100 Blätter ohne zu schlafen

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Martin Disler 100 Bl채tter ohne zu schlafen



Martin Disler 100 Bl채tter ohne zu schlafen



Martin Disler 100 Bl채tter ohne zu schlafen


Impressum Diese Publikation erscheint anlässlich der Ausstellung: Martin Disler 100 Blätter ohne zu schlafen 9. November bis 23. Dezember 2011 Hilfiker Kunstprojekte, Luzern, www.hilfikerkunstprojekte.ch Herausgeber: Markus Hilfiker Redaktion: Isabel Fluri Lektorat: Thomas Hilfiker, Meggen; Franz Müller, Zürich Reprofotografie: Gregor Stäuble, Hilfikergrafik, Luzern Digitale Bildbearbeitung: Raphael Müller, Hilfikergrafik, Luzern Typografie und Layout: Gregor Stäuble, Hilfikergrafik, Luzern Druck: Poppen & Ortmann, Druckerei und Verlag AG, Freiburg i. Br. Auflage: 120 Ex. © 2011 Hilfiker Kunstprojekte, Luzern und Autorin © 2011 für die Abbildungen der Werke von Martin Disler: Irene Grundel, Grenaa (DK) Alle Rechte vorbehalten Printed in Germany ISBN 978-3-033-03142-5 Weitere Informationen zur Arbeit des Künstlers unter www.martin-disler.ch

Dank an: R. B. und A. K.; Irene Grundel, Grenaa (DK); Dr. Franz Müller, Schweizerisches Institut für Kunstwissenschaft (SIK-ISEA), Zürich


Inhalt «Dieses ständige Zeichnen …» – Martin Dislers 100 Blätter ohne zu schlafen Abbildungen

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Werkbeschrieb

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Biografie Martin Disler

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«Dieses ständige Zeichnen …»1 Martin Dislers 100 Blätter ohne zu schlafen

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Das Erschaffen grosser Werkeinheiten oder -serien in-

selbstverordnete Sich-Hineinsteigern in einen inten-

nerhalb kürzerer oder längerer Zeitspannen darf für

siven, sämtliche Energie bündelnden Schaffenspro-

die künstlerische Arbeit von Martin Disler als charak-

zess war also bei Disler keinesfalls blosse Ansage oder

teristisch gelten. Von den bildnerischen Anfängen zu

Attitüde im Sinne einer ironischen Pose oder Geste.

Beginn der 1970er Jahre bis zur letzten Aquarellserie

Damit differierte seine Haltung von jener vieler Zeit-

von 1996 hat Disler immer wieder versucht, ausge-

genossen, die in der Zeit um 1980 für Furore innerhalb

hend von willkürlich gesetzten, zeitlichen und quan-

der Kunstwelt sorgten und deren Schaffen des Öfte -

titativen Prämissen zu einer möglichst hohen Intensi-

ren zusammen mit jenem von Martin Disler präsen-

tät des Ausdrucks zu gelangen. Die 1975 entstandene

tiert und rezipiert wurde. Die Künstler der sogenann-

Zeichnungsserie 100 Blätter ohne zu schlafen, der sich

ten «Transavanguardia», «Neuen Wilden» oder «Figu-

die vorliegende Publikation widmet und die hier erst-

ration Libre» – die Begriffe unterscheiden primär

mals vollständig abgebildet ist, darf zumal in diesem

ähnliche Manifestationen5 in verschiedenen Sprach-

Sinne als typisches Werk eines enormen und viel be-

ge bieten – praktizierten eine figurative und expres-

schriebenen Œuvre gelten.2

sive Bildkunst, wie sie Dislers Arbeiten vordergründig betrachtet auch auszuzeichnen schien. Im Gegensatz

Unter extremen, allerdings selbst definierten und

zu den Vertretern der genannten Tendenzen aber fin-

bisweilen auch paradox anmutenden Rahmenbedin-

det sich bei Disler keine «ironische Brechung» – der

gungen sich einer Art konzentrierten Rausches hinzu-

Anspruch, das «wahre Bild» zu schaffen, war für ihn

geben, war für Martin Disler eine (bild-)poetische Ma-

durchaus verbindlich.6

xime, die er bei verschiedener Gelegenheit – prominent in Bilder vom Maler3 von 1980 – auch schriftlich

