristin. will mehr als das Spektakel. ich sitze hier, die Vögel zwitschern, aber es scheint, als würden sie lügen. wie gehen wohl die Vögel mit diesem Schlammseebett um? imponieren. die Brutalität des menschlichen Eingriffes in das Ökosystem Fluss/ Tal ist so direkt spürbar hier. vermischt mit einer Prise Höhenangst. hier sitzen und diese Imposanz aushalten. von oben höre ich die Autos von heute, 5o m unter mir sehe ich die alte Kantonsstrasse, wo Vieh und Wägen und Füsse entlanggingen und gezogen wurden. Kann mir google earth mehr über den alten Strassenverlauf sagen?


Hier spielt sich Normalität ein. bin den 3. Tag hier, der Ort wird nicht weniger imposant, aber das Spektakel nimmt ab. Alles ist anders mit der Diga. Die Leerung des Stausees lässt mich auf die brachiale Oberfläche, den Seegrund blicken. während ich hier sitze, schreibe, den Geräuschen lausche, stürzt immer wieder Fels runter ins Tal. kein fester Grund –Schotter, Ausrutschgefahr, der feste Grund hält dich nicht. woran halte ich mich fest –löst dies die Angst aus? Wieso hat mir nie jemand erzählt, dass unten im See verborgen alte Brücken sichtbar sind, dass Mara Desi da unten in der alten Post Briefe und Pakete in Empfang genommen hat? Dass Wirt*innen da ihre Gäste empfangen haben? Ich war so oft hier hinten als Kind, bin es immer noch, für die Freizeit, weil es so schön ist, dieser geschichtete Gneis, das kristallklare blaugrüne, eiskalte Wasser der Verzasca –das alle Tourist*innen anlockt. Der Stausee war immer omnipräsent –nie aber Mittelpunkt der Gespräche, der Diskussionen. Die Gefahr lauerte immer, wenn der Wasserspiegel beim Baden sich hebt oder senkt, schnell raus aus dem Wasser. das künstliche Gewässer hat andere Launen. Heute ist kein Badewetter.


aus dem Fluss wird ein See. aus dem Seewasser wird Elektrizität. Aus dem Fluss werden Sedimente abgetragen, die Subsurface verändert sich, Sedimentschlamm wird in den vorderen Bereich des Flusses getragen. Eine sich transformierende subsurface, eine ständige Bewegung. wovor habe ich Angst, wenn ich diese graue Schlammoberfläche anblicke, die sich unter mir entblösst? hier sitzen und wissen, ich könnte. fallen. tief fallen. ausrutschen, abrutschen, auf instabilem untergrund. adrenalin schiesst durch meinen körper. bloss vom möglichen freien Fall.


ich sitze hier still. will noch nicht sprechen. was ist denn meine Aufgabe hier? was mache ich hier bloss? ich versuche alles zu rekonstruieren, zu verstehen, zu merken, dass ich gar nicht alles verstehen kann, will. Dass alle Namen und Spuren vom Ereignis wegführen, deren Auswirkungen sind. Eva Horn unterscheidet in Zukunft als Katastrophe zwischen der Katastrophe als Ereignis und der Katastrophe als Jetzt-Zustand, als Kontinuität, als den Modus des Jetzt. ich suche altes Kartenmaterial des Tals Wo verlief die Strasse? sitze hier und die Rega fliegt an mir vorbei. Ist wohl wieder jemensch runtergeklettert und kommt nicht mehr hoch.








VOGORNO, IM SEEBECKEN, 6.4.22 eine Stufe tiefer sitzen. alles ist anders als oben. der Boden gleitet unter den Füssen weg. bin inmitten der grauen steinschlammwüste. sitze da, wo sonst eigentlich wasser ist. quasi unter wasser gerade. nur weils gerade jetzt ist, bin nicht nicht unter wasser. helikopterstress. fliegen über die Köpfe hinweg. viele Menschen wollen das hier sehen. kleine Pflanzen und Blumen wachsen neben mir. Wo Wasser aus den Seitentälern ins Flussbett gelangt, sind die Böden grün. vielleicht können hier über den Sommer wieder Pflanzen wachsen. helikopterstress. was wenn was runterfällt? es ist so laut. bloss weg hier. ich nähere mich dem Ort mit Fragen: Wie schreiben sich anthropogene Eingriffe in Materialien ein und wie konstituieren diese das Verzascatal? Wie hängen die Flechten, der Gneis, das leere Flussbett, die Geschichten zu Vogorno, die Mythen zusammen und wie kann ich diesen Ort fassen? Ein Speicherort Wir haben unterschiedliche Zeitspuren, die alle im Präsens des Ortes aufgefangen werden.





VOGORNO, 7.4.22 7:32 –Morgenessen im Hotel Pizzo Vogorno. viel bessere Stimmung als gestern. Yvonne, die Wirtin nimmts zwar etwas zu genau und übertrieben mit der Gastfreundschaft, aber sie ist ganz nett und die Stimmung angenehm. gestern Abend hab ich mich hier nicht wohl gefühlt –sehr beobachtet. nur Männer waren anwesend, am Arbeiten sowie am Konsumieren. alle verdrücken riesige Cordonbleus. Stundenlang klopfte Marzio Quadri die Schnitzel. Hotelgäst*innen: ein französischsprechendes Paar, ein kleiner, kompakter Trekkingrucksack, Wandersandalen. eine Person mit weiss, pastell-frühlingshaft geblumten Hosen. sie sprechen leise, kann die Sprache nicht erkennen. andere Person ziemlich in schwarz. Mutter und Sohn am Ecktisch unter den aufgeklebten Vögeln. Sprechen wohl italienisch. gehen zusammen raus und rauchen eine Zigarette. hinter mir sitzen noch einige Männer, das Restaurant ist wohl ein Treffpunkt für Menschen – vor allem Männer – aus dem Tal.


gestern war ich ziemlich für mich. habe kaum mit Menschen gesprochen. mir war der ganze Tag schwindelig. wohl, weil ich so viel in die Steinwüste runtergeblickt habe, da können die Augen kaum eine Dreidimensionalität herstellen. Oder ist es doch einfach die Höhenangst? war auch wichtig. ein ruhiger Tag, im Tal verbringen, mit der Diga einschlafen und mit der Diga aufwachen. abends lange im Ristorante sitzen und zeichnen. die Wirtin. leicht aufgesetztes Wirtinnendasein. die Stimme, wenn mit den Gäst*innen sprechend, erhoben, leicht nervös, überfreundlich. der Wirt. Socken und Sandalen. eine Schürze. etwas gerötetes Gesicht. sehr wirtig, ist um das Wohl seiner Gäst*innen bemüht, fragt mehrmals nach. Die Spezialität des Hauses sind wohl die riesigen Cordonbleus, die er den Männertischen voller Stolz austeilt. Extra Pommes aus der Glasschale auf Porzellanteller mit grossem Löffel dazu. er sei berühmt für seine Cordonbleus. zu ihm kämen vor allem ticinesi, meint der Wirt im Pizzo Vogorno.


VOGORNO, 7.4.22 (kurzes Gespräch mit Yvonne Madri, der Wirtin). Wie war es für Sie, diesen Winter hier zu sein mit dem leeren See? „Oh – der Februar war ganz schlimm. So viele Menschen kamen hierhin, weil eine Medienmitteilung in der Deutschschweiz gemacht wurde. Wir hatten geschlossen, aber der Parkplatz war übervoll – alle kamen hierhin und wollten den leeren See sehen. Aber nun ist es besser, es ist ruhiger, aber immernoch kommen Menschen für den leeren See hierhin.“ Denken Sie denn, der See wird bald wieder gefüllt? Ja, also in 10 Tagen ca. sollten sie fertig sein mit den Bauarbeiten, dann wird er wieder gefüllt, aber das Wasser reicht nicht um den See zu füllen. Es müsste wahrscheinlich ca. 10 Tage stark regnen, dann wäre der See wieder gefüllt, aber wirklich stark. Und der Schnee fehlt auch. Normalerweise hat es hier schon ziemlich viel Schnee.


Es wäre schon sehr schwierig, wenn der See nicht mehr gefüllt werden würde. Alles ist voller Schlamm und Staub. Der Wind trägt den Staub (la sabbia sagt sie), überall hin, unsere Tische waren voll. Seit zwei Jahren windet es hier im Tal so stark, vorher gab es hier quasi kaum Wind. Wir mussten das Dach neu machen, wie auch ganz viele hier im Dorf. Die Dächer mussten dem Wind standhalten. Sogar die Platanen und die anderen Bäume gerieten richtig vom Wind ins Schwanken, ich hatte einige Male richtig Angst. Wir merken hier die Veränderung des Klimas richtig stark.




BERZONA, 7.4.22 Blick runter in den vorderen Teil des leeren Seebeckens. Drei alte Mensche sitzen vor mir, sprechen über die Haut von Orangen und Clementinen. Clementinen, Orangen –Blutorangen oder blonde Orangen –in Kombination mit der grauen Landschaft hier.



VOGORNO, 8.4.22 Schon wieder bin ich hier unten. in diesem quasi nicht existierenden Raum. In dieser Steinschlammwüste, die immernoch so eindrucksvoll ist. Dies ist nun der dritte Tag, das 6. Mal dass ich hier unten bin. immer an der fast gleichen Stelle, weiter entlang der Kantonsstrasse zu gehen traue ich mich nicht, die Strasse ist ungeschützt und steil abfallend. sitze hier auf einem stück gneis. der eigentlich unter wasser ist. nun aber gerade nicht. sitze hier, blicke auf die Diga. blicke auf die Furchen, die der Fluss, der See in die Landschaft macht. ein Flussund Talverlauf, der sich vor vielen Jahrtausenden gebildet hatte. doch dieser Talverlauf war nun für über 50 Jahre nicht sichtbar, befand sich am Seegrund, die feine Form, die die Verzasca in das Tal zeichnet, wurde durch den aufgefüllten See in den Untergrund versetzt. doch was ich hier jetzt sehe, ist ja nicht einfach das, was vor über 50 Jahren zu sehen war. da hatten die Hänge noch ein grünes Antlitz. alles, was grün war, ist nun grau. stimmt nicht, davor waren auch schon Teile grau. was ich hier sehe, existiert eigentlich gar nicht.


ich würde wohl Karten des alten Flussbetts finden, da eine Linie nacheichnen können. aber diese Linie hatte sich in den letzten 50 Jahren verändert. Sediment, Gestein, Schlamm, Schutt wird vom Wasser des weiter hinten verlaufenden Flusses Verzasca ständig nach vorne getragen. irgendwann werden wir mal keine Bergflüsse oder Bergseen mehr haben, alles wird mit Sedimenten aufgehäuft sein, hab ich gehört. diese veränderte Landmasse, das transformierte Flussbett durch die transportierten Sedimente wird wohl also nicht festgehalten. die Topographie dieses gefurchten Tals mit den veränderten Formen wird wohl nicht vermessen, als Kartenmaterial freigegeben, ergo nicht faktisch sichtbar, lesbar auf einer Karte oder in Daten, Koordinaten, Höhenlinien. weil es ja nur ein intermezzo ist. un intermezzo con il lago vuoto. die auskragenden Talzungen sehen aus wie grosse Austern. die Sedimente sind in der Horizontalen sichtbar, grössere und kleinere Steine lugen aus dem Schlamm heraus. alles sieht aus wie ein Felssturz. hin und wieder höre ich einen Brocken in die Tiefe stürzen. unsicheres terrain. sich bewegender Untergrund, sich bewegende Oberfläche.


der Transformationsprozess des Sediments, welches durch die Flussströmung nach vorne zu der Talsperre getragen wird, befindet sich nun in einer Pause. einer Wasserpause. der langsame abtragungsprozess dieser Massen wird nun noch langsamer – kommt beinahe zum Stillstand. nicht ganz. vom Wind erzählen alle. vom Wind, dem Ungestüm. der Wind, der in den letzten zwei Jahren angeblich so stark wurde, trägt die feinen Partikel des Sediments durch das Tal, wirbelt die trockenen Sedimente auf und trägt das Flussbett auf die Balkone, die Tische, die Dächer der Häuser. alle müssen putzen. die Oberflächen des Dorfes sind voller Seegrund. der Wind wirbelt alles auf, was sonst unter Wasser ist und sich nicht in der Luft bewegt. der Verzasca-Wind. die Felsbrocken sitzen da als würden sie warten. auf das Wasser, welches wiederkommen wird. in 10 Tagen bereits, sagen sie, dann sollen die Bauarbeiten fertig sein und die Schleusen wieder geschlossen werden. Doch das wird nicht reichen. Es wird wohl noch Monate dauern, bis die grauen Stellen wieder vom grünblaugrau des Sees verschluckt sind. bis kein Sediment mehr auf den Pergolatischen landet?


heute soll es noch regnen. Der Wind ist bereits kalt und etwas feucht. meine finger frieren ein. wie lange halte ich diesen leeren See wohl noch aus. habe nun schon so viele Stunden mit diesem leeren Flussbett verbracht, kann ich überhaupt noch ohne? ob mensch sich das überhaupt vorstellen kann? das Tal ist so eng, dass es eigentlich keine Möglichkeit gibt, das graue, tiefe, leere Flussbett nicht zu sehen, ausser ich drehe mich dem Talhang hinter mir zu, oder befinde mich in einem Innenraum. auch die Diga ist omnipräsent. immer zu meiner linken. sie throhnt da, die Barriere, bildet eine Grenze, eine Grenze für das Wasser, aber auch für unsere Sicht ins Tal, zum Lago Maggiore. die Diga ist mir suspekt. sie ist brutal, konfrontativ, bombastisch sie ist gross, schwer, dick, imposant, sie ist grau sie ist gebogen, um sie herum, auf ihr sitzen die Flechten. sie scheinen das Tal zu beobachten. wie lange sitzen, liegen, (welches Verb würde ihnen wohl am ehsten passen?) befinden diese sich da wohl schon?






