mare No. 98

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mare R hodos H ei l i g en d amm

mare No. 98

D i e

Z e i t s c h r i f t

d e r

D 9,50 7  CH 16,50  CHF  Esp 12,50  7  Aut / Lux 10,50  7 Juni/Juli 2013  C43155

www.mare.de

M e e re

El H i er ro

Liebesgötter Strandgigolos von Rhodos

No. 98

Grand Hotel Heiligendamm

Prachtvoll, vornehm, ewig pleite

Pferde

Wolkencowboys El Hierros einzigartige Wassergewinnung

Pferde Wie sie vom Turm sprangen, Seeleuten das Leben retteten und auf einer einsamen Insel vergessen wurden


Inhalt

Titelbild Unser Bild des emblematisch aufsteigenden Pferdes gelang dem vielfach preisgekrönten US-Fotografen Dennis Manarchy 2008 an einem Pazifikstrand nahe Vancouver in Kanada. Das prachtvolle Tier hatte schon einmal eine „Titelrolle“ – Anfang der 1990er Jahre in der Fernsehserie „Black, der schwarze Blitz“. Die mare-Reportage

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14 Reportage: Nordische Touristinnen

Politik: Mohamed Nasheed kämpft

und ihre Verhältnisse zu Griechen

für Demokratie auf den Malediven

DIE LIEBESBANDE In den 1970ern genossen an den Stränden von Rhodos junge schöne Griechen ein fröhliches Treiben. Sie beglückten urlauben­d e Mädchen aus den kühleren Regionen Europas mit Flirts und amourösen Abenteuern. Noch heute schwärmen die einstigen Beaus von ihren wilden, arglosen Jugendzeiten Von Stella Bettermann und Davide Monteleone

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Politik „WIR LAUFEN GEFAHR, IN EINE DIKTATUR ZU SCHLITTERN“ Mohamed Nasheed, erster frei gewählter Präsident der Malediven, wurde vor einem Jahr von einer einflussreichen Oligarchenclique aus dem Amt gedrängt. Seither kämpft der Meereswissenschaftler und Menschenrechtler um die Demokratie in dem autoritär regierten Inselstaat und in dessen Nachbarländern Ein Interview von Shahidul Alam

56 Titel: Durch Siel und Priel – das Duhner Wattrennen ist einzigartig

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IM DIENST DER WAHRHEITEN Sie waren die ersten Kriegsreporter, und sie verfassten den ersten Menschenrechtsbericht der Geschichte. Ganz nebenbei schufen die spanischen Chronisten an Bord der Schiffe der Eroberer Latein­ amerikas eine bis heute gängige Erzählform Von Brigitte Kramer

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ESSAY: NUN LASST UNS HANDELN Das schädliche Handeln des Menschen in den Weltmeeren ist spürba­r er als je zuvor. Es wird höchste Zeit, das Richtige zu tun Von Claus Leggewie

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Leben Titel Pferde

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Wirtschaft: Hausse und Baisse im

Kultur: Das „Friesenlied“ und

schönsten Seebad Heiligendamm

seine unfriesische Geschichte

ALLEIN IM ATLANTIK Wildpferde sind die einzigen Bewohner von Sable Island, einer einsa­m en, kleinen Insel im kalten Nordatlantik vor Neufundland. Sie leben hier schon seit Jahrhunderten Von Judith Scholter und Roberto Dutesco

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WATT FÜR EIN VERGNÜGEN Jedes Jahr im Sommer steht Cuxhaven Kopf. Dann startet hier das Duhner Wattrennen, das einzige Pferderennen auf Meeres­b oden. Eine skurrile Veranstaltung, deren Teilnehmer mit Leidenschaft, aber nicht ohne Humor um Ehre und Preisgelder kämpfen Von Silke Burmester und Florian Manz

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Kultur: Eugène Boudin, der Strand­