Zeichen radikaler Subjektivität, die Untrennbarkeit

dargelegt und in den unterschiedlichsten Medien um-

von Schöpfer und Werk also, finden sich auch in der

gesetzt hat. Für diverse Projekte ist der Arbeits-Exzess

1975 entstandenen Zeichnungsserie 100 Blätter ohne

als tatsächliche Praxis des Künstlers bezeugt 4 ; das

zu schlafen 7 , von der hier eingehender die Rede sein

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soll. Unabhängig davon, ob der Werktitel – er steht,

hat, welches das Bild gleichsam verkörpert; nicht um-

über der Ergänzung «24h», handgeschrieben auf der

sonst hat er das Betrachten des in Episoden fiebriger

Mappe, in welcher die Zeichnungen aufbewahrt wur-

Entfesselung 10 und mitunter blind Geschaffenen als

den – für Martin Disler Absichtserklärung oder Kenn-

wesentlichen Teil seiner Arbeit verstanden.11 Das Kon-

zeichnung post festum war, stellt er den ausserge-

volut der schlaflos, also gesteigert wach und in einem

wöhnlichen Entstehungsprozess der umfangreichen

Akt der Verausgabung «bezeichneten» Blätter stellt

Serie und damit das exzessive Tun des Künstlers ins

denn auch einen enormen Bildreigen dar, der nicht zu-

Zentrum. Überdies fällt auf, dass der Titel zwar das

letzt den faszinierten Betrachter überfordern muss.12

Trägermaterial – Blätter – nennt, nicht aber das Medium oder die angewandte Technik – die Zeichnung,

Was aber zeigen diese 100 Blätter ohne zu schlafen,

das Zeichnen – erwähnt, wie es zu erwarten wäre.

was zeichnet sich in diesen innerhalb des Zeitraumes

Dies ist insofern bemerkenswert, als das «ständige

von einem Tag und einer Nacht bearbeiteten querfor-

Zeichnen» von Martin Disler immer wieder als er-

matigen Bögen ab? Auffallend ist, dass sich die mit

wünschte Grenzerfahrung8 begriffen wurde, und die

weichem, breitem Bleistift gezogenen Linien öfter

Zeichnung in seinem Schaffen der 1970er Jahre das

ähnlich anordnen, um sich aber dann doch zu sehr

wichtigste Medium war. Freilich könnte das Wort

unterschiedlichen und unterschiedlich gut identifi-

«Blätter» hier für die Unmittelbarkeit des Ausdrucks

zierbaren Figurationen zu gruppieren. Nicht wenige

stehen, die der Künstler in seinem Schaffen zu erlan-

Darstellungen lassen einen an Zoo- und Anthropo-

gen beabsichtigte. In diesem Sinne wäre dann die

morphes denken, wobei ein Motiv nicht selten als reine

Zeichnung auch weniger als Medium per se bedeut-

Umrisszeichnung aufscheint. Räumlich-Körperliches

sam, sondern als Technik oder Praxis, der seit jeher

wird durch Binnenzeichnungen und durch auf Land -

die Qualität des unmittelbaren Ausdrucks zugeschrie-

schafts motive anspielende, horizontal ausgerichtete

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ben wurde. Für diese Deutung spricht, dass sich Mar-

Formationen angedeutet. Bisweilen sind mittels

tin Disler selber in der Rolle des Mediums gesehen

grober Schraffuren Akzente gesetzt. Symbolhafte For-

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men und piktogrammartige Figuren wie Dreieck,