VOGORNO, 8.4.22 für die Diga wurden etliche Tonnen Gestein vom Osthang neben ihr abgetragen, in Brechern (eigens dafür gebaut) zerkleinert, mit Zement vermischt und dann wieder gegossen. der Aggregatzustand, die Form und die Mischung des Materials haben sich verändert. doch eigentlich, wenn wir etwas ungenau sind, ist es immernoch aus dem selben Gneis, wie auch die restlichen Hänge des Tals sind. Landmassen wurden abgetragen, verändert und wieder in die Landschaft eingesetzt, so wie die Gesteine gerade besser passen, für den Menschen. zusammen mit der Diga kam die Strasse. weil sich die Kantonsstrasse sich bald unter Wasser befinden wird, musste eine neue Strasse mit neuen Brücken hin. Die drei alten Brücken würden dann einfach im Wasser konserviert werden. Die Leute erzählen, die alte Strasse sei gefährlich gewesen. mit der Strasse und der Diga kam der Fortschritt, der wirtschaftliche Aufschwung des Tals, der Tourismus. mit Instagram kam vor allem der Tourismus, mit den Werbeanzeigen im Tram. Schon auch damals, aber das war wohl eine andere Dimension.


zwei Linien, die von Sonogno nach Berzona führen. nein drei. die feine Linie des jetzt sichtbaren Flussbetts. die Linie der alten Kantonsstrasse. die Linie der neuen Strasse. vielleicht noch zwei weitere Linien, die Uferlinie rechts und die Uferlinie links. auf den Dächern der Häuser, auf den Strassensteinen, aber auch auf hervorblitzenden Felsblöcken oberhalb der Strasse, wo sich die Dorfansammlungen befinden (wiederhole ich mich eigentlich ständig? )




BERN, 13.4.22 erschlagen bin ich. von all den eindrücken letzte woche. von all dem was ich mir erhofft habe zu finden. von all dem was ich gesucht habe. von all dem was ich gefunden habe. von all dem was ich nicht gefunden habe. die Luft ist raus. war die woche denn wirklich so produktiv? wie viel zählt der Fleiss? Ventil rauslassen. Müdigkeit ankommen lassen. nichts tun müssen, etwas wird schon geschehen. als wäre die Motivation weg. als hätte ich 200% meiner energie in die Suche und das Andocken an dieses Tal und die Menschen in diesem Tal rausgelassen. ich forciere. sinke immer tiefer in den arbeitsstuhl hinein, wie ein Panettone, welcher nicht kopfüber aufgehängt wurde. ein Teigklumpen ohne Luftlöcher. das Material. was ist das alles für Material? ich nehme es mit in meine Tage, auf meine Reise.


den ganzen Samstag und den halben Sonntag nach der Verzasca-Woche noch sah ich ständig die graue Steinwüste vor meinem inneren Auge, Augen zu, leeres Stauseebecken an. eine emotionale Verbundenheit hat sich entwickelt. womit genau weiss ich nicht. mit den Menschen da. mit den Steinen. mit den Geschichten. mit den Farben. den Formen. den Flechten. ich wollte so sehr, dass dieser Ort etwas in mir auslöst. zack da habe ich es. doch was mache ich denn nun damit? pause.


VOGORNO, 8.4.22 Habe Yvonne, die Wirtin des Pizzo Vogorno gefragt, ob ich wohl mit ihrer Schwiegermutter sprechen könne, weil ich am alten Dorfteil Pioda interessiert sei. Sie war sehr hilfsbereit und hat sie direkt anzurufen versucht. Hat mir gezeigt, wo sich ihr Haus befindet. So bin ich hin, um das Haus rumgeschlichen (es befindet sich ganz weit unten am Seeufer, wo sich eigentilch das Seeufer befindet). Die Glastüre stand offen und so habe ich geklopft. Buongiorno? Buongiorno, venite! (Ich kam rein und fragte Maris Quadri, ob ich sie ein, zwei Dinge zum alten Dorf fragen darf, zu ihrer Geschcihte da, und zack –schon sass ich am Küchentisch mit einem Glass Siroppo di Sambucco). Sie seit etwa 19 Jahre alt gewesen, als die Diga fertiggebaut war, als die Häuser in Pioda geflutet wurden. Sie erinnere sich schon noch an die alten Häuser und auch an die alte Strasse. Ihre Mutter habe zuvor das Hotel Pizzo Vogorno (wo ich geschlafen habe), geführt, danach sie selbst, viele Jahre lang, und nun il Marzio, ihr Sohn. Ihr Vater sei der Gemeinderat gewesen und sie hätten in einem Rustico oben im Dorf gewohnt.


(Es handelt sich exakt um das Rustico, welches mir Frau Reutimann gestern gezeigt hat, sie hatte von einer Frau erzählt, die es ihr verkauft hatte, das war also Maris Quadri! Das ist wunderbar, so habe ich das Haus schon gesehen, und weiss sogar, wer die Mutter von Maris war, die da auf einem Foto hing.) Sie bestätigt mir, dass es unten eine Post gab, ein Restaurant, früher nochmals ein kleines Restaurant, ein negozio (Lebensmittelgeschäft) und einige Hàuser, viele Rebbergen. Es sei schön gewesen da unten, sehr idyllisch. Ob sie denn noch Fotografien der alten Häuser habe, frage ich sie. Nein –Fotos habe sie gerade keine, aber sie habe die Häuser gemalt, vor vielen jahren. Sie zeigt mir Öl- und Acrylmalereien von den alten Häusern unten in Vogorno Pioda – fantastisch. Sie erzählte mir viel. Sehr viel. Vieles habe ich nicht verstanden. Weil ich ja wusste, dass ich nochmals hingehen werde und mit ihr einen Kaffee trinken werde und ein konkreteres Gespräch führen werde, habe ich sie sprechen lassen. Ich war bestimmt zwei Stunden bei ihr. Sie scheint gerne zu erzählen. Erzählt mir vom Cordon bleu. Dass ihre Mutter dies schon gemacht hätte, ganz ein kleines, sie zeigt es mir vor, dann sie selbst–habe ein grösseres gemacht und es dem marzio gezeigt. Und der macht nun riesige Cordon bleus, grösser als die Teller.












BERN, 13.4.22 dann die spur wieder aufnehmen. spazieren gehen. später wieder andocken. schwimmen, kopf unter wasser, immer wieder auftauchen. dieses Wasser, in welchem ich mich gerade befinde fehlt da einfach. aspettiamo l‘acqua wie schreiben sich anthropogene eingriffe in die Materialien von Vogorno ein? diese Frage ist omnipräsent. ich verstehe sie wohl selbst noch nicht ganz, zumindest, was sie konkret für die Materialien bedeutet. wie konstituieren deren Verflechtungen den Ort? diese Frage vergesse ich manchmal.


lecora muralis (Mauerflecht) überall Ziegel, halbe Zylinder. Wellblech, Fiberglass Plastikplanen im Wind Trottoirsteine ohne Trottoir crust on surface crusty greens on rocks Gneis, Verzasca Linien in der Horizontalen, metamorph entstanden wellenförmig, vom Wasser geformt rostflecken?



Dieser Bändergneis ist lange Zeit von fliessendem Wasser glatt geschliffen und poliert worden. So tritt die Zeichnung der Mineralbänder markant hervor, die durch seitlichen Druck in das Gestein gefaltet wurden.









Über diese seit langem bekannte Symbiose hinaus haben Studien der vergangenen Jahre ergeben, dass Flechten noch wesentlich kompliziertere Gemeinschaften bilden, in die noch andere assoziierte Pilze, Algen und Bakterien involviert sind, die in oder auf der Flechte leben. Durch diese multiple Partnerschaft ist die Flechte in der Lage, auf die verschiedenen Umweltbedingungen in den komplexen Ökosystemen besser zu reagieren als ungeschützt wachsende und nicht-symbiotisch lebende Algen und Pilze.






Verbreitung von (© SwissLichens 19.4.2022, 11:49:15) Fund-Zeitraum (gewählt): 1989-2022 Fund-Zeitraum (ausserhalb): 1800-1988;









BERN, 18.4.22 Entscheidung. flechten (lecora muralis), beobachtende, langsam wachsen, lange zeitebene sedimente (mud, fango, schlamm, partikel), werden transportiert durch wind und wasser gneis (verzasca-gneis), metamorph entstanden, schichtungslinien beton (diga) evt. menschen (la marra, drei frauen)


BERN, 19.4.22 Wie kam es zum Bau der Diga? Woher stammt genau der Beton/Gneis für den Bau? Was geschieht mit der Diga/dem Beton wenn sie brüchig wird? Wo wird der Beton entsorgt? Welche wirtschaftlichen und politischen Interessen kamen bei diesem Bau zusammen? Wie wurde Zement hergestellt? Wofür produziert dieser letzte Steinbruch im Tal noch? In Frasco? Gibt es Überwachungskameras der Diga? Wie schreiben sich anthropogene Eingriffe in die Materialien ein? Wie konstituieren diese unterschiedlichen Elemente/ Akteur*innen den Ort?




BERN, 21.4.22 Der Fluss frisst sich in den Boden, in die Landschaft. Da Flüsse etwa durch Kraftwerke vom Menschen verändert werden, werden die Sedimente auf ihrem Weg von der Quelle bis zur Mündung immer wieder aufgehalten: Durch das Aufstauen des Wassers bleiben die Sedimente im Stauraum und fehlen dem Fluss Richtung Mündung. Eigentlich ist die Verzasca immer noch ein Fluss. Ist nun aber eher See als Fluss. Lago di Vogorno seit 1965. Ein Duett aus der Verzasca und dem Lago di Vogorno. Außerdem raten Expert*innen, Flüssen mehr Platz zu geben. Drei bis siebenmal die Flussbreite sollten Häuser vom Fluss entfernt sein. Und: Steinblöcke oder Kiesinseln zulassen – das erschwert zwar die Hochwasserberechnungen, ermöglicht aber vielfältiges Leben von Tieren und Pflanzen in und am Fluss. So etwas ist in der Valle Verzasca, dem engen Tal, nicht möglich. Die Menschen leben so nahe am Flussufer, dass der Wind die Sediementpartikel auf ihre Pergolen transportiert, sodass sie kaum Fläche zwischen Land und Wasser mehr haben. Das Haus am See. Das Rustico am Fluss.



TENERO FRACCIA, 27.4.22 Im Tessin ankommen und endlich tritt wieder Ruhe ein. Ausatmen, merken, dass ich ruhig werde. Nicht mehr tausend Dinge im Kopf sondern nur meine Arbeit und ich, das Tal und ich. Keine Ablenkung. Ich merke, wie sehr die Gedanken an den Ort gebunden sind. In Bern erscheint mir alles so verzwickt, oftmals blockierend, manchmal unfokussiert, obwohl ich ständig an der Arbeit dran bin. Aber da sind so viele Menschen, so wichtiger Austausch, sogar auf den Gängen der Schule, überall. Nun merke ich erst, wie viel die letzte Intensivwoche in der Verzasca ausgemacht hat. Beruhigt mich, wie viel da geschehen ist, dass ich schon sehr stark in der Arbeit drin bin. Es braucht wohl ein Ping Pong. Immer wieder Bern–Vogorno–Vogorno– BernTenero Fraccia ist dabei ein wichtiger Zwischenstop. Immer dachte ich, dieser Ort ist zu sehr mit meinen Kindheitserinnerungen behaftet. Dass ich nicht gut mit diesem Ort denken kann und Entscheidungen für die Masterarbeit treffen kann. Wieso habe ich eigentlich noch keinen Titel? Erst jetzt merke ich, dass meine Arbeit wohl genau dieses Wechselspiel benötigt, dass es einfach nicht reicht, nur im Atelier zu arbeiten, dass ich immer wieder raus, hier hin muss, um die Arbeit weiterwachsen zu lassen. Dass es aber auch das Rausnehmen aus dem Tal, aus dem Tessin benötigt, damit die Arbeit eine Arbeit wird.


Endlich tritt wieder Ruhe ein. Kann dem allem nicht genügen, im eigenen Kopf implodieren, zerspringen, zu viel wollen, gar nichts mehr können, nur noch müde sein. In der Abenddämmerung an das Steinwüstental denken aber auf die graublaue glatte Oberfläche des Lago Maggiores blicken. Eine Schicht, eine Oberfläche die spiegelt, die irritiert, die nicht wirklich durchblicken lässt. Ein Ökosystem. Ein See. Erst der Anblick des leeren Lago di Vogornos lässt mich hier den Seegrund denken. Entenflöhe, welche den Sonnencrèmetourist*innen (zu welchen ich auch gehöre) eine Streich spielen? Ein ständiges Rauschen hier oben. Es ist der Wasserfall. Einer, der von einem engen Tal neben mir in die Tiefe fällt. So könnte der See wieder gefüllt werden. Tausend imaginäre Wasserfälle machen einen See voll. Viele Rinnsale folgen den Furchen und führen ins Tal. Es sind die feinen Wasserbewegungen die den See füllen sollen. Nicht die Schleusen.


Unter mir wird ein Kastanienbaum von einer Strassenlaterne beleuchtet. Er bewegt sich im Wind. Schweinwerfer auf den Baum richten, alles andere befindet sich im Schatten. Als Kinder zählten wir immer die Wasserfälle, auf der Fahrt von Chur nach Tenero Fraccia, über den Pian San Giacomo fuhren wir. Wer als erste einen weiss schäumenden Wasserfall am Berghang erblickt, hatte gewonnen. Unsere Augen folgten gebannt dem vorbeifahrenden Gebirge. Das habe ich seither nie mehr gemacht. Gibt es diese Wasserfälle wohl noch? Wie lange wird es diese noch geben? Dieses Jahr (diese Jahre) tragen die Fälle kaum Wasser mehr. Weder Wasserfälle noch Regen fällt angeblich. Alle warten auf den Regen (immer noch). Zwei Tage lang hatte es in Bern geregnet, hier auch. Ab jetzt brauche ich die Wetterdaten. Könnte ich ausrechnen, wann der See wieder gefüllt wird?