Wissenschaft: Wie El Hierros

TURM, PFERD, DAME Eine spektakuläre Veranstaltung mit einer fragwürdigen Tradition: Die Diving Horses an der Strandpromenade von Atlantic City in New Jersey scheiden die Geister seit mehr als 100 Jahren

maler und Gesellschaftsporträtist

Ureinwohner zu Wasser kamen

Von Holger Kreitling

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Bei uns geht Ihre Spende garantiert nicht unter. STILL UND STARR RUHT DIE SEE Laue Brisen sind Seglern lästig, aber Flauten können ihnen zum Albtraum werden. Die windlosen Rossbreiten sind Gegenstück und Nachbarn zu den voranbringenden Passaten. Die Frage, woher ihr seltsamer Name rührt, ist ein amüsanter Streit unter Seefahrern Von Peter Sandmeyer

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KOMBÜSE: SCHNECKEN MIT SCHRECKEN Wer Abalonen zum Dinner will, muss tauchen. Und darf gefährliche Meeres­b ewohner mit markanten Rückenflossen nicht fürchten Von Peter Haffner und Serge Höltschi

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Wirtschaft GANZ SCHÖN RUINÖS Das „Grand Hotel Heiligendamm“ an Mecklenburgs Küste gehört zu Deutschlands feinsten Urlaubsadressen. Wie es sich für wahre Grandezza gehört, ist seine Geschichte wechselvoll und schicksalhaft. Dazu gehören auch die diversen Konkurse seiner zwei Jahrhunderte des Bestehens Von Till Briegleb

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Kultur DIE NORDOSTSEEWELLE Das „Friesenlied“ ist der bekannteste Schlager an der deutschen Nordund Ostseeküste. Seine Entstehung spielt aber tief im Binnenland Von Claus Stephan Rehfeld

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HIMMELSKÖNIG, STRANDPOET Wie besessen malte Eugène Boudin seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die Strände seiner Heimat Normandie. Seine Bilder sind nicht allein Landschafts-, sondern ebenso sehr Gesellschaftsporträts Von Jens Rosteck

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Wissenschaft DIE WOLKENWASSER DER BIMBACHEN Die Ureinwohner der trockenen Kanareninsel El Hierro wussten einen klug erdachten Weg, das Wasser der Passatwolken zu ernten Von Brigitte Kramer

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RU B R I K E N

Logbuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  5 mare-Weltkarte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  10 Das blaue Telefon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  12 Schatztruhe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  28 Leserbriefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  92 Notizen einer Landratte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  93 more mare . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  110 Salon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  112 mareRadio, Termine, mareTV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  122 Strandgut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  124 Impressum/Bild- und Textnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  128 Vorschau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  129 Meeresrauschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  130 Übrigens: Ein schöner (Heft-)Rücken kann auch entzücken. Ein Fisch ist ein Fisch ist ein Fisch ... mare No. 98, Juni/Juli 2013

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www.seenotretter.de


Auf der Akropolis von Rhodos. Die Insel war dank ihres Flughafens in den 1970ern das erste Massentourismusziel Griechenlands 14


Die

Liebesbande Touristenmädc hen aus Nord- und Mitteleuropa suc hten Wärme, einheimisc he Jungs waren zu allem bereit. Auf der griec hisc hen Insel Rhodos gaben sic h die hübsc hen Aufreißer in den siebziger Jahren selbst einen Namen: kamakia, Harpunen. Sie sc hwelgen noc h heute in Erinnerung an ihre wilde Zeit

Text: Stella Bettermann Fotos: Davide Monteleone

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„Wir müssen die Malediven wieder auf Kurs bringen. Wir brauchen Neuwahlen und eine Regierung, die vom Volk legitimiert ist“ Mohamed Nasheed, Menschenrechtler, Meereswissenschaftler, ehemaliger Journalist und früherer Präsident der Malediven