Bilderzyklus Amazonas und die Vorarbeit für die Aus-

Pflanze, Insel oder Schiff tauchen in verschiedenen

stellung Das Vokabular von 1976, ein 300 Bildzeichen

Bildzusammenhängen auf. Menschenähnliche Wesen,

enthaltender Telefonbuch-Blindband –, eine grosse

die durch Geschlechtsmerkmale als nackt gekenn-

Nähe zu Symbolen und Piktogrammen. Von solchen

zeichnet sind, bevölkern etliche Blätter. Es wird nach

aber unterscheiden sich die Zeichnungen Dislers auch

dieser kurzen Aufzählung nicht gross erstaunen, dass

dieser Schaffensphase in der unmissverständlichen

Martin Dislers Zeichnungen dieser Jahre – und die

Ambivalenz ihrer Bedeutung. Und wenngleich man

hier thematisierte Serie darf dafür als exemplarisch

vermeintlich eindeutige Motive ausmachen mag oder

und typisch gelten – verschiedentlich mit den Ausdrü-

solche, die in der kürzer oder länger zurückliegenden

cken «Symbol(zeichen)», «Chiffre», «Signet» und der-

Erfahrung des Künstlers gründen, so ist doch das Iden-

gleichen auf den Begriff gebracht und als «knapp for-

tifizieren solcher biografisch zu verortenden Bilder an

muliert und gestalterisch auf das Wesentliche kon-

sich nur mässig interessant und für eine Auseinan-

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dersetzung mit dem Werk wenig ergiebig. Selbstver-

zentriert» beschrieben wurden.

ständlich lässt sich die Präsenz vieler Motive beiEine serielle Arbeit, die ähnliche Motive doch noch

spielsweise mit Martin Dislers Kindheitserlebnissen

ganz anders zeigt, ist beispielsweise ein auf 1974 datier-

in der elterlichen Blumen- und Gemüsegärtnerei, mit

tes Heft mit 38 Zeichnungen: Dort ist es ein A5-Hoch-

der Begegnung mit Helmut Federle15 oder mit Aufent-

format, auf dem die Darstellung selber blattfüllender

halten auf der kleinen, kargen Mittelmeerinsel Capraia

sowie eindeutig vertikal orientiert erscheint und viel

in Verbindung bringen.16 Aussergewöhnlich und bedeu-

mehr schraffierte, dunkle, geradezu malerisch wir-

tungsvoll ist aber vielmehr, wie in 100 Blätter ohne zu

kende Bereiche aufweist als die 100 Blätter ohne zu

schlafen in einer Art surrealistischen Poetik verschie-

schlafen.14 Dagegen offenbaren just die Arbeiten, die

dentlich mehr oder weniger identifizierbare Elemente

in fast unmittelbarer Folge der hier diskutierten Serie

ineinander überzugehen und den Bildraum, meist

entstanden sein müssen – namentlich jene für den

von einem Zentrum her, so erst eigentlich zu eröffnen

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scheinen – ohne jedoch Kompositionsregeln im stren-

Die gut hundert Blätter vermögen indes eher noch als

geren Sinn zu gehorchen. Aus dieser Perspektive wird

irgendeinen narrativen Gehalt ein gewisses «expres-

dann auch die Unterscheidung zwischen Figuration

sives Potential»17 zu vermitteln; schliesslich werden

und Abstraktion obsolet: Was zu sehen ist, ist auf alle

die intimen Formate im Nebeneinander gerade als Re-

Fälle immer etwas Neues oder Anderes, das heisst: So-

sultat eines exzessiven, anstrengenden Schaffenspro-

noch-nicht-Gesehenes. Es manifestiert sich sodann,

zesses erfahrbar. Die einzelnen Zeichnungen, offen-

noch vor jedweder eventuell zu deutenden «Figur», ein

sichtlich zügig zu Papier gebrachte Formen, können in

eigentümlicher Rhythmus, ein ganz bestimmter Duktus

diesem Sinne als bildnerische (Ent-)Würfe charakteri-

der Linie. Wie ein bildhafter Generalbass zieht sich

siert werden. Es ist schon vielerorts – auch in kriti-

auch Dislers prägnante Signatur mit der beigefügten

scher Absicht – bemerkt worden, die Werke Martin

Jahreszahl, die jeweils am unteren Blattrand platziert

Dislers würden eher zum Nachvollzug als zum distan-

ist, durch die Serie. Dadurch fügen sich die Blätter,

zierten, analytischen Betrachten einladen. 18 Dieser

von denen indes auch jedes für sich eine beträchtliche

Prozess, dessen Phasen im Bearbeiten je eines Blattes

Kraft entwickelt, zu einem schlüssigen, wiewohl in

bestand und dessen Dauer von 24 Stunden der Künst-

der Abfolge nicht festgelegten Bilderreigen zusam-

ler selber vorgegeben hatte (oder zumindest schrift-

men. Indem sich Lineaturen wiederholen und doch, in

lich festhielt), ist allerdings nicht einfach so nachzu-

neuem Kontext, je ganz anders prä sentieren, weist

vollziehen; er ist gleicherweise konkret wie abstrakt,

diese so vielfältige, vielteilige Zeichnungsserie – fast

nämlich zeitlich messbar und doch nur vorstellbar.