Ein morgendlicher Besuch im geologischen Institut der Universität Bern. Ein Eintauchen in die Materialität, in die Langsamkeit der Steine und der Sedimente.





VOGORNO PIAZZA, 28.4.22 Die Farben des leeren Flussbetts sind anders. Alles ist etwas brauner, mehr Kontrast. Es hat geregnet. Meine Tante sagt, es habe die letzten Tage geregnet. Die Feuchtigkeit sitzt noch in der Luft, sie ist feucht und schwer. Sonnenstrahlen fallen auf den linken Talhang, wie erging es wohl den Gneisen und den Sedimenten und dem Sand in der Zwischenzeit? Sonst hat sich nicht viel geändert. Das Wasser erscheint greifbarer, näher, doch immer noch weit weg, es sitzt im Wind aber ist noch nicht im leeren Seebecken. Die Diga throhnt immer noch vorne im Tal. Heute muss ich wohl aufpassen. Ich könnte einsinken, aus den trockenen Schlammpartikeln wurde feuchter Schlamm. Das wäre perfekt für Sedimentproben. Das grün fällt auf. Alles ist knallgrün. Und mir ist schon wieder schwindelig. Hört das denn hier nie auf? Das Tal ist bereits mit meiner Erinnerung versehen, vor allem mit meinen Erinnerungen an meine Beziehungen zu Menschen. Die ist immer so schwierig zu überwinden und sich davon zu lösen.


Habe etwas Angst. Die Postkarten an die Frauen sind zwar verschickt, aber werden sie mich wohl empfangen, werden sie wohl meine Fragen beantworten? Wissen La Marra, Maris Quadri und Frau Mignola noch wer ich bin? Gestern erst habe ich herausgefunden, dass Arayas Familie aus Vogorno Pioda stammt. Ich fahre mit dem Bus die enge neue Kantonsstrasse hoch ins Tal. Der vom Wasser geschliffene Gneis. Der abgebrochene Gneis. Der gesprengte Gneis. Der sandige Gneis. Der mit Mikroorganismen und Flechten versehene Gneis.




BERN, 20.4.22Postkarten an Maris Quadri, Marra Desi und Rosilde Mignola geschrieben. Keinen Interviewtermin ausmachen können, ich musste mich auf das Tempo und den Informationsfluss des Tals und der alten Frauen einlassen. Komm einfach vorbei auf einen Kaffee, meinten sie. Die tollsten Gespräche fanden per Zufall in den Gassen von Vogorno statt. Kann ich diese Gespräche initiieren? Kann keine Antwort auf die Postkarten erwarten, muss mich einfach ins kalte Wasser stürzen.


VOGORNO ST.ANTONIO 28.4.22 Yvonne Quadri hat mich noch erkannt. Cappuccino mit Blick auf die kleine Diga. Ob die Frauen wohl mit mir sprechen werden?


24.4.22 FRAGEN AN DIE FRAUEN IN VOGORNO 1. Wie alt waren Sie, als Vogorno Pioda geflutet wurde? Quanti anni avevi quando Vogorno Pioda è stato allagato? 2. Woran können Sie sich noch erinnern, wie war es für Sie, dieser Moment und diese Zeit, in dem/der es hiess, sie müssen Vogorno Pioda verlassen? Cosa ricordi, come è stato per te, quel momento e quell‘ora in cui è stato detto: ora tutti devono andare? 3. Was haben Sie beruflich gemacht zu der Zeit, als der Stausee entstand? Cosa stava facendo professionalmente all‘epoca in cui il serbatoio è stato creato? 4. Können Sie mir eine Anekdote/ Geschichte aus dieser Zeit erzählen? Puoi raccontarmi un aneddoto/una storia di quel periodo? 5. Woraus bestand Ihr Alltag in Pioda zu der Zeit, als der Stausee entstand? In cosa consisteva la sua vita quotidiana a Pioda all‘epoca della creazione del bacino? 6. Warum hiess das Restaurant Kalifornia? Perché il ristorante si chiamava Kalifornia?


7. Haben Sie noch Fotos aus dieser Zeit, die Sie mir zeigen könnten? Ha ancora delle foto di quel periodo che potrebbe mostrarmi? 8. Können Sie versuchen, mir im Detail zu erzählen, welche Gebäude sich in Vogorno Pioda befanden? Puoi provare a dirmi in dettaglio che tipo di case c‘erano a Vogorno Pioda? 9. Können Sie aus Ihrer Erinnerung ein Haus, welches zerstört wurde ganz präzise beschreiben? Also ob es aus Stein war, wie gross, ob es Balkone hatte, ob die Fassade farbig gestrichen war etc. Può provare a descrivermi con precisione dalla sua memoria una casa che è stata allagata? Quindi se era in pietra, quanto era grande, se aveva balconi, se la facciata era dipinta a colori...? 10. Wie ist es für Sie, jetzt mit diesem leeren Stausee zu leben? Com‘è per te ora vivere con questo serbatoio vuoto, questo deserto di pietra e fango? 11. Was bedeutet für Sie der Staussee? Cosa significa per te il serbatoio? 12. Was bedeutet für Sie die Staumauer? Welche Veränderungen brachte die Staumauer für Sie mit sich? Cosa significa la diga per te? Quali cambiamenti ha portato la diga per te?


13. Welches Gefühl ruft dieser leere Stausee und die Überreste der alten Kantonsstrasse bei Ihnen aus? Che tipo di sensazione ti evoca questo bacino vuoto e i resti della vecchia strada cantonale e dei ponti? 14. Mögen Sie den Verzasca-Gneis? Ti piace la pietra di cui è fatto tutto qui nella valle, lo gneiss?


Kann ich einen Dorfplan erstellen mit ihren Worten? Können die Häuser aus Worten bestehen? Wie viel Fiktion enthalten die Erinnerungen?


IM ZUG, 28.4.22, GESPRÄCHSRÜCKBLICK MARRA DESI MIT ARAYA Armut der Menschen, Vergleich Val Onsernone und Valle Verzasca: Abwanderung, Migration nach Kalifornien, Spezzacamini (Vogorno spezifisch) sie hatte keine Ausbildung, nur Primarschule gemacht, verschiedene Berufe gemacht in Vogorno aufgewachsen, als sie jung war ging sie nach Gordola für Arbeit, hat immer für eine Person der Familie gearbeitet kam 1963 zurück nach Vogorno, als die Diga fast fertig war, hat dann da als Pöstlerin gearbeitet, in der neuen, oberen Post, ging Briefe verteilen im ganzen Dorf Ihre Onkel in Kalifornien hatten als Maler, in Restaurants etc. aber auch als Spezzacamini gearbeitet Die Familie Marra war eine Patrizierfamilie aus Vogorno Landschaft: Agricultura in Vogorno, es gab unten Felder für das Vieh (Bestiame), Futter für die Tiere und Menschen Gefühle: Trauer, traurig, weil alle mussten das Dorf verlassen und ihren Heimatort aufgeben.

Sie wurden von der SA Lombardi, nicht gut bezahlt für ihr Land, welches sie unten hatten, aber sie weiss, dass andere gute bezahlt wurden von der SA Lombardi. Die anderen haben auch mehr Geld bekommen, weil sie Immobilien an diesen Orten hatten. Transhumanz (vorher, als die die Länder da hatten), die Tiere waren damals „nomadisch“ unterwegs Sie hatte Angst vor dem Geräusch, als die Diga gefüllt wurde. Es herrschte allgemein eine grosse Angst dass die Diga brechen könnte, weil sich die Menschen im Tal an das Unglück von Vajont erinnerten Diga als Tourismusattraktion, 007 Gebäude in Pioda: Restaurants, Post, Lebensmittelladen, Falignameria (Tischlerei/Schreinerei), Mulina (Mühle), Schiessstand (stand di tiro), auf die andere Seite des Tals Geschichte von Weihnachten: Sie ging immer 10 Tage von Gordola nach Vogorno über Weihnachten und dann musste sie mit einem kleinen Autobus immer nach hinten fahren. Sie hatte immer Angst, weil die alte Kantonsstrasse so eng war und es so steil war. Aber es gab den Wald und die Bäume, sie fühlte sich sicherer als jetzt


ohne Wald. Nur Geröll. Elektrizität (Luce) sollte angeblich gratis sein, aber sie habe ihr Versprechen nicht eingehalten, sie mussten die Elektrizität selbst bezahlen. Sie hatten einfach keine Wahl, sie hatten nicht wirklich eine Stimme, sie mussten sich dann einfach an die Diga gewöhnen und sich anpassen. Die Diga war für sie eigentlich eine frustrierende Sache, kaum Benefits Bodume= Cemento, ist es Dialekt oder ist es ein spezifisches Wort, was ist das für ein Wort – wir finden es nicht? Bodume/Bitume, Bitume auf tessinerischer Dialekt= Zement Sie hat gesagt, dass sie den See schön findet 1965 war sie 43 Jahre alt Sottoceneri versus Sopraceneri, Diskurs, dass ein kleines Dorf in einem Tal nicht gegen eine grosse Stadt zu sagen hat es war kein Wunsch des Dorfes, eher einfach wirtschaftliche Gründe

gorno berühmt Steine: viele Steine für das Dorf und vielleicht auch für den Bau der Diga? Mauer hat 500 CHF bezahl, ihr Mann hat diese Mauer konstruiert, mit Gneis aus Verzasca, Trockenmauer, nicht so teuer, aber heute wäre es alles wohl viel teurer sie ist sehr verbunden mit der Familie, hat immer da gearbeitet, wo gerade Hilfe gebraucht wurde, aber sie brauchte auch einen Job) für den Bau der Diga kamen viele Arbeiter*innen aus Italien zwei tote Menschen im leeren Stausee gefunden? Es gab in Vogorno eine Uhrenfabrik, fabrica orologi, da hat sie aber nicht gerne gearbeitet, Salmina Marzio Falignameria hiess Berri, sie haben dann das Gebäude der Uhrenfabrik gekauft Heute gibt es nur noch zwei Kinder in Vogorno Desolazione= Verwüstung

Sie hatte keine Wahl, non era la schelta, à la fine, era ok, aber was kann ich schon machen Zukunft: Tristessa, es gibt keine Zukunft, alle gehen weg, aber sie hat Nach dem Bau der Diga wurde Vo-

Namen: Carmen Berresini (Sekundarlehrerin oder Gymnasiallehrerin, Gordola), Alfreda Berresini (Primarlehrerin in Vogorno), Schwestern, Bürgermeister, Sindaco Bordoli, Pierangelo Moccetti


IM ZUG 28.4.22 GESPRÄCHSRÜCKBLICK MIT MARIS QUADRI MIT ARAYA

Wie war für Sie diese Zeit, in welcher alle Bewohnenden Vogorno Pioda aufgrund des Stausees verlassen mussten? Woran können Sie sich erinnern?

sie sprach über die Transhumanza, im Winter hielten sie die Ziegen unten in Vogorno Pioda (Stall), im Frühling auf den Monti und im Sommer auf den Alpen, sie ging als Kind jeweils mit ihrem Grossvater mit

sie war in dieser Zeit nicht in Vogorno, sondern in Lugano, sie ist in Vogorno St. Antonio aufgewachsen

hat viel über ihren Vater ges prochen, er war sehr „avantgardistisch“. Er wollte, dass alle seine Kinder studieren oder zumindest ans Gymnasium gehen

sie hat zwei Perspektiven geschildert, für die Jungen war die Diga eine Neuigkeit, Aufschwung etc. aber bei den älteren bemerkte sie, dass es für sie sehr traurig war, die Häuser zu verlassen

sie war die erste Tochter, dann vier Geschwister, zwei Schwestern, er wollte dies alles auch für seine Töchter, nicht nur für die Söhne

Geschichte des Grossvaters, das Gefühl der älteren Menschen: mehrere Generationen in einem Haus. links der Grossvater, mitte neutral, rechts der Grossvater, dieses Haus befand sich da, wo die neue Strasse gebaut werden sollte, es wurde eine Mauer gebaut, weil die Häuser unter dem Bau der Strasse einstürzen würden. Bauernleben: Ihr Grossvater war traurig, weil er die Ziegen und sein Vieh nicht mehr hatte. Er musste alles zurücklassen. Grossvater machte Butter und Käse, es war alles nur für familiären Gebrauch

Der Vater hatte eine Firma: Gamboni (mit seinem Schwager zusammen) sie hat nicht wirklich vom Bau des Ristorantes gesprochen Gelosia: Ihr Vater hatte eine schwierige Stellung im Dorf, aber auch wegen der Diga, neue Strasse etc. Hotel Pizoo Vogorno: Die Mutter von Maris Quadri führte das Hotel, es wurde kurz vor der Staumauer gebaut und eröffnet. Sie hat das Haus ihrer Tante beschrieben, es war aus Stein gebaut, und wichtig war, dass die Treppen sich im Haus drin befanden, sie war richtig traurig, weil ihre Blumen zerstört wurden.


Ristorante Vogorno Pioda mit zwei Bäumen und einem Tisch in Stein Daneben befand sich die Post Neben der Post befand sich das Hotel Kalifornia Es gab ein kleines Lebensmittellädeli, wo sie als Kind jeweils Brot einkaufen ging ist, sie hat uns den Weg gezeigt. Pestportal, auf der letzten Brücke vor Vogorno konnten sie während der Pest die Brückentore schliessen, damit sie geschützt waren. Hotel Kalifornia: Die Menschen aus dem Tal gingen nach Kalifornien, um in einer Ranch oder einem Motel zu arbeiten. Teilweise wanderten auch Frauen nach Kalifornien aus. Warum Kalifornien? Es gab da viel Arbeit, so gingen ganze Familien nach Kalifornien und schickten das Geld zurück ins Tal Bordoli hatte mit Stein gearbeitet, er hat auch ihr Dach gebaut Australisches Dach, das war vor Kalifornien, ab 1860, Module, Modelle für verschiedene Dachformen, zweites Haus konstruieren und alles zusammenhängen, neue Bauweise wurde da entwickelt, das Haus konnte erweitert werden.