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Politik

„Wir laufen Gefahr, in eine Diktatur zu schlittern“ 2008 kam Mohamed Nasheed als erster frei gewählter Präsident der Malediven ins Amt. Damit löste der in Großbritannien ausgebildete Ozeanograf das autoritäre Regime des Präsidenten Maumoon Abdul Gayoom ab. In der Folge betrieb er die Demokratisierung des islamisch geprägten, 1968 von Großbritannien unabhängig gewordenen Landes. Vor einem Jahr wurde er durch meuternde Polizisten und Demonstranten zum Rücktritt gezwungen, sogar ein Haftbefehl wurde gegen ihn ausgestellt. Er soll einen Richter unrechtmäßig ins Gefängnis gesperrt haben. Der 45 Jahre alte Politiker sieht in dem Prozess ein Manöver des jetzigen Präsidenten Mohammed Waheed Hassan, um ihn von einer Teilnahme an der Präsidentschaftswahl im Herbst abzuhalten. Der bangladeschische Publizist Shahidul Alam, selbst Menschenrechtsaktivist, traf Nasheed für mare in dessen Residenz in der Malediven-Haupstadt Male zu einem Gespräch über die politische und gesellschaftliche Lage in den Küstenländern Südasiens.

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M JUNI 2012 HABEN WIR UNS SCHON EINMAL unterhalten. Damals haben Sie auch über Mohammed Waheed Hassan berichtet, der Sie nach Ihrem mehr oder weniger erzwungenen Rücktritt als Präsident der Malediven abgelöst hat und enge Verbindungen zu Husni Mubarak, Ägyptens früherem Präsidenten, unterhielt. Ich habe Sie auf Ihrer aktuellen Kampagne begleitet, und dabei ist mir aufgefallen, wie viele junge Leute sich von Ihnen angesprochen fühlen. Selbst Kinder waren unter den Menschen, die spontan zusammenkamen. Das erinnert von fern an die Vorgänge in Ägypten. Halten Sie eine ähnliche Entwicklung auch auf den Malediven für denkbar? Nasheed: Auf den Malediven interessieren sich zunehmend mehr Menschen für Politik, auch die sogenannten einfachen Leute, und sie wollen die Zukunft ihres Landes mitgestalten. Das wachsende Interesse trifft inzwischen erfreulicherweise auf Strukturen, die ihnen die Teilhabe ermöglicht. Dieser Prozess hat vor allem in den letzten vier, fünf Jahren stattgefunden. In der Hauptsache sind es Frauen, die sich jetzt politisch engagieren. Sie stellen das Gros der Mitglieder und Unterstützer der Maledivischen Demokratischen Partei, auf

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Kundgebungen und Veranstaltungen bilden sie die Mehrheit. Ich denke, das ist ein gutes Zeichen, und es stärkt uns für die Arbeit, die vor uns liegt. Wir müssen das Land wieder auf Kurs bringen, wir brauchen Neuwahlen und eine Regierung, die vom Volk legitimiert ist. Sie haben über die politische Lage in Bangladesch einmal gesagt, dass zwischen der sozialdemokratischen Ministerpräsidentin Hasina Wajed und ihrer nationalkonservativen Amtsvorgängerin Khaleda Zia, den beiden wichtigsten politischen Kräften des Landes, kaum ein Unterschied sei, weil beide vor allem eigene Interessen verfolgten. Wie stellt sich das auf den Malediven dar ? Ist die Situation vergleichbar ? Es gibt so viele politische Parteien, aber nur wenige politische Richtungen. Im Grunde sind es nur drei: rechts, links und eine Mitte. Man kann sich entscheiden, ob man für dieses oder jenes ist oder gegen dieses oder jenes. Was es nicht gibt, sind 27 verschiedene Einstellungen zum Leben, zur Gesellschaft, zur Regierung und zur Politik. Aber fast so viele Parteien gab es zwischenzeitlich auf den Malediven, und zwar vor allem, weil Einzelpersonen – und hier zeigen 31


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Politik

Im Dienst der Wahrheiten Seefahrende Heerführer und Kirchenmänner haben in wortgewaltigen Chroniken die Gräuel der Eroberung Lateinamerikas dokumentiert. Mit einer Erzählform, die noch heutige Autoren prägt Von Brigitte Kramer