schon paradox anmutend – ein Moment der eigentli-

Das Wahrnehmen des Werks 100 Blätter ohne zu schla-

chen Verdichtung auf; es zeigt sich das Verbindende ja

fen realisiert sich im Betrachten der enormen Fülle an

nicht bloss zwischen den einzelnen Zeichnungen, son-

Zeichnungen in einem Ausstellungsraum, was sich

dern darüber hinaus in vielen Blättern im Motiv des

nur mit grösserem Bewegungsaufwand bewerkstelli-

Ineinanderübergehens und Verschmelzens vermeint-

gen lässt, oder dann im Betrachten und steten Wen-

lich klar unterscheidbarer Gebilde.

den der Blätter in der Mappe oder der Seiten hier im

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Buch. Jeder Rezipient kann demnach den Zeitrahmen selber bestimmen, innerhalb dessen er diese Vielzahl an bildlichen Impressionen aufnimmt. Ohne selber 24 Stunden schlaflos zu sein, erfährt er aber doch das vom Künstler gesuchte Überfordernde als sinnliche Überforderung im Versuch, dem expansiven wie auch intimen Werk beizukommen. Denn in jedem Fall mündet dieser Versuch am Ende in die Erfahrung einer unaufhebbaren Spannung zwischen einerseits dem seriellen Bilderfluss, dem erst einmal nachgegangen, aber auch der einzelnen Zeichnung 19 oder Lineatur, die beachtet sein will, und andererseits dem Anspruch, Martin Dislers 100 Blätter ohne zu schlafen als Werkganzes recht eigentlich zu erfassen. Isabel Fluri

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«Dieses ständige Zeichnen ist ins Leere-Springen-Lernen». Martin Disler, zitiert aus einem Gespräch mit Zdenek Felix. Zdenek Felix, «Der Weg in die Tiefe, wo die Bilder wohnen», in: Martin Disler, Ausst.-Kat. Museum Folkwang Essen und ARC / Musée d’Art moderne de la ville de Paris, Essen und Paris, 1985, S. 13 – 21, hier S. 18 Ein Blatt der Serie 100 Blätter ohne zu schlafen ist abgebildet in der Marginalspalte des Buches Martin Disler 1949 – 1996, hrsg. von Franz Müller, Zürich: Schweizerisches Institut für Kunstwissenschaft und Scheidegger & Spiess, 2007, S. 71. Als ergiebigste und wichtige Quelle für viele Informationen – auch für weiterführende Literatur – zu Martin Disler seien die eben angeführte Monografie sowie eine wie diese vom Schweizerischen Institut für Kunstwissenschaft (SIKISEA) verantwortete Web-Dokumentation (www.martin-disler.ch) genannt. Auch die Lexikon-Datenbank SIKART (www.sikart.ch) des Schweizerischen Instituts für Kunstwissenschaft bildet 16 Blätter der Serie ab. Martin Disler, Bilder vom Maler, Dudweiler: AQ-Verlag, 1980. Bei Ausstellungsprojekten waren es etwa Dislers verbürgte Anwesenheit und Tätigkeit vor Ort, die das postulierte intensive Schaffen als nicht bloss behauptete Attitüde ausweisen. Es handelt sich bei diesen Bezeichnungen nicht um Namen eigentlicher Künstlergruppen, sondern um Termini technici, mit denen