Morphologie des Flusses war anders vor dem Bau der Diga, es war alles viel enger, sie konnten nicht neben dem Fluss spielen, es war viel zu steil da unten, man ging nicht runter Avelino Mocetti, Mühle, das war der Onkel von Maris, als sie die Diga konstruierten, haben sie alles zerstört und dann kam eine Person aus Zürich und wollte einen Teil der Maschine klauen Kastanienwald, Castagneto. Sie erzählte, wie man die Kastanien sammelt, wie man sie trocknet, Farü= gekochte Kastanien, Zubereitung, kleine Dimension, es war nur für den Eigengebrauch, keine grosse Produktion, auch Kartoffeln, Mais etc. haben sie da angebaut Es gab viele Vigneti, sie machten Wein Kastanienwälder: Sie blickte aus dem Fenster, die Kastanienwälder sterben ab, sie haben eine Krankheit, es gab ein Insekt im Tessin, alle Kastanien sterben ab. Kastanienwaldsterben der Kanton wollte diese Länderein und die Cittadini haben einen Anwalt von der Verzasca SA gewählt. Einer, der nicht aus dem Tal war. Noi eravamo de la gente brava ma ignorante, sie konnten sich nicht so gut verteidigen und vertreten, für ihr Land einstehen, die juristische Hilfe hat sie nicht gut beraten, oder ihnen nicht wirklich geholfen.


Die Menschen waren nicht stark und hatten keine gute Beziehung zueinander, die Post wurde oben ersetzt, die Farignameria auch, aber das schwierige daran war, dass es so ein kleines Dorf war. Einige haben mehr bekommen, andere weniger, aber dies führte zu Schwierigkeiten innerhalb der Dorfgemeinschaft. Der untere Teil von Pioda war eigentlich Landwirtschaft, aber auch zwei Ristorantes, eine Post, einen Laden, es war ein essentieller Teil des Dorfes. Reue: Gefühl, Wurzeln, es war eine wichtige Wurzel für sie, dass sie immer wieder zu ihrem alten Haus zurück kann etc. Sie hat ihr Herz im Tal.







Felsplatten, auf denen sich schalenartige, meist halbkugelige Vertiefungen natürl. oder künstl. Ursprungs befinden. Die in Vogorno zutage getretenen 24 Schalensteine sind nicht sicher datiert. Schalen unterscheiden.




Graniti Buzzini nacque nel lontano 1946 e oggi è l’unica industria di estrazione del granito e della beola ancora attiva in Valle Verzasca. Una storia di oltre 75 anni che garantisce, oggi come ieri, prodotti di qualità e una lunga esperienza artigianale.




VOGORNO 23.4.22 Wieder im Tal. Der Stausee hat bereits wieder etwas Wasser drin. Dunkelgrüngraues Wasser erblicke ich aus dem Autofenster. Unerwartet. Anscheinend waren die Bauarbeiten früher fertiggestellt als gedacht. Doch welch mickriger Wasserpegel. Der See ist nun ein Achtel See. Kaum gefüllt, und doch wieder klar erkennbar als See. Kein kleiner Fluss mehr, der sich durch das Tal windet. Ein wenig grünes Wasser. Wasseroberfläche trifft auf Geröllhang. Vielleicht zum letzten Mal vorerst im Tal. Nicht alleine – mit Nadja. Schwierig für eigenes Schreiben zu zweit. Mit dem Auto einen steilen Hang hochfahren. Soriöö, soll der letzte Steinbruch sein hier. Graniti Buzzini macht Delfine aus dem Verzasca-Gneis.


BERN 25.4.22 schon wieder Heimweh. Fernweh.







WIND, WILDWUCHS UND RELATIONEN

Eine fragmentarische Annäherung an die relationalen Gefüge im Verzascatal


IM LEEREN STAUSEEBECKEN Wind bläst durch das enge Valle Verzasca. Die trockenen Böen fegen durch das leere Stauseebecken und über den vom Wasser abgeschliffenen Gneis. Der Wind wirbelt Sedimentkörner auf; er trägt die glimmernden Sandpartikel schwebend durch das Tal. Er stürmt über verwurzelte Strünke von Kastanienbäumen, über zerbrochene und rissige Betonplatten, über verrostetes Armierungseisen und Reste von altem Mauerwerk. Er strömt zwischen Bögen der Brücken der alten Strasse hindurch und über das unspektakuläre Nachleben ausrangierten Dinge. Die Windböen bieten ein Duett mit dem kleinen Bach Verzasca am Talboden, einem Bach, der einst ein reissender Fluss war. Wind und Bach schlängeln sich durch die Schlucht, zeichnen Linien und formen eine Landschaft. Spuren von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vermischen sich in den Überresten der Weinberge, der Gärten, des Weidelandes der Ziegen und den Vorplätzen der ehemaligen Häuser. Die Winde in der Valle Verzasca transportieren Zeitlichkeiten – sie tragen die Vergangenheit und führen in die Zukunft.

1

Häberling/Kiefer/Hurni/Raubal 2021, 4.

2

Ebd., 6. und Saini 2021, 25.

3

Siehe Lombardi-Gellera 2022.

Durch das Valle Verzasca, ein enges Tal im Tessin zwischen der Valle Leventina und dem Maggiatal, fliesst der Fluss Verzasca. 1959 wurde in einer Konzession entschieden, dass dieser Fluss zugunsten eines Elektrizitätswerkes aufgestaut und eine Staumauer gebaut werden soll.1 Schon seit 1905 wurde im Verzascatal ein kleines Fliesskraftwerk betrieben; von Lavertezzo bis Corippo wurde damals das Wasser in einem Reservoir gestaut. Erst 45 Jahre später kam die Idee eines grossangelegten Wasserkraftwerkes auf; Lugano und das restliche Tessin sollten von dieser Elektrizität profitieren. Infolge der Erneuerungen der Konzession 1953 wurden geologische Studien durchgeführt, der Strom- und Wasserverbrauch erfasst und diverse Vorschläge für den Bau des Wasserkraftwerkes von Ingenieurbüros entwickelt. Wenige Jahre später gründete die Gemeinde Lugano zusammen mit dem Kanton Tessin die Firma Verzasca S.A., welche für den Bau des Elektrizitätswerkes finanziell und organisatorisch verantwortlich sein würde.2 Im Mai 1956 gewann das Projekt des Ingenieurbüros Lombardi-Gellera mit einem saisonalen Stausee und einer 220m hohen Bogenstaumauer den Wettbewerb.3


Nach diesem Entscheid wurde sofort mit dem Bau einer neuen Strasse begonnen, da die alte Kantonsstrasse unter dem höchsten Wasserpegel des Stausees liegen würde und weil der Zugang zum Tal für die Bauarbeiten ausgebaut werden musste. Nach Fertigstellung der neuen Kantonsstrasse im Herbst 1963 wurde mit dem Bau der Talsperre begonnen, welche zwei Jahre später abgeschlossen war – im Oktober 1966 wurde der See erstmals vollständig gefüllt und das Elektrizitätswerk konnte eingeweiht werden.4 Das Elektrizitätswerk veränderte die Landschaft und Situation des Tals grundlegend, ging mit diversen sozialen Prozessen einher und betraf Einzelpersonen, Dörfer, Institutionen und Materialien. Während bereits für den Bau der neuen Strasse einige Häuser umgesiedelt und zerstört werden mussten, bedeutete die Befüllung des Stausees einen schwerwiegenden Eingriff in die architektonische Landschaft des Tals. Exakte Zahlen sind keine bekannt, doch es wird davon ausgegangen, dass etwa 70 Häuser dem Stausee weichen mussten.5 Besonders gravierend war die Veränderung für das Dorf Vogorno. Vogorno war bis in die 1960er Jahre ein Dorf, welches sich über mehrere hundert Höhenmeter erstreckte.6 Im oberen Teil dieses

4

Häberling/Kiefer/Hurni/Raubal 2021, 9.

5

Ebd., 11.

6

Gespräch mit Marra Desi 2022.

7

Saini 2021, 10.

Dorfes befanden sich viele Wohnhäuser, sogenannte Rustici. Im unteren Teil des Dorfes, in Vogorno Pioda, befanden sich weitere Wohnhäuser, ein Lebensmittelladen, zwei Restaurants, eine Getreidemühle, ein Sägewerk, sowie der Grossteil des Agrarlands (Weideland und Weinberge) des Dorfes. Durch die Befüllung des Stausees mussten diese Häuser dem Wasser weichen. Die Häuser wurden für die Flutung gesprengt und die Kastanienwälder abgeholzt.7 Die Bewohnenden waren gezwungen, ihr Land und ihre Immobilien zu verlassen und sich an einem anderen Ort im Tal niederzulassen.

Wie schreiben sich anthropogene Eingriffe in Materialien und Geschichten ein und wie konstituieren deren Verflechtungen das Verzascatal? Wie materialisieren sich die Narrative?


Ausgangspunkt meiner Untersuchungen der gesamten Masterthesis sowie auch der folgenden theoretischen Arbeit ist das Phänomen des leeren Stausees Lago di Vogorno im Verzascatal. Ausgehend davon untersuche und beschreibe ich künstlerisch-forschend, in iterativen Prozessen und mit wiederholenden Fragestellungen die relationalen Gefüge im Verzascatal. Ich kartiere die verschiedenen Prozesse, die vom Bau der Talsperre und des Stausees ausgegangen sind, wie sich dieser Eingriff in die Landschaft auf die Materialien auswirkte und welche vielfältigen Geschichten erzählt werden können, um bewusst einer kausalen Ereignisabfolge und einer Einseitigkeit entgegenzuwirken. In der folgenden Arbeit schlage ich deshalb drei theoretische Denkfiguren vor, mit welchen ich mich dem komplexen Phänomen (des leeren Stausees) im Verzascatal nähere: den geisterhaften Wind, den Agentiellen Realismus und den Feral Atlas. Das Anthropozän bildet das Bedingungsfeld, in welchem ich mithilfe dieser drei Denkfiguren methodisch und metaphorisch auf das Tal und spezifisch auf das Phänomen des leeren Stausees blicke und dadurch die Konstellationen und Beziehungen zu erkennen versuche.

8

Siehe Tsing/Swanson/Gan/Bubandt 2017.

9

Siehe Barad 2017.

Die Figur des geisterhaften Windes, welche Anna Tsing, Heather Swanson, Elaine Gan und Nils Bubandt, die Herausgeber*innen der Publikation Arts of Living on a Damaged Planet, vorschlagen, dient mir als metaphorische und physische Denkfigur für das Verzascatal.8 Sie verstehen den Wind als Transportmittel von Zeitlichkeiten im Anthropozän, welcher über anthropogen veränderte Landschaften strömt, im Präsens wahrnehmbar Spuren der Vergangenheit offenlegt und in die Zukunft verweist. Der Agentielle Realismus ist ein Konzept der Physikerin und Wissenschaftsforscherin Karen Barad und hilft mir dabei, die Konstellationen und Zusammenhänge im Tal zu beobachten, die Akteur*innen in einem anti-essentialistischen Sinne zu beschreiben und um zu betonen, dass vom Bau der Staumauer aus keine kausale Erzählkette skizziert werden kann, sondern dass die Bezüge und Auswirkungen durch ständige Intraaktionen immer wieder in einen neuen Zusammenhang gestellt werden.9 Die digitale Publikation Feral Atlas – The More-Than-Human-Anthropocene, kuratiert und herausgegeben von Anna Tsing, Jennifer Deger, Alder Keleman Saxena und Feifei Zhou, dient mir als methodisch-formale Denkfigur. So können die Zusammenhänge im Verzascatal


im Sinne eines mehr-als-menschlichen Anthropozäns, bestehend aus lückenhaften und fragmentarischen (patchy) Geschichten, verstanden werden.10 Weiter dienen mir ihre vorgeschlagenen Begriffe Detonator oder Sprengkörper, was ich auf die Staumauer und deren Einbettung in die Landschaft übertrage, mögliche wildwüchsige (Feral) Auswirkungen und Verstrickungen ausgehend von dieser Infrastruktur zu benennen. Die folgende Arbeit ist als Offenlegung, Kartierung und Beschrieb möglicher Akteur*innen und Zusammenhänge gedacht. Da es kaum überlieferte Quellen in Bezug auf die Auswirkungen der Staumauer auf die Menschen, die Landschaft, die Ökologie – auf die Materialien und deren Zusammenhänge im Tal – gibt, versuche ich mich dem Feld mit Quellen aus unterschiedlichen Disziplinen und diversen Perspektiven anzunähern.11 Ich versuche keinesfalls, eine stringente Geschichte des Tals nachzuzeichnen oder Kausalitäten zu formulieren, sondern betrachte die Relationen und Geschichten fragmentarisch. Eine wichtige Quelle sind die Informationen aus den Gesprächen mit den Menschen aus dem Tal, spezifisch die Erzählungen der zwei Bewohnerinnen des Dorfes Vogorno Marra Desi und Maris Quadri.

10

Siehe Tsing/Deger/Keleman Saxena/Zhou 2020.

11

Siehe BAFU 1994, 5f.

Meine Beobachtungen und Ausführungen schliessen mit ein, dass es viele weitere Perspektiven gäbe, die Zusammenhänge, Akteur*innen und Geschichten des Tals zu beschreiben und wahrzunehmen.


WINDIG „The winds of the Anthropocene carry ghosts — the vestiges and signs of past ways of life still charged in the present. This book offers stories of those winds as they blow over haunted landscapes. Our ghosts are the traces of more-than-human histories through which ecologies are made and unmade.“12 Mit diesen Worten beginnt die Einleitung des Sammelbandes Arts of Living on a Damaged Planet. Die Autor*innen schlagen die Figur des Windes vor, um die schwer fassbare, gespenstische Vergangenheit und die imaginierte Zukunft in der Gegenwart von mehr-als-menschlichen Landschaften des Anthropozän zu lesen. So schreiben sie: „Winds are hard to pin down, and yet material; they might convey some of our sense of haunting.“13 Mit dem Wind einher geht die Figur des Geistes; womit sie vergangene Lebensformen in Landschaften beschreiben, wenn Arten aussterben und nur noch Reste davon übrig sind. Wenn beispielsweise Spezien aussterben, welche gewisse Pflanzen für die asexuelle Fortpflanzung benötigen. Sie fragen nach den verschiedenen Arten von Zeit, die diesen Landschaften (und den Materialien) innewohnen. Um den Geschichten und Zeitlichkeiten dieser Landschaften nachzuspüren, be-

12

Tsing/Swanson/Gan/Bubandt 2017, G1.