„Sie gaben ihm ein paar Smaragde; er fragte, wo sie zu finden seien, und er folgte der Spur. Er ging weiter hinauf, und im Tal der Alcázares traf er auf den König Bogotá; ein behutsamer Mann, der, um die Spanier aus seinem Reich zu vertreiben, dem Gelehrten Jiménez viele Dinge aus Gold gab, da er sah, wie habgierig und draufgängerisch sie waren, und er sagte ihnen, dass die Smaragde, die sie suchten, im Reich der Herrschaft von Tunja waren. Bogotá hatte vierhundert Frauen, und jeder in seinem Reich konnte so viele nehmen, wie er haben konnte, aber es durften keine Verwandten sein; alle vertrugen sich gut. Bogotá war sehr geachtet, sie drehten ihm den Rücken zu, um ihn nicht ins Gesicht zu sehen, und wenn er ausspie, knieten sich die wichtigsten Edelmänner auf den Boden, um den Speichel mit sehr weißen Baumwolltüchern aufzunehmen, damit nichts von einem so großen Prinzen die Erde berührte.“ Francisco López de Gómara, „Historia General de las Indias“, 1552

Links Der Dominikaner Bartolomé de las Casas (1474 –1566). Seine Chronik beschreibt die Grausamkeit der Eroberer und gilt als erster Menschenrechts­b ericht der Geschichte

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AS WÄRE WOHL AUS GABRIEL GARCÍA Márquez, dem kolumbianischen Literaturnobelpreisträger, geworden ohne die frühen Chronisten der Geschichte Lateinamerikas wie Francisco López de Gómara ? Der spanische Dominikaner war im 16. Jahrhundert Beichtvater des berühmten Konquistadors Hernán Cortés; in dessen Auftrag sollte er den Daheimgebliebenen die Neue Welt schildern. Er und andere hätten „die Saat gelegt für alle unsere Romane“, sagte Márquez in seiner Nobelpreisrede von 1982. Er bezog sich damals auf den Aufschwung der lateinamerikanischen Literatur seit den 1960er Jahren, der viele Werke des Magischen Realismus befördert hat. Mittlerweile passt seine Aussage auch auf ein neues Genre im Spielfeld zwischen Literatur und Journalismus, das sich in Lateinamerika seit der Jahrtausendwende entwickelt. Es trägt denselben Namen wie die Beschreibungen edler Herrscher oder blutiger Schlachten aus der frühen Neuzeit: crónica, Chronik. Zugehörige Texte erscheinen in digitalen Reportagemagazinen oder Sonntagsbeilagen großer Tageszeitungen, verfasst von Autoren wie den Argentiniern Martín Caparrós, Cristian Alarcón oder Leila Guerriero, von Mexikanern wie Alma Guillermoprieto oder Juan Villoro, von Gabriela Wiener in Peru oder Pedro Lemebel in Chile. Sie zeichnen, wie auch schon die Reiseberichte der historischen Vorgänger, das Bild eines Kontinents. Crónica bedeutet im Wortsinn das Erzählen einer Geschichte in der Reihenfolge ihrer Ereignisse. Für viele ist sie das einzig taugliche Werkzeug, um die Realität Lateinamerikas literarisch zu bearbeiten. Der mexikanische Autor Juan Villoro nennt sie „das Schnabeltier der Literatur“, das die erzählerische Kraft des Romans, die Fakten der Reportage, die Dramaturgie der Erzählung, die Argumente des Essays und die Subjektivität der Autobiografie in sich vereint. Geschaffen haben dieses Wunderwesen die ersten Chronisten. ➢

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Linke Seite Illustriert mit Stichen des Belgiers Theodor de Bry, verbreiteten sich Übersetzungen der drastischen Schilderungen de las Casas in ganz Europa

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Allein im Atlantik S S

Text: Judith Scholter Fotos: Rober to Dutesco

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Eine baumlose Insel vor Kanadas Küste, und nirgends ein Schutz vor Stürmen – das ist das Revier der Pferde von Sable Island. Abgeschieden vom Rest der Welt, kämpfen sie hier seit Jahrhunderten um ihr Überleben 45


Watt f체r ein Vergn체gen

Allj채hrlich jagen Pferde samt Jockeys durchs Watt vor

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Cuxhaven. Ein solches Rennen gibt es sonst nirgends auf der Welt Text: Silke Burmester Fotografie: Florian Manz