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Künstler oder Kunstkritiker die Tendenz je nach Herkunft und Motivation der Protagonisten zu fassen versuchten. Zu den diversen Aspekten des acheiropoietischen, nicht von Menschenhand gemachten Bildes und zum Bild als Verkörperung bei Martin Disler siehe Franz Müller, «Utopie des wahren Bildes. Der Künstler Martin Disler in seiner Zeit», in: Martin Disler 1949 – 1996, Op.cit., S. 13 – 35, hier besonders S. 28ff. Die originale Mappe enthält aktuell 103 weisse und graue, ungefähr A3-formatige Blätter, die mit grosser Wahrscheinlichkeit allesamt zur Serie gehören (S. 120 dieser Publikation). Franz Müller schreibt von «gut hundert Bleistiftzeichnungen von 1975» (Franz Müller, «Utopie des wahren Bildes. Der Künstler Martin Disler in seiner Zeit», in: Martin Disler 1949 – 1996, Op.cit., S. 13 – 35, hier S. 24). Eine Rechnung eines vormaligen Besitzers führt «103 Bleistiftzeichnungen» auf (privates Archiv R. B.). Möglich ist, dass es sich bei den «100 Blättern» des Titels um eine ideale Zahl handelt, die primär einfach für «eine grosse Zahl» und nicht so sehr für eine ganz bestimmte Menge steht, was auch eine tatsächliche ursprüngliche Anzahl von 103 Blättern plausibel machen würde. Zum Beispiel das Zitat, das als Motto dieses Textes figuriert. Bereits in den Renaissance-Begriffen von «concetto» (Idee) und «disegno» (Form = notwendige

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äussere Gestalt der Idee) oder auch in der Unterscheidung von «disegno interno» und «disegno externo» schwingt die Vorstellung dieser Unmittelbarkeit in Bezug auf die Zeichnung mit. Vgl. Federico Zuccari, L’Idea de’scultori, pittori e architetti. Turin 1607 und Wolfgang Kemp, «Disegno. Beiträge zur Geschichte des Begriffs zwischen 1547 und 1607, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 19 (1974), S. 219 – 240, sowie zuletzt Werner Busch, «Die Durchdringung von Fläche und Raum in der neoklassizistischen Zeichnung», in: Räume der Zeichnung, hrsg. von Angela Lammert, Carolin Meister et al., Berlin und Nürnberg 2007, S. 91 – 102, hier S. 93. «man könnte sagen: Ich habe mich selber aufgegeben. Die Bilder entstehen» Martin Disler, 1983, zitiert nach Dieter Koepplin, «Gross und klein, expansiv und intim», in: Martin Disler 1949 – 1996, Op.cit., S. 187 – 193, hier S. 188. Siehe dazu Franz Müller, «Utopie des wahren Bildes. Der Künstler Martin Disler in seiner Zeit», in: Martin Disler 1949 – 1996, Op.cit., S. 13 – 35, hier S. 28. Das Moment der Überforderung oder Überwältigung wird im Zusammenhang mit der Rezeption der Werke Dislers immer wieder thematisiert. Der direkte, empathische Nachvollzug wird dabei mitunter zu einer «ikonografischen Analyse» in Kontrast gestellt. Vgl. hierzu Franz Müller,

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«Utopie des wahren Bildes. Der Künstler Martin Disler in seiner Zeit», in: Martin Disler 1949 – 1996, Op.cit., S. 13 – 35, hier S. 29, sowie Julia Gelshorn, «Sich die Seele aus dem Leib schreiben. Text, Schrift und Zeichnung bei Martin Disler», in: Martin Disler 1949 – 1996, Op.cit., S. 51 – 67, hier S. 59. Andreas Vowinckel, «Vom Zeichen zur menschlichen Figur. Das Menschenbild im Werk von Martin Disler», in: Martin Disler 1949 – 1996, Op.cit., S. 69 – 87, hier S. 71. Problematisch an dieser Charakterisierung ist allerdings, dass suggeriert wird, es gäbe im Werk dieses oder anderer Künstler Zeichnungen, die auch «unwesentliche» Elemente enthielten – was solche Werke tatsächlich und zu unrecht in die Nähe einer banalen Zeichenbotschaft stellt, die analog zum Piktogramm entziffert und als Handlungsanweisung oder zumindest eindeutige Aussage begriffen werden könnte. Die Abbildung einer Auswahl von 15 Zeichnungen dieses Hefts findet sich in Martin Disler 1949 – 1996, Op.cit., S. 94. Sämtliche Zeichnungen sind zu finden unter www.martin-disler.ch. Das Zeichnen in Bücher oder Hefte stellte für Martin Disler zumindest im ersten Schaffensjahrzehnt eine gängige Praxis dar. So schreibt beispielsweise Dieter Koepplin schon 1983 von «weit über 200 gemalte{n} und gezeichnete{n} Bilderbücher{n} und Hefte{n}». Dieter Koepplin, «Hineinschauen