13

Ebd., G3.

14

Ebd., G6.

nötige es den Blick auf lebendige und tote Dinge und deren Verstrickungen. Sie fordern dazu auf, vergangene Landschaften nicht zu vergessen. Wenn wir genau hinschauen würden, erkennen wir, dass die menschlich neu geformten Landschaften von Spuren alter Landschaften und Lebensarten durchdrungen sind. Die Geister und Winde der vergangenen Landschaften flüstern die Geschichten der vielen Vergangenheiten und der multiplen Zukünfte.14 Die Figur des Windes wird in Bezug auf das Verzascaltal in doppelter Hinsicht produktiv. Einerseits metaphorisch; Wind weht über das leere Staubecken, über die Spuren alter Landschaften, Welten und Geschichten und führt imaginativ in die Zukunft des Tals. Indem ich den Erinnerungen zweier alter Frauen zuhöre, wende ich mich der vergangenen Landschaft zu. Das Phänomen des leeren Stausees lädt uns dazu ein, in der Gegenwart den vergangenen Geschichten dieser Landschaft zu lauschen und über zukünftige Landschaften nachzudenken und zu spekulieren. Maris Quadri, die ehemalige Wirtin des Ristorante Pizzo Vogorno, heute 85 Jahre alt, schilderte mir ihre Erinnerungen der vergangenen Landschaft von Vogorno Pioda. Wir stiegen in das windige, leere Seebecken hinunter, wo wir gemeinsam


ihren Erinnerungen einen Raum gaben. Sie zeigte mir, wo sich welche Häuser des gefluteten Dorfteils Pioda befanden, welches ihr Geheimweg zum Lebensmittelgeschäft war und wo sie mit ihrer Nonna Ziegen und Schafe hütete. Die Erinnerungen wurden physisch und gegenwärtig manifestiert und wahrgenommen und paarten sich mit meinen Imaginationen und Fiktionen ihrer Erzählungen. Andererseits ist die Figur des Windes im Verzascatal auch physisch relevant. Marra Desi und Maris Quadri sprachen von einer Veränderung des Windes in den letzten Jahren. Sie beschreiben die Staubwolken, die sich an gewissen Tagen durch das Tal bewegen.15 Starke Windböen wirbeln die trockenen und freigelegten Sedimentpartikel des leeren Stauseebeckens auf und transportieren die Schwebstoffe durch das Tal. Wind trägt die losen Partikel des Seeund Flusssedimentes auf die Terrassen, die Steintische und die Fensterscheiben des Tals.16 Er transportiert den Sand durch die Lüfte und lässt die Sicht dunstig erscheinen.

Bei meinen Untersuchungen im leeren Seebecken kehrte ich auch mit trockenen Augen und Sandpartikeln im Haar zurück.

Welche Auswirkungen haben diese Monate des leeren Stausees mit dem Schwebestaub wohl auf die Menschen des Tals, auf die Steine, die Pflanzen und die Flechten?17

Alles im Tal wartet auf den Regen.

15

Gespräche mit Maris Quadri und Marra

16

Ebd.

17

Die Sandpartikel, ausgelöst durch die Wirbelstürme, sind im Verzascatal vergleichsweise harmlos. Michael

Desi 2022.

Vine beschreibt die Auswirkungen von Sandstürmen im trockengelegten Flussbett im Owens Valley in Kalifornien, wo die Sandpartikel immens gesundheitsschädigend für die Bewohnenden sind, in: (https://feralatlas.supdigital.org/poster/residents-inhale-settler-colonial-histories-in-the-owens-valley-california).


INTRAAGIEREND Ich erachte die Staumauer und den Stausee Lago di Vogorno als Beispiel für einen anthropogenen Eingriff in die Landschaft; eine Infrastruktur, welche mit diversen Entitäten verstrickt ist und deren Geflecht das mehr-als-menschliche Anthropozän bildet. Der Terminus Anthropozän stammt vom Atmosphärenchemiker Paul Crutzen, welcher den Begriff im Jahre 2000 bei einer Rede als Vorschlag für eine neue geologische Epoche verwendete, in welcher der (geologische) Einflussfaktor des Menschen auf die Erde in planetarischem Massstab erachtet wird.18 Als Diagnose der Gegenwart führte der Begriff in den Folgejahren zu Diskussionen in den Natur-, Sozial-, und Geisteswissen und auch in der Kunst.19 Während das Konzept einerseits einen produktiven Denkraum eröffnet, haften ihm durchaus auch kritische Stimmen an.20 So

18

wurde vor allem die Betonung auf die Vormachtstellung des Menschen kritisiert, wodurch eine anthropozentrische Haltung und gängige Dichotomien reproduziert würden. Die Biologin und Wissenschaftstheoretikerin Donna Haraway schlägt eine Pluralität an Begriffen wie beispielsweise Chthulucene21 oder Plantagenozän22 vor, womit sie für ein „tentakuläres, multispecies-Denken“, plädiert. Dieses sei nötig, um die komplexen Geschichten der gegenwärtigen, transformativen Zeit zu erzählen. Ich folge in meinen weiteren Ausführungen einer anthropozän-kritischen Haltung und beziehe mich hierbei auf die Ausführungen der Autor*innen des Feral Atlas und damit der Erweiterung des Begriffes Anthropozän zu mehr-als-menschliches-Anthropozän (im Folgenden nur als Anthropozän bezeichnet). Das Anthropozän verweist auf ein Problem der zeitlichen Grösse-

Horn/Bergthaller 2019, 8. Danach publizierte Crutzen zusammen mit dem Süsswasserbiologen Eugene Stoermer,

welcher den Begriff bereits früher verwendet hatte, ein kurzes Paper, (siehe Crutzen/Stoemer 2000 und Crutzen 2002). Das Konzept umfasst den globalen Klimawandel und seine Folgen, den ozeanischen und atmosphärischen Veränderungen, Luft- Boden und Gewässerverschmutzung über Störungen von wichtigen Stoffkreisläufen, aber auch Artensterben, giftige Chemikalien, Krankheitserreger und invasiven Schädlingen, sowie die wachsende Zahl von Menschen und Vieh – das Anthropozän ist gemäss Konzept „nicht einfach als Krise (...), sondern ein Bruch mit den ungewöhnlich stabilen Verhältnissen des Holozäns, in: Horn 2019, 10. 19

Dies vor allem durch das Feld, welches er eröffnet, durch eine Neuordnung von relevanten Begrifflichkeiten und

Kategorien wie der Frage nach der Bedeutung von Natur oder nach Auflösungen der Kategorien Natur und Kultur. 20

Hierzu gibt es auch einige kritische Stimmen, wie z.B. von Robert McFarlane, welcher das Konzept als arro-

gant, universalistisch und kapitalistisch-technokratisch erachtet (https://www.theguardian.com/books/2016/apr/01/generation-anthropocene-altered-planet-for-ever). 21

Siehe Haraway 2016, 31ff. Der Terminus geht auf die Spinne Pimoa cthulhu zurück. Mit einer etymologischen

Spielerei greift Haraway die Tentakel der Spinne auf und schlägt mit dem Begriff Chthulucene ein „Anderswo und ein Anderswann“ vor, „das war, immer noch ist und noch sein könnte (...) Myriaden von Tentakeln werden nötig sein, um die Geschichten der Chthulucene zu erzählen.“ 22

Tsing/Deger/Keleman Saxena/Zhou, What is the Anthropocene, 2020.


nordnungen, denn Disziplinen wie Geologie und Geschichtswissenschaften arbeiten mit gänzlich unterschiedlichen Zeitskalen.23 Die planetarisch-geologische Erdgeschichte prallt auf kurze, menschliche Mikroereignisse. So schreibt die Kulturwissenschaftlerin Eva Horn: „ Im Anthropozän öffnen sich Vergangenheit und Zukunft auf Tiefenzeiten hin, die sich nicht mehr im Massstab individueller oder kollektiver Erfahrung, kaum auch nur in denen der historischen Spuren menschlicher Kultur messen lassen.“24 Mein Fokus liegt jedoch nicht auf der Problematik der zeitlichen Skalierbarkeit des Anthropozän-Konzeptes, sondern auf den Temporalitäten, welche den Materialien des Tals und ihrer Beziehungen zueinander inhärent sind. Im Folgenden verstehe ich mit dem Terminus Material oder gelegentlich auch Ding im Sinne des englischen matter, der offenlässt, ob es sich um Materie, Materialität oder Material, um menschliches oder nicht-menschliches Wesen handelt. Ich verstehe die Termini Material und Ding im Sinne des New Materialism, wodurch ich einerseits den Fokus auf die Stofflichkeit des Materials und

gleichzeitig auf die Handlungsmacht der Dinge und ihre relationale Verwobenheit setze.25 Der britische Sozialanthropologe Tim Ingold untersucht die Ökologie der Materialien und deren Einbettung in komplexe Geflechte und geht dabei unterschiedlichen Ontologien von Materialität nach.26 Er bezieht sich auf den französischen Philosophen Gilbert Simondon, welcher die Erzeugung von Dingen als ontogenetischen Prozess, also als Wachstumsprozess, entliehen aus der Biologie, beschrieb.27 In Ingolds Verständnis existieren Materialien nicht, sondern dauern an. Er begreift das Material nicht als Objekt, sondern als Potential etwas zu werden. Er spricht sich, rekurrierend auf Deleuze,28 für eine Philosophie des Werdens anstatt des Seins und für ein prozessuales Verständnis von Material aus. Menschen erachtet er dabei (wie Dinge) ebenfalls als eine Ansammlung von sich in Bewegung befindenden Materialien, welche über ihre porösen Membranen wiederum Materialien austauschen. Er schlägt mit dem Perspektivenwechsel von abgedichteten Objekten zu undichten Dingen und deren Einbettung in komplexe

23

Horn 2019, 196.

24

Ebd., 198.

25

Auch Susanne Witzgall verwendet den Begriff Material und begründet diese Wahl folgendermassen: „der Fokus

auf der künstlerischen Auseinandersetzung und Wechselwirkung mit der Materie und materiellen Phänomenen liegt, die auf diese Weise zum Material avencieren.“ in: Witzgall 2014, 20. 26

Ingold 2014, 66.

27

Ebd., 68f.

28

Siehe Deleuze/Guattari 1992, 563ff.


Geflechte eine Ökologie der Materialien vor. Von Ingold und Deleuze übertrage ich das Verständnis eines Materials im Sinne einer Philosophie des Werdens – den Fokus auf dessen Prozessualität und Temporalität, der Veränderung ihrer Aggregatzustände sowie den Alterungsund Transformationsprozessen – auf die Geschichten im Verzascatal. Diesem Verständnis von Material folgt nicht nur Ingold; seit einigen Jahren lässt sich ein verstärktes wissenschaftliches und künstlerisches Interesse an Material, Materie und Materialität – an materiellen Aspekten feststellen.29 Unter den Begriffen Neomaterialismus, New Materialism, Neuer Materialismus und Material Turn sammeln sich seit den 1990er-Jahren eine Vielzahl an unterschiedlichen Themen und Konzepte in Bezug auf die neue Auslegung des Materiellen in den Geistes- und Kulturwissenschaften.30 Den Neuen Materialismen gemein ist die Überzeugung, dass der Sprache zu viel Macht eingeräumt wurde und dass „semiotisch verfahrende Ansätze unzureichend sind um das komplexe und dynamische Zusammenspiel sinnhaft-symbolischer

Prozesse und materieller Ordnungen zu erfassen.“31 Die Erkenntnis, der Sprache die Vormachtstellung gegenüber der Materie abzusprechen, zeigt sich auch dadurch, dass der Material Turn32 als Gegenpol zum Linguistic Turn33 zu verstehen ist, wonach jede Erkenntnisform von Sprache abhängig sei. Material wird in den Neuen Materialismen nicht mehr als etwas Passives und Solides betrachtet, welches mit einer Idee oder Bedeutung bestückt wird, sondern es besitzt „selbst-transformative Potentiale“34 und „eigene morphogenetische Fähigkeiten“ und muss nicht dazu gebracht werden, eine Form zu erzeugen.“35 Die Produktivität und Eigendynamik von Material wird betont – dem Material wird also eine eigene Handlungsmacht (Agency) zugesprochen und es wird als dynamisch und variabel erachtet. Neue Materialist*innen proklamieren, dass Material nicht nur Träger von Bedeutung und Zeichen ist, sondern dass es selbst Bedeutung generiert, Wirklichkeit konstituiert und an Materialisierungsprozessen beteiligt ist. Die Positionen innerhalb des New Materialism zeugen jedoch von unterschiedlichen

29

Witzgall 2014, 13f.

30

Siehe Dolphijn/Van der Tuin 2012. In dieser Publikation widmen sich die Autor*innen vier wichtigen Theoreti-

ker*innen des New Materialism und versuchen, eine Kartografie des Feldes aufzuzeigen. 31

Hoppe/Lemke 2021, 10.

32

Bräunlein 2012.

33

Siehe Rorty 1967.

34

Witzgall 2014, 14.

35

Dolphijn/Van der Tuin 2012, 43.


Ansätzen in Bezug auf diese Handlungsmacht der Dinge.36 Ich folge in meinen Ausführungen dem Konzept des Agentiellen Realismus der Physikerin und Wissenschaftstheoretikerin Karen Barad,37 denn mit ihrem Ansatz lassen sich die Relationen der Materialien, die ich im Verzascatal beobachte, am exaktesten beschreiben und andenken. Für Barad ist Material „ein Agens und kein festes Wesen oder eine Eigenschaft von Dingen.“38 Dieser performative 39 Ansatz (Barad spricht von Material im Tun) lässt sich mit Ingolds Material im Werden verbinden und scheint am ehrlichsten zu versuchen, die Trennung zwischen menschlichen und nicht-menschliche Dingen zu untergraben. Neben der Handlungsfähigkeit von Dingen wird im Neuen Materialismus auch deren Verwobenheit in Geflechte betont. Autorinnen wie Donna Haraway oder Karen Barad versuchen, die Welt als Gewebe zu denken, in welchem menschliche und nicht-menschliche Akteur*innen verflochten (entangled) sind. Dadurch wird versucht, Dualismen wie Natur/ Kultur nicht als ontologisch unterschiedlich zu verstehen. Während andere Positionen des Neuen Materia-

lismus einzelne Akteur*innen innerhalb von Geflechten als bereits konstituiert betrachteten, geht Karen Barad so weit, dass es keine Akteur*innen vor den Relationen gibt, sondern dass die diese erst durch Wechselwirkungen – durch Intraaktionen – entstehen. Materie und materielle Phänomene werden bei ihr als Agentien beschrieben, „welche an der (Re-)konfiguration der Verflechtungen von Assemblagen und Netzwerken der Wirklichkeit ebenso wie an epistemischen Prozessen teilhaben“ und „dass Materie und Materialität hybride Phänomene sind und auch aus immateriellen und semantischen Komponenten bestehen“.40 Barad plädiert dafür, dass sich die Wirklichkeit nicht aus „Dingen-an-sich oder aus Dingen-hinter-Phänomenen zusammensetzt, sondern aus Dingen-in-Phänomenen.“41 Mit dem Begriff der Intraaktion legt Barad einen Kontrast zum Begriff der Interaktion, welcher die Beziehung zwischen vorher festgelegten und isolierbaren Entitäten bezeichnet, und betont, dass die „Relata einer Beziehung erst in und durch Relationen in Kraft gesetzt werden und diesen nicht vorausgehen“.42 Karen Barads Ansatz des Agentiellen

36

Siehe Gamble/Harman/Nail 2019.

37

Siehe Barad 2017.

38

Ebd., 15.

39

Siehe Gamble/Harman/Nail 2019, 111ff. Sie unterschieden zwischen einem performativen, negativen und vitalen

Neuen Materialismus und sprechen sich für den performativen Ansatz aus. 40

Witzgall 2014, 16f.

41

Barad 2007, 140.

42

Hoppe 2021, 63.


Realismus ist in Bezug auf meine Untersuchungen im Verzascatal besonders interessant, weil dadurch vermeintlich lineare Kausalketten durch die Betonung von ständig ablaufenden Intraaktionen hinterfragt werden können. Die Herangehensweise an das Phänomen mit der Brille des Agentiellen Realismus ermöglicht es mir, alle Materialien ernst zu nehmen und den Menschen nicht die Vormachtstellung zuzuweisen. Während Barad ihre Ausführungen anhand von wissenschaftlichen Laborexperimenten ausführt, versuche ich, ihren Vorschlag auf die Konstellationen im Tal zu übertragen. Ich betrachte das Ereignis des leeren Stausees von Vogorno im Sinne von Barad als Phänomen, als die kleineste ontologische Einheit. Sie beschreibt, dass Intraaktionen materielle Anordnungen umfassen43 und dass „agentielle Schnitte eindeutig Grenzen und Eigenschaften von Entitäten innerhalb von Phänomenen hervorbringen.“44 Somit bezeichne ich meine Beobachtungen und meinen Fokus – meine Perspektive auf die Konstellationen im Tal als agentielle(n) Schnitt(e). Durch die ständig ablaufenden Intraaktionen werden unterschiedliche Agentien konstituiert. Ich erkenne Flechten, Gneis, die Frauen im Tal, die Staumauer etc. als Agentien, die durch Intraaktionen innerhalb des Phänomens des

43

Barad 2017, 19f.

44

Ebd., 34.

leeren Stausees hervorgegangen sind, die immer wieder ineinandergreifen und sich dynamisch neuformieren und konstituieren. Im folgenden Abschnitt mache ich mithilfe der digitalen Publikation Feral Atlas einen Vorschlag für eine methodische Lesbarkeit möglicher Spuren und Verstrickungen im Zusammenhang mit dem Bau der Contra-Staumauer. Da es sehr wenige historische, geologische, biologische, ökologische oder anthropologische Studien zu den Auswirkungen der Staumauer auf die Vegetation des Tals gibt, führe ich mögliche Beobachtungen aus, welche potentiell für das Verzascatal denkbar wären. Ich verstehe diese Ausführungen als eine Sammlung möglicher wildwüchsiger Herausforderungen und Veränderungen für das Tal.

WILDWÜCHSIG DER FERAL ATLAS ALS BEISPIEL Die Landing Page der Webseite des Feral Atlas erscheint wie ein digitales Buchcover mit dem kurzen Beschrieb, dass der Atlas die Lesenden dazu einlädt, ökologische Welten zu erkunden, die erschaffen werden, wenn nicht-menschliche Entitäten mit menschlichen Infrastrukturen verstrickt werden (Abb.1).


Auf den ersten Blick erscheint der Feral Atlas wie eine herkömmlich formatierte, linear lesbare digitale Buchpublikation, wie ein Sammelband aus Feld- und Erfahrungsberichten von Geistes-, Naturwissenschaftler*innen und Künstler*innen, die uns zeigen sollen, „how to recognize «feral» ecologies“.45 Der Schein trügt; mit einem Click auf Enter tauchen wir ein in das patchy Anthropocene (Abb.2).

verschiedenen Schlagworten versehen werden. Durch das ständige Umherschwirren der Illustrationen befindet sich der Green Frog zunächst in enger Nachbarschaft zum Marabou Stork und zum chemischen Element Phosphor. Eine Minute später jedoch befindet er sich neben den Muscheln, die mit dem Schlagwort Stream Pollution versehen sind, sowie neben einer Kurve, dem Underwater Noise. Mit diesen sich ständig neu arrangierenden Nachbarschaften der Bildsymbole zeigen die Autor*innen die Relevanz, Agentien und Relationen in ständiger Wechselbeziehung mit ständig neuen Nachbarschaften zu verstehen. Die digitale Publikation spielt mit einer Karte, auf welcher die Geschichten als sich bewegende Symbole kontinuierlich neue Verbindungen bilden, wodurch keine lineare, chronologische Geschichte erzählt wird und der fragmentarische, lückenhafte Charakter uns Betrachtende multiple Verbindung selbst herstellen lässt. Diese Feral Entities sind jeweils einer der vier historischen Landschaftskategorien Invasion, „Empire, Capital oder Acceleration zugeordnet (Abb.3).

Auf der Webseite tummeln sich diverse kleine Illustrationen verschiedenster Entitäten und Akteur*innen, welche durch das Darüberfahren des Cursors mit Namen betitelt und mit

45

Mit dem Terminus Feral bezeichnen die Autor*innen Ökologien, die von durch Menschen gebaute Infrastrukturen

gefördert oder initiiert wurden, sich aber dann ohne menschliche Kontrolle entwickelt haben.


Per Mausklick gelange ich zu einer Verortung des Symbols in der spezifischen Landschaft. Die Künstlerin Feifei Zhou kreierte in Kollaboration mit vielen weiteren Künstler*innen vier verschiedene Landschaften, die als Anthropozän-Detonatoren-Landschaften gelesen werden sollen und historisch relevanten Gründungskonjunktionen folgen; der europäischen Invasion Amerikas Ende des 15. Jh. (Invasion), Konjunktionen des Kapitals im späten 18. und frühen 19. Jh. (Capital), der Entstehung von grossen europäischen Imperien des 16. bis 20. Jh. (Empire) und der grossen Beschleunigung nach dem 2. WK mit dem Aufkommen neuer Modernisierung-und Entwicklungsmodelle (Acceleration).46 Diese Landschaften werden jedoch nicht in einer chronologischen Abfolge aufgeführt, wie es beispielsweise in einer gedruckten Publikation geschehen würde, sondern laden dazu ein, anachronistisch zu verknüpfen und zu vernetzen. Die Künstlerin hat sich der

46

Zhou 2020.

komplexen Aufgabe angenommen, diese historischen Landschaften des Anthropozäns zu visualisieren und die Auswirkungen und Verflechtungen, ausgehend von den Infrastrukturen, sehr detailliert zu illustrieren. Die Art und Weise, wie die Zeichnungen formal gelesen werden sollen, entspricht den Blickpunkten der jeweiligen Struktur, Bewegung und des Machtgefälles der historischen Konjunktur; so blicken wir als Betrachtende der Empire-Landschaft von einem hohen Punkt auf das Land hinab (Abb.4),

die Kapitallandschaft ist in ein geometrisches Raster eingepfercht (Abb.5) und


die Acceleration-Landschaft folgt dynamisch- schlängelnden Linien (Abb.6).

Die Invasions-Landschaft soll die Weite einer unentdeckten und zu entdeckenden Landschaft suggerieren und kann in drei Teilen der Zeitlichkeit gelesen werden: Davor, während, danach (Abb.7).

Obwohl die Landschaften spezifischen historischen Konjunkturen und den dazugehörigen Anthropozän-Sprengkörpern zugeordnet sind, kommen verschiedene Zeitlichkeiten und Skalierungen zusammen. So befindet sich in der Empire-Landschaft beispielsweise ein Kreuzschiff neben einem Sklav*innenschiff, die beide auf dieselbe Insel zielen, welche einst wichtige Lokation einer kolonialen Zuckerplantage war und heute als Ziel für Ökotourismus gilt (Abb.8).47

47

Ebd.

Jedes wilde Wesen hat einen Platz in einer Anthropozän-Detonator-Landschaft. Auf diesen Landschaften können wir uns als Betrachtende einerseits auf Schatzsuche nach Entitäten begeben und andererseits können wir die Landschaft als solche in ihrer Dichte und historischer Kontextualisierung lesen. Klicke ich innerhalb dieser Landschaft auf den roten Punkt, gelange ich auf eine Zwischenseite, in welcher die Entität mit sogenannten Tippers verschlagwortet wird und wo verschiedene Gedichte in Video- und Textform aufgeführt sind (Abb.9).


Tippers – Kipppunkte – sollen den Lesenden helfen, diese Infrastrukturen zu verstehen und deren menschliche und nicht-menschliche Auswirkungen anzuschauen – Lücken und Risse zu finden. Was verschwindet durch diese Infrastruktur, was breitet sich aus? Die Tippers sollen gemäss den Autor*innen als Verben gelesen werden, wie beispielsweise (to) take, (to) pipe, (to) burn, (to) speed.48 Von dieser Zwischenseite gelange ich letztendlich zu den spezifischen Feldberichten, welche von Autor*innen unterschiedlicher Disziplinen zu den spezifischen wilden Entitäten verfasst wurden. Als letzte Ebene der Webseite ist noch ein Reading Room aufgeführt, wo einerseits weiterführende Artikel zu finden sind und andererseits Anleitungen, wie die Webseite gelesen werden soll. Der Feral Atlas ordnet, gliedert und vergleicht die menschlichen und nicht-menschlichen, verflochtenen Geschichten in drei Achsen. Den bereits vorgestellten Anthropozän-Detonatoren-Landschaften, den Tippers und den Feral Qualities. Als wilde Qualitäten, bezeichnen die Autor*innen Wege, wie sich die Entitäten den Infrastruktu-

48

ren anpassen.49 Die unterschiedlichen Achsen kommen auf dem Superindex in einer Übersicht zusammen. Je nach Bewegung der Maus auf spezifische Begriffe, erscheinen die jeweiligen dazugehörigen Entitäten, während die restlichen Entitäten halbtransparent in den Hintergrund rücken – Schichten von spezifischen Verflechtungen werden so wahrgenommen (Abb.10).

Es lässt sich festhalten, dass die formale Vernetzung, Verknüpfung und Verflechtung und die Kategorisierung, Ordnung und Klassifizierung der einzelnen Akteur*innen im Vergleich zu den einzelnen Feldberichten enorm in den Vordergrund rückt. Die Webseite erlangt, gerade im Vergleich mit analogen Sammelbänden, bestehend aus ähnlichen interdisziplinären Beiträgen50, einen enorm interaktiven und vernetzten

Den Terminus tipper oder tipping point in Bezug auf ein System erlangte im Diskurs um das Anthropozän An-

klang bei diversen Autor*innen. So verweist auch die Literaturwissenschaftlerin Eva Horn in ihrer Publikation Die Zukunft als Katastrophe auf den Begriff tipping Point um zu kennzeichnen, dass innerhalb von (selbstregulierenden) Systemen ein spezifischer Kipppunkt erreicht werden kann, welcher alles grundsätzlich verändert, in: Horn 2014, 18. 49

Tsing/Deger/Keleman Saxena/Zhou, Tippers 2020.

50

Siehe z.B. Tsing/Swanson/Gan/Bubandt 2017.


Charakter. In Bezug auf meine Untersuchungen im Verzascatal nehme ich die komplexen und kontinuierlichen Veränderungen der Relationen sowie die flache Hierarchie der diversen Entitäten mit.

Welche Geschichten und Materialien erkenne ich im patchy Anthropozän des Verzascatals?

DIE STAUMAUER ALS SPRENGKÖRPER Die Infrastruktur der Contra-Talsperre im Verzascatal lässt sich gemäss dem Feral Atlas in der Acceleration-Landschaft einordnen. Der Ausbau der Wasserkraft in der Schweiz ging mit den wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen des Landes und Modernisierungsbestreben nach dem 2. WK einher.51 Der darauffolgende Wirtschaftsboom und die Elektrisierung verschiedener Bereiche, wie beispielsweise dem Eisenbahnnetz (SBB), aber auch der Entwicklung der städtischen Elektrizitätsbedürfnisse und der Industrie, führten zu einem Aufschwung der Planung und des Baus von Wasserkraftwerken. Zwischen 1950

51

Saini, 2016, 7f.