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in Dislers Zeichnungen», in: Martin Disler. Zeichnungen 1968 – 1983, Bücher und das grosse Bild <Öffnung eines Massengrabs> von 1982, Ausst.-Kat. Museum für Gegenwartskunst, Basel, Groninger Museum, Ulmer Museum, Musée cantonal des beaux-arts Lausanne, Mannheimer Kunstverein, Mannheim, Basel 1983, S. 12 – 28, hier S. 22. Vgl. zur Auseinandersetzung mit Helmut Federle u.a. Dieter Koepplin, «Hineinschauen in Dislers Zeichnungen», in: Martin Disler. Zeichnungen 1968 – 1983, Bücher und das grosse Bild <Öffnung eines Massengrabs> von 1982, Op.cit., S. 13, sowie Martin Disler 1949 – 1996, Op.cit., S. 22 und S. 251. 1975, möglicherweise zur Entstehungszeit der 100 Blätter ohne zu schlafen hält sich Martin Disler nach 1974 zum zweiten Mal auf der nördlich von Elba gelegenen Insel Capraia auf. Angeregt durch diese Aufenthalte entstehen verschiedentlich «Zeichnungen mit landschaftlichen Motiven wie Bergen, Vulkanen, Hügeln, Wasser oder Bäumen. In einigen Werken verarbeitet er auch ganz direkt das Motiv der Insel. In seiner Vernissage-Ansprache in der Galerie Badkeller, Dulliken, 1973, nennt Jos Nünlist Disler einen <Inselmaler>.» Zitat aus der Web-Dokumentation zu Martin Disler, www.martin-disler.ch. Für weitere Hinweise zu Martin Dislers Biografie vgl. u. a. Martin Disler 1949 – 1996, Op.cit., S. 249 – 259.

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Franz Müller in einem Dossier zu Die Umgebung der Liebe, S. 25, publiziert in: Bericht über die Tätigkeit der Eidgenössischen Kommission der Gottfried KellerStiftung 2005 – 2008, Zürich: Gottfried Keller-Stiftung, 2009, S. 21 – 28. Mit dieser Bemerkung korrespondiert entfernt auch die eigenwillige Kombination von Text verschiedenen Ursprungs, wie er zu finden ist auf der Vorderseite jener Mappe, in der Martin Disler die 100 Blätter ohne zu schlafen aufbewahrte (abgebildet ist sie auf dem Umschlag dieser Publikation): Es findet sich dort, auf einem applizierten mit einer Zeichnung versehenen Blatt, die Worte: «ein Schiff/ wird kommen +/die 7 Weltwunder +/meine 1/2 Verzweiflung/+ der Rest» Während die ersten beiden Zeilen den Titel eines populären Liedes wiedergeben, thematisiert die dritte ein kulturelles Phänomen, die vierte wohl ein vager, ironischer anmutender Ausdruck der eigenen Befindlichkeit, und die fünfte eine Art rhetorischen Schlenker im Sinne eines spöttisch-sarkastischen «Undsoweiter». Diese Koexistenz der einander eigentlich so fremden Formulierungen lässt die Vermutung zu, dass es hier nicht zuletzt um die Verbindung des vermeintlich Unvereinbaren als Spannungsmoment oder um die dadurch sich vermittelnde Intensität geht. Zitate und Bemerkungen hierzu finden sich z.B. im Aufsatz von Franz Müller. Franz Müller,

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«Utopie des wahren Bildes. Der Künstler Martin Disler in seiner Zeit», in: Martin Disler 1949 – 1996, Op.cit., S. 28 – 30. Siehe auch Anm. 11. «Alles ist letzten Endes Einzelstück; ich arbeite nur insofern in Serie, als ich, seit ich einmal anfing, nie mehr aufgehört habe.» Martin Disler, zitiert aus: Dieter Koepplin, «Disler-Bildbetrachtung», in: Kunst-Bulletin des Schweizerischen Kunstvereins, 1985, Nr. 4, S. 3 – 10, hier S. 6.