52

Steinbrugge/Allen/Handin et.al 1972, 14.

und 1970 wurden in der Schweiz fast 80 Staudämme mit einer Höhe von mehr als 15m gebaut. Die Staumauer als infrastrukturellen Sprengkörper innerhalb einer Detonator-Landschaft der Akzeleration anzudenken, erachte ich als hilfreich um die Situation im Verzascatal zu verstehen. Durch den Bau dieser Infrastruktur entstanden neue Herausforderungen für Menschen und Nicht-Menschen des Tals. Die Reaktionen, die auf diese Veränderung der Landschaft folgten, können vielleicht auf einer Ebene als kausal und chronologisch bezeichnet werden, führen aber relativ schnell zu wilden Verstrickungen. Im August 1964 begann die Erstbefüllung des Stauseebeckens des Lago di Vogorno.52 Im Mai 1965 begannen bereits erste Erdbeben spürbar zu werden. Die grössten seismischen Beben traten im Oktober und November 1965 auf, kurz nachdem der See bis zu seinem Maximum gefüllt worden war. Über das Ausmass der Zerstörung ist wenig bekannt, jedoch wurde in Erwägung gezogen, die Bewohnenden des Dorfes Berzona, welches sich ganz in der Nähe der Staumauer befindet, zu evakuieren. Die anschliessende Leerung und Wiederauffüllung des Beckens führte zu einem Rückgang


der seismischen Aktivität. Allerdings sind, obwohl Verwerfungen und seismische Aktivitäten bekannt sind, kaum geologische Studien zum Ort veröffentlicht worden. Diese menschlich gebaute Infrastruktur führte zu ungeplanten Veränderungen und Herausforderungen für die Landschaft – der Mensch hatte in diesem Falle direkte Auswirkungen auf die seismische Aktivität.

DIE ENTITÄTEN ALS WILDWUCHS Durch den Bau der Staumauer veränderte sich die Landschaft und die Ökologie des Tals. In diesem Kapitel widme ich mich verschiedenen Akteur*innen, die aufgrund des Baus der Infrastruktur Veränderungen erfuhren und in Wechselwirkung damit stehen. Die einzelnen Agentien führe ich als Glossareinträge aus, um zu betonen, dass meine Ausführungen einen Beginn der wilden Entitäten darstellen und es wohl noch etliche weitere wildwüchsige Entitäten gäbe, die Wechselwirkungen mit der Staumauer und dem Stausee eingingen, eingehen und eingehen werden.


GNEIS

Das Verzascatal befindet sich im Bereich des kristallinen Tessiner Massivs.53 Die Decken weisen vorwiegend Kerne aus Gneismassen und einem Mantel aus sedimentärem Gneis auf. Gneis ist ein metamorphes Gestein, welches aus Feldspat, Quarz und (mehreren) Glimmern besteht und unter hohen Druck- und Temperaturbedingungen aus einem bereits vorhandenen Gestein entsteht.54 Bei diesem Transformationsprozess bleibt der Aggregatzustand erhalten, jedoch bilden sich neue Mineralien. Der Verzascagneis ist ein dunkelgrauer Zweiglimmergneis (Biotit und Muskovit) und besticht durch seine oftmals spezifische, in Wellenlinien geschichtete Beschaf-

53

Gschwend 1946, 4f.

54

ETH Materialsammlung 2016, 5.

55

Gschwend 1946, 6.

56

Ebd., 8.

fenheit. Verwerfungen im Gneisgestein der Talhänge treten im Tal oftmals als grosse Bruchzonen auf, wo die Gneise in Breccien oder sogar zu feinen Gesteinstrümmern, den Myloniten zerkleinert werden.55 Von grosser Bedeutung für die unterschiedlichen Gneisformen waren die eiszeitlichen Gletscher (Verzascagletscher). 56Das Verzascatal ist bekannt für seinen sanft abgeschliffenen Gneis durch den Fluss. Das Wasser des Flusses im hinteren Teil des Tals wäscht auch heute noch die weicheren S e d i m e ntschichten und Gneisbrocken aus. Im vorderen Bereich des Tals, wo sich heute der Stausee befindet, wird der Gneis nicht mehr durch die Wasserströmung des Flusses ab-


geschlif fen. Ve r za s c a gneis wird im Tal seit 1873 systematisch in diversen Steinbrüchen abgebaut und bedeutete bis in die 1960er-Jahre ein bedeutender Wirtschaftszweig für das Tal, spezifisch für den hinteren Teil um Brione. Heute ist nur noch der Steinbruch Soriöö im Sei-

57

Häberling/Kiefer/Hurni/Raubal 2021, 7.

tental Val d‘Osura von der Firma Graniti Buzzini in Betrieb. Die Rustici des Tals sind grösstenteils aus Verzascagneis gebaut. Auch der Beton für die Staumauer wurde aus diesem Gneis hergestellt – es wurde extra dafür bei einer Verwerfung am Osthang oberhalb der Baustelle ein Steinbruch erstellt.57


MAUERFLECHTE

Gneis ist ein guter Wirt für die Mauerflechte – für verschiedene Formen der Flechte Lecanora Muralis. Unterarten der Lecanora Muralis besiedeln die freistehenden Gneisbrocken, aber auch die Steine der Rustici, die Strassenpfosten oder auch das Wellblech der verkommenen Häuser in Vogorno. Flechten sind eine symbiotische Lebensgemeinschaft aus einem Pilz (Mykobiont) und einer oder mehreren Algen (Photobiont).58 Zusätzlich bergen Flechten tausende weitere Bakterien oder Pilze in ihren Thalli.59 Diese Mauerflechte ist im

58

Schöller 1997, 2.

59

Pringle 2017, G157.

60

Ebd., G161.

61

Siehe Mailkontakt mit Christoph Scheidegger 2022.

heutigen Vogorno überall aufzufinden, und befand sich wohl auch im unteren Teil des Dorfes – in Vogorno Pioda. Flechten sind enorm widerstandsfähige Wesen und können in den widrigsten Umständen überleben – sie sterben nicht aufgrund ihres Alters.60 Unter Wasser können sie jedoch nicht überleben. Durch die Stauung des Flusses wurden grosse Teile des Gesteins überflutet; dadurch wird sich die Flechtenpopulation wohl stark verringert haben.61 Meine Beobachtungen des Verzascagneises im leeren Flussbett zeigten, dass die Gesteine


von keiner Flechtenpopulation mehr besiedelt werden. Da ein Grossteil der Gesteinsbrocken unter Wasser getaucht wurden, konnten die Mauerflechten nicht überleben – der Stausee hatte direkte Auswirkungen auf die Flechten. Obwohl einige Flechtenarten, wie beispielsweise Krustenflechten auch bei häufiger Überflutung überleben können, benötigen diese doch eher klare, rasch fliessende Gewässer um längerfristig weiterleben zu können.62 So kann auch diese Flechtenart, die weniger sensibel auf Überschwemmung reagiert als die Lecanora Muralis, dadurch zum Absterben kom-

62

Wirth 1997, 116.

men. Flechten erachte ich als wichtige Agentien im Anthropozän. Einerseits aufgrund ihrer Überlebensmöglichkeit in den extremsten Landschaften und aufgrund ihrer rhizomatischen, symbiotischen Struktur, welche Verwobenheiten in einem mehr-als-menschlichen Anthropozän betont. Andererseits aufgrund ihrer quasi Unsterblichkeit, weil ihr Altern nicht zu einem natürlichen Tod führt. Altern wird durch eine verkleinerte Wahrscheinlichkeit der Reproduktionsfähigkeit und einer erhöhten Probabilität des Todes durch Zeit definiert. Die Künstlerin und Ingenieurin Adriana Knouf arbeitet seit


einiger Zeit an der Züchtung von Flechten. In ihrem Text Dearest Xen (Letters to Lichen), der Teil der Ausstellung No Linear Fucking time in der basis voor actuele kunst ist, beschreibt die Autorin die Relevanz, die Zeitlichkeit von Flechtenwachstum mit unserem menschlichen Wachstum zu verbinden, wie die Zeiten sich überlappen und wie Flechten uns verhelfen können, Zeiten im Anthropozän als mehrdimensional und nicht-linear zu betrachten.63 Doch wie am Verzascatal ersichtlich wird, kann auch ein filamentöser Pilz wie die Lecanora Muralis sterben – beispielsweise durch eine menschlich gebaute Infrastruktur und Veränderungen von Landschaften. Auch die Bakteriologin Anne Pringle schreibt, dass Flechten auf Stei-

nen essentielle Lebewesen von Landschaften sind, Signale von sauberer Luft und Stabilität.“64 Das Wachstum der Flechten und die Transformationsprozesse der Entstehung von Gneis sowie deren Oberflächenveränderung sind sehr langsame Prozesse. Diesen langsamen Prozessen wirkt der Eingriff durch den Bau der Talsperre wie ein Bruch entgegen. Das kurze Intermezzo des leeren Stausees lässt es nicht zu, dass sich Flechten wieder auf dem entblössten Gestein ansiedeln. Dafür ist die Zeitspanne zu kurz.65

63

Knouf 2021.

64

Pringle 2017, G166.

65

Siehe dazu Lichenometrie: Flechten werden aufgrund ihrer extrem langen Lebensdauer und ihrem beständig

regulierten Wachstum als eine Datierungsmethode benutzt, um das Alter von Felsen oder Werksteinen zu bestimmen, in: Knouf 2021.


SEDIMENTE

Von grosser Bedeutung für die Artenvielfalt eines Stausees ist vor allem die Bodenregion, denn das Bodensediment, der Schlamm, bildet das Zentrum der mikrobakteriellen Aktivität.66 Der Gewässergrund wird

66

Uhlmann/Horn 2006, 96.

von diversen Einzellern, Würmer und Insektenlarven sowie einem Algenteppich besiedelt, die wiederum eine Nahrungsgrundlage für Jungfische bilden. Dieses Ökosystem wurde im Verzascatal in den letzten Jahrzehnten aufgebaut und erlebte nun durch die Leerung des Sees eine abrupte Zäsur. Das Bodensediment trocknete aus und viele Mikroorganismen starben dadurch ab.


SÜSSWASSER

Stauhaltungen unterbrechen das Fliessverhalten des Flusses führen zu morphologischen und ökologischen Veränderungen oberhalb und unterhalb der Staumauer. Unterhalb der Talsperre treten nur noch selten Hochwasserereignisse auf und nur noch Restwasser gelangt in diese Gebiete. Oberhalb der Staumauer hingegen schwankt der Wasserpegel stark. Der enge, vordere Teil des Verzascatals wurde durch die Talsperre künstlich von einem Ökosystem Fluss in ein Ökosystem See umgewandelt. Ein künstlicher Stausee kann viele wichtige Lebensräume eines Sees entwickeln, insbesondere die Freiwas-

67

Uhlmann/Horn 2006, 92.

68

Gerster/Rey 1994, 7.

serregion und die Seebodenfläche.67 Allerdings muss die Aufenthaltszeit des Wassers im Stausee lange genug andauern, damit dem Plankton genügend Zeit zum Wachstum bleibt, um eine Basis für artenreiches Leben im See zu bilden. Während mehr als 50 Jahren konnte im Lago di Vogorno somit ein mehr oder wenig beständiges Ökosystem entstehen (eine grosse Herausforderung bedeuteten stets die stark variierenden Wasserstände). Durch das Entleeren des Stausees im Januar 2022 veränderte sich die Gewässermorphologie des Mikroklimas im Unterwasser.68


FORELLE

Das klare Wasser des Flusses Ver zasca beherbergte vor dem Bau der Staumauer viele Fische. Insbesondere bekannt war der Fluss für die Bachforelle.69 Zusätzlich wurde in Frasco nach dem 1. WK eine Fischzucht eingerichtet. Die rasche Entleerung des Stausees führte wohl zu einem grossen Fischsterben im Lago di Vogorno. Am Beispiel der Spülung des Stausees in Livigno wurde festgestellt,

69

Gschwend 1946, 180.

70

Gerster/Rey 1994, 37.

dass durch die „aggressive Sanddrift der Spülung die Schleimschicht von Forellen mechanisch geschädigt wurden; Feinstoffe führten zu einer Verstopfung der Kiemenblätter.“70 Dazu kommt, dass die Fische bei der Leerung des Stausees rasche Unterschlupfmöglichkeiten weiter hinten im Flussbereich finden mussten.


VÖGEL

Der ständig variierende Wasserstand des künstlichen Sees bildet eine Herausforderung für die Uferregion und die Zerstörung wichtiger Lebensräume für Vögel.71 Das Staubecken ist von engen Hängen umgeben, deren unterer Teil aus kargem Boden mit wenig Ufervegetation besteht. Eine Studie der Virginia Tech University untersuchte die Auswirkungen der Talsperrenkonstruktion (Vogorno und Tuzlica Damm in der Türkei) auf Vögel und stellte fest: „Although there is clearly plenty of water above the dam, the condition of the banks is

not conducive to stable nesting sites for birds. The construction of the Verzasca Dam destroyed the habitats of bird species in this area, and the inconsistent water levels prevent new habitats from establishing.“72 Die Autor*innen betonen, dass der Bau der Talsperre im Verzascatal spezifisch grosse Schäden auf die biologischen Vielfalt des Tals verursachten, denn nur sehr wenige Pflanzen- oder Tierarten konnten auf dem kahlen, leblosen Boden um den Stausee gedeihen.

71

Cordova/Hughes/Malone/Sams/Sparkman/Köklü 2014.

72

Ebd.


EDELKASTANIE

Seit einigen Jahren sucht eine Edelkastanienplage das Tessin und sehr spez i f i sc h auch das Verzascatal heim. Die Edelkastaniengallwespe, eine parasitische Wespe, stammt aus China und gelangte durch globale Bewegungen in den südlichen Teil der Schweiz. Der Befall der Wespe führt zum „Absterben der Triebe, reduzierter Marronibildung und schütteren Baumkronen“.73 Vor allem in Kombi-

73

BAFU 1994.