Abbildungen

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Werkbeschrieb Martin Disler 100 Blätter ohne zu schlafen, 1975 Bleistift auf Papier 103 Blätter in beschrifteter und mit applizierten Zeichnungen auf Papier versehener Kartonmappe (37 x 53.9 cm): 71 weisse Blätter à 29.2 x 42 cm, 21 weisse Blätter à 29.6 x 42 cm, 10 graue Blätter à 29.9 x 42 cm (davon eines nicht signiert), 1 weisses dünneres Blatt à 30 x 42 cm; signiert und datiert (mit Ausnahme eines grauen Blattes) unten rechts oder manchmal unten links «DISLER 75», sowie je ein Mal «DISLER» und «1975 DISLER»; Mappe bezeichnet, signiert und datiert, recto «100 Blätter ohne zu schlafen75/24h», (auf applizierter Zeichnung) «Disler 75», verso (auf applizierter Zeichnung) «ein Schiff/wird kommen +/ die 7 Weltwunder +/meine 1/2 Verzweiflung/+ der Rest» und «Disler 75»

Biografie Martin Disler 1949 1969 1971 1973 1976 1978 1980

1982 1983 1988 1989 1996

Am 1. März geboren in Seewen, Kanton Solothurn. Praktikant in einer psychiatrischen Klinik. Beginn der künstlerischen Tätigkeit. Atelier in Solothurn mit seiner Freundin, der Künstlerin Agnes Barmettler. Erste Einzelausstellungen in Solothurn, Olten und München. Aufenthalt zu Studienzwecken in Paris und Bologna. Es folgen weitere Italienreisen in den nächsten Jahren. Erster Kunstpreis der Kiefer-Hablitzel-Stiftung, weitere folgen 1977 und 1979. Umzug in die Rote Fabrik in Zürich, nachdem er beim Wegzug aus Dulliken bei Olten seine grossformatigeren Werke (bemalte Bretter, Objektkisten und Pappen) verbrannt hat. Endgültiger Durchbruch als bildender Künstler mit der Ausstellung Invasion durch eine falsche Sprache in der Kunsthalle Basel; im selben Jahr erscheint auch der Text Bilder vom Maler, eine Art autobiographischer Roman, sowie der Lyrikband Der Zungenkuss. Neben Zeichnungen und Druckgrafiken entstehen nun auch vermehrt grossformatige, meist mit Acrylfarbe gearbeitete Gemälde und Rauminstallationen, die vielfach mit programmatischen Titeln bezeichnet sind, welche wie die Werke selbst die Beschäftigung mit den existentiellen Themen Leben und Tod bezeugen. Die Entwicklung zur raumfüllenden Malerei gipfelt im 141 Meter langen und 4,4 Meter hohen Panoramawandbild Die Umgebung der Liebe, das Disler 1981 innerhalb von vier Nächten in den Räumen des Württembergischen Kunstvereins in Stuttgart malt. Er pendelt zu dieser Zeit zwischen verschiedenen Ateliers in Zürich, New York und Harlingen (Niederlande), wo er mit der holländischen Künstlerin Irene Grundel zusammen lebt, die er später heiraten wird. Einzel- und Gruppenausstellungen in Köln, in New York und auf der Documenta 7 in Kassel. Ausstellungen u.a. im Amsterdamer Stedelijk Museum und im Museum für Gegenwartskunst in Basel. Zieht mit Irene Grundel in ein eigenes Haus in Les Planchettes bei La Chaux-de-Fonds. Es entstehen u.a. Gipsfiguren und Lehmplastiken. Erste Bronzeskulpturen, wendet sich jedoch zu Beginn der 90er Jahre wieder vermehrt der Grafik zu. Am 27. August stirbt Martin Disler in Folge eines Hirnschlags. Von 999 geplanten Aquarellen, die er im Jahr 1996 innert kürzester Zeit zu schaffen beabsichtigt, kann er noch bloss deren 388 anfertigen.

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ISBN 978-3-033-03142-5


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