74

Gschwend 1946, 175.

75

Gespräch mit Maris Quadri und Marra Desi 2022.

nation mit dem Kastanienrindenkrebs kann der Bestand der Edelkastanie langfristig bedroht werden. So beobachtet auch Maris Quadri, eine meiner Gesprächspartnerinnen aus Vogorno, in den letzten Jahren eine zunehmende Veränderung der Kastanienwälder im Verzascatal. Ob und wie diese direkt mit dem Stausee zusammenhängen, bleibt unklar. Vor dem Bau der Staumauer bestach das Landschaftsbild des Verzascatals durch grossflächige Kastanienwälder.74 Die Früchte der Edelkastanie wurden gekocht, gedörrt oder gebraten. Eine Spezialität des Tals waren gekochte Marroni, ein Gericht mit dem Namen Farü.75


UVA AMERICANA

Grösstenteils wurde an den steilen Hängen im Verzascatal die Traubensorte Uva Americana angebaut.76 Die Reben gediehen auf den trockenen, steinigen Böden des Tals sehr gut. In Vogorno gab es (Stand 1946) mehrere Rebstöcke der Uva Americana, die über 100 Jahre alt waren, während die Traubensorte normalerweise etwa 30–40 Jahre alt wird. Bis in die 1950er Jahre wurde

76

Ebd., und Gschwend 1946, 156.

77

Gschwend 1946, 151–157.

der Ertrag der Weinberge verkauft und brachte dadurch Geld ins Tal.77 Die Trauben erster Qualität der Sorte Uva Americana wurden mehrheitlich als Tafeltrauben expor tier t, während aus den restlichen Trauben Wein und Grappa hergestellt wurde. Viele dieser Weinberge mussten dem Stausee weichen.


WIND

1946 wurde festgehalten, dass im Verzascatal vor allem Nord, Nordostund Südwinde vorkamen.78 Maris Quadri und Marra Desi berichteten über die starken Windböen in den letzten Jahren und klagten über den Sand, der sich seit der Leerung des Stausees überall im Tal ablagert. Aufgrund der trockengelegten Bodensedimente des leeren Stausees werden diese kleinen Sandpartikel durch die Lüfte des Tals getragen. Schon die teilweise stark sinkenden Wasserstände des Stausees führten zu Schwierigkeiten mit Sandstürmen.79

78

Gschwend 1946, 19.

79

Hotz (unbekanntes Datum).

Monika Hotz von der Tessiner Zeitung berichtete bereits 2000 von den „staubigen Stuben am Stausee“ . Wenn der Wasserpegel des Stausees sinke, „fegen stinkende Sandstürme über die anliegenden Gemeinden“. In ihrem Artikel interviewt sie Maris Quadri sowie den Gemeindepräsident Giuseppe Bordoli, welche beide über die Gefahr dieser Sandstürme und der Schwebstoffe in der Luft berichten. Die Menschen im Tal klagten bereits damals über Atembeschwerden und Halsweh, und dass sie alle ihre Fenster und Dächer erneuern mussten, weil der feine Sandstaub überall in die Häuser eindringe. Durch die Monate des leeren Stausees hatte sich die Situation im Tal verschärft und zeigt bis jetzt noch keine Besserung.



AGENTIELL Die Konstellationen im Verzascatal sind komplex und bestehen aus unzähligen menschlichen und dinglichen Akteur*innen, die sich in ständiger Intraaktion neu formieren und konstituieren. Diese Intraaktionen sind abhängig von den räumlichen, materiellen und diskursiven Elementen. In der KARTE ist mein momentaner agentieller Schnitt ausgeführt.

Welche Mensch-Mensch-Ding-Konstellationen sind zu diesem aktuellen Zeitpunkt erkennbar und benennbar und wie materialisieren sich diese?



FORSCHEND-VERMITTELND Ich erachte meine Herangehensweise an das Tal, meine Art und Weise, dem Ort zu begegnen, im Sinne einer künstlerisch-forschenden Vermittlung. Suchend nehme ich Dinge wahr und stelle Verknüpfungen her. Ich stelle dem Phänomen Fragen und orientiere mich auf forschende Art und Weise. Diese Strategie dient dazu, Relationen zu skizzieren und mit dem Ort zu intraagieren. Meine herantastende Suchbewegung knüpfe ich an die vermittlerische Strategie von Elke Krasny an. In ihrer Publikation Stadt und Frauen. Eine andere Topographie von Wien80, geht sie vom Stadtraum, von der Strategie des „aufdie-Strasse-gehens“ aus. Sie versucht durch genaues Zuhören und Wahrnehmen, alternative Zugänge zu Wissen zu generieren, um „uns in die Geschichte der Körper (...) hineinzuversetzen.“81 Diesen Versuch, mehrdeutige, alternative Geschichten von Dingen innerhalb des Phänomens des leeren Stausees im Verzascatal zu kennzeichnen, erachte ich als eine vermittlerisch-forschende Strategie. Während ich dem Feld alleine begegnete, bewegt sich Krasny für ihre Forschung gemeinsam mit Frauen im Stadtraum. Mit künstlerischen-forschenden Strategien befrage ich den Ort und bin interes-

siert an den vermittlerischen Aspekten dieser Bewegungen; nicht im Sinne davon, ausgehend vom Ort ein Kunstwerk zu schaffen und dieses dann zu vermitteln, sondern den vermittlerischen Anteil direkt in den künstlerischen Arbeitsprozess einzubeziehen. Mein Ansatz ist unter anderem vom Konzept der Ästhetischen Forschung von Helga Kämpf-Janssen beeinflusst.82 Die Autorin verknüpft dabei die eigene Wahrnehmung mit (proto)-wissenschaftlichen Methoden und macht dies für die Pädagogik (und Vermittlung) fruchtbar. Mit anfänglichen, grossen Fragen richtete ich mich an das Tal. Bei jedem Besuch und aus jedem Entwicklungsschritt meines Projektes ergaben sich weitere spezifischere Fragen. Ich befragte die Frauen, die Flechten, die Steine und den Wind im Tal aber auch externe Expert*innen, um die Vorgänge im Tal zu verstehen. In iterativen Prozessen kehrte ich immer wieder zu den grossen Fragen zurück, um wieder neue, kleinere Fragen zu entwickeln. Vermittlung bedeutet meines Erachtens auch Zuhören.83 In Bezug auf das Tal und dessen Geschichten wird diese Strategie besonders wichtig. Ich verbrachte viele Tage und Stunden im Dorf Vogorno, im Tal und im leeren Stauseebecken und nahm Kontakt mit den

80

Siehe Krasny 2008.

81

Krasny (unveröffentlichtes Manuskript), 142.

82

Siehe Kämpf-Janssen 2012.

83

Siehe zum Zuhören in der Vermittlung Sahila Shagasi 2020, Zuhören als vermittlerische Haltung.


Menschen vor Ort auf. Ich begegnete ihnen, weil ich interessiert an ihren Geschichten war; an den Erzählungen der Frauen, die bereits im Tal gelebt haben, bevor die Staumauer gebaut wurde. Spezifisch an den Geschichten der Frauen interessiert war ich, weil die Männer des Tals vielfach saisonal in anderen Gebieten oder gar Ländern arbeiteten, die Frauen aber zurückblieben und sich um die Ländereien, den Ackerbau und das Vieh kümmerten. Vor allem aber, weil die Geschichten dieser Frauen viel weniger gehört wurden als die der Männer im Tal. Ihren Erzählungen wurde bisher kaum zugehört. Durch meine Fragen konnte ich ihnen einen Raum geben um ihre Erinnerungen hervorzuholen und zu teilen. Geprägt von den Netzwerktheorien und dem Verständnis von einem mehr-als-menschlichen Anthropozän begegnete ich dem Tal. Es ist mir ein Anliegen, die Menschen mit ihren Geschichten nicht in den Vordergrund zu rücken, sondern allen Dingen und Materialien „zuzuhören“, Intraaktionen wahrzunehmen und Geschichten zu vermitteln und zu transportieren. Für mich bedeutet dieser vermittlerisch-forschende Ansatz, mich diesem Feld in einer mehrdimensionalen, rhizomorphen und komplexen Art zu nähern,

Spuren aufzudecken und zu verbinden. Der Terminus Sympoiesis, den Donna Haraway als Mitmachen84 beschreibt, wird bezüglich Relationen des Tals und deren vermittlerischen Komponente interessant. Der Begriff stammt von Beth Dempster und bezeichnet „kollektiv produzierende Systeme“85, worin sich durch ständige neue Relationen „überraschende Änderungen“ ergeben und einer Vormachtstellung des Menschen innerhalb eines Systems gegenwirkt. Durch Intraaktionen befinden sich alle konstituierenden menschlichen und nicht-menschlichen Entitäten in Prozessen, die produktiv-vermittlerisch wirken können. Besonders dann, wenn diese durch kollaboratives Arbeiten86 verstärkt werden. Die Verbindung von handlungsmächtigen Materialien, die in sympoietischen Systemen agieren, erweitert kollaborative Kollektive um nicht-menschliche Dinge. Durch meine Beobachtungen im Tal vollzog ich ständig agentielle Schnitte. Meine Wahrnehmungen des Tals, der Agentien und der Wechselwirkungen hielt ich in autoethnographischen Forschungstexten fest. Jeder beobachtende Akt stellt gleichzeitig eine Transformation des Beobachteten her; es geschehen ständig Intraaktionen. In diesen Wechselwirkungen, in welche

84

Siehe Haraway 2018, 58.

85

Ebd., 17.

86

Zu Kollaborationen in der Kunstvermittlung siehe Mark Terkessidis, Kollaboration, 2015, der damit beschreibt,

dass die Akteur*innen ihre inhärente Prozessualität wahrnehmen und produktiv machen können.


ich miteingeschlossen bin, sehe ich wiederum die Vermittlung. Auch die Ausstellungssituation erachte ich als sowohl als künstlerisches als auch vermittlerisches Setting, in welchem ich Spuren und Dokumente meiner Recherchearbeit zeige. Geprägt durch mein Studium ist meine künstlerische Herangehensweise vermittelnd-forschend und meine forschend-vermittlerische Herangehensweise künstlerisch. Ich transportiere die Geschichten und Materialien in den Ausstellungsraum und versuche dabei, angelehnt an Karen Barad, eine Art Apparat zu schaffen. Durch eine installative Setzung stelle ich Agentien in den Raum und lasse Platz für weitere Agentien, wie beispielsweise die Besuchenden, Kameras und Handys. So geschehen innerhalb dieses Apparates ständig Intraaktionen und agentielle Schnitte, Agentien werden ständig rekonstituiert, produzieren durch diese Prozesse Wissen und vermitteln dieses. Durch diese Wechselbeziehungen, die ständigen Intraaktionen, geschieht Vermittlung, die sich nicht einfach nur durch Sprache oder meine Handlungen materialisiert, sondern durch die Dinge selbst.


EPILOG: REGEN

Alles im Tal wartet auf den Regen.

Ende Mai waren die Bauarbeiten am Elektrizitätswerk fertiggestellt und Schleusen der Talsperre wurden wieder geöffnet. Damit der Stausee jedoch wieder vollständig gefüllt wird, benötigt es einiges an Niederschlag. Die klimatischen Veränderungen der letzten Jahre führen auch im Tessin zu hohen Sommertemperaturen und einer gleichzeitigen Abnahme von Niederschlägen, was zu Wassermangel im Fluss Verzasca sowie den Flüssen aus den Seitentälern führt.87 Die Menschen im Tal warten auf den Regen, damit sie ihren See mit der glitzernden Oberfläche wieder zurückhaben, damit der Sedimentstaub nicht mehr durch die Luft wirbelt und damit sie nicht tagtäglich die ihres Erachtens „hässliche“88 Steinlandschaft ertragen müssen.

87

Weingartner/Kauzlaric 2015.

88

Maris Quadri, Yvonne Quadri und Marra Desi bezeichneten alle das leere Stauseebecken als brutto.


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ABBILDUNGEN Abb.1 –10 Feral Atlas, Screenshot, (https://feralatlas.org/, letzter Zugriff: 06.06.2022). Abb.2–3 Feral Atlas, Screenshot, (https://feralatlas.supdigital.org/, letzter Zugriff: 06.06.2022). Abb. 4 Feral Atlas, Screenshot, (https://feralatlas.supdigital.org/world/empire, letzter Zugriff: 06.06.2022). Abb.5 Feral Atlas, Screenshot, (https://feralatlas.supdigital.org/world/capital, letzter Zugriff: 06.06.2022). Abb.6 Feral Atlas, Screenshot, (https://feralatlas.supdigital.org/world/acceleration, letzter Zugriff: 06.06.2022). Abb. 7 Feral Atlas, Screenshot, (https://feralatlas.supdigital.org/world/invasion, letzter Zugriff: 06.06.2022).

Abb.8 Feral Atlas, Screenshot, (https://feralatlas.supdigital.org /world/invasion?cd=true&text=feifei-zhou-historical-and-fantastical-landscapes&ttype=essay, letzter Zugriff: 06.06.2022). Abb.9 Feral Atlas, Screenshot, (https://feralatlas.supdigital.org/modes/take, letzter Zugriff: 06.06.2022). Abb.10 Feral Atlas, Screenshot, (https://feralatlas.supdigital.org/index, letzter Zugriff: 06.06.2022).



DANKE VON HERZEN Annemarie, Vanessa und Manuel – für die kluge, inspirierende und unterstützende Begleitung Nadja – Partnerin in Crime und loyalste Seele, für die Unterstützung in jeder Phase der Masterarbeit Meret – für das Layout und die moralische Unterstützung Araya – fürs Teilen der Geschichten, die Übersetzung und das Mitfiebern Timeo – für die Übersetzung Tina – für die spiegelnden und unterstützenden Gespräche und fürs Auffangen Elina und Leander – für die Regieassistenz und die Hilfe im Tal Lawrence – fürs Fels und Wolke sein Monika – für das Lektorat und für die Casa Larina Ramona –für die gemeinsamen Abenteuer und Gespräche



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