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Titel Pferde

Turm, Pferd, Dame Sie fesselten die Zuschauer mit ihren Sprüngen in Wasserbecken. Diving Horses fanden ihre Bühne dort, wo Kängurus boxten, Bären tanzten und Rex der Wunderhund Wasserski fuhr: in Atlantic City, New Jersey. Vor einem Jahr gab es den Versuch, die Show wiederzubeleben

Von Holger Kreitling

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I N E G E WA LT I G E H O L Z K O N ST R U Ktion ist zu sehen, eine Treppe, die mehrere Stockwerke hinaufführt. Etwas Dunkles, Großes huscht über Treppe, in Begleitung eines Mannes. Oben auf der Plattform angekommen, steht das dunk­l e Etwas. Wir erkennen es nun. Ein Pferd. Ein Mensch springt auf das Pferd, eine Frau in Badeanzug und Badekappe, sie reitet ein Stück an den Rand des Turmes. Dort stehen Pferd und Reiterin, vor ihnen der Abgrund, zwölf Meter tief. Auf Fotos sind Menschenmassen zu sehen, die auf Tribünen sitzen und darauf warten, was nun passieren wird. Das Pferd braucht noch etwas Zeit. Es tänzelt. Es nickt mit dem Kopf, als wüsste es, wie sehr die Zuschauer auf den Augenblick warten. Dann springen sie, Pferd und Reiterin. Weg vom Turm. In die Tiefe. Und sie fallen ins Wasser. Denn unten, nach den et­l ichen Metern Sprung, steht ein Becken, vier Meter tief. Der Pferdekopf klatscht zuerst aufs Wasser, dann der Körper, eine gewaltige Welle spritzt aus dem runden Pool, die Reiterin sitzt noch immer auf dem Pferd. Sie winkt. Das Publikum rast und nimmt das Versprechen eines endlosen Sommers am Meer mit nach Hause. Alles ist möglich, wenn sogar Pferde sich aus der Höhe in einen Pool stürzen. Die turmspringenden Pferde, die „High Diving Horses“, waren die berühmteste Attraktion unter den an Attraktionen nicht eben armen Shows in Atlantic City. Viele

Jahrzehnte begeisterten sie die Zuschauer mit ihren Sprüngen ins Becken am Ende des 600 Meter langen Steel Pier, der „Amüsierstadt am Meer“. Alles daran war verrückt, und genau darin lag die Spannung. Es versprach Kühnheit und Abenteuer, die Überwindung der Grenzen. Die Amerikaner liebten die Show. Ron Hoke aus Sellerville, Pennsylvania, erinnerte sich an seine Kindheit: „Zum ersten Mal den Ozean zu sehen und am gleichen Tag das zu erleben, das hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt.“ Im Frühjahr 2012 wurde der bisher letzte Versuch gestartet, die Diving Horses wieder zu zeigen. Der Besitzer der stählernen Seebrücke, Anthony Catanoso, wollte im Sommer eine neue Show mit Pferden starten – als Teil der Wiederbelebung des Steel Pier. Die Diving Horses seien einzigartig, geschichtsträchtig und sehr populär, sagte Catanoso und fügte vorsorglich hinzu, man werde die Pferde „wie Gold behandeln“. Die Show mit den Pferden sollte weniger als zehn Dollar kosten, Familienunterhaltung, gerne für Kinder. Atlantic City will schon länger weg vom Image der verkommenen, gewalttätigen Spielerstadt. Ein Aufschrei der Entrüstung folgte. Tierschützer und Pferdeliebhaber überall in den Vereinigten Staaten protestierten lautstark, „ein grausamer Akt“ war noch eine harmlose Äußerung. Man wünschte Catanoso erdenklich Schlechtes an den

Links Springerin Sonora Carver verlor bei einem Aufprall ihr Augenlicht Rechts Klappe auf: Die Show auf dem Boardwalk in Atlantic City, Foto von 1969 mare No. 98, Juni/Juli 2013


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Ganz schรถn ruinรถs

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ZU WENIGE GÄSTE, ZU TEURER BETRIEB – DAS INSOLVENTE „GRAND HOTEL HEILIGENDAMM“ GING IN SEINER GESCHICHTE ELFMAL IN KONKURS. ERSTAUNLICH, DASS ES NOCH IMMER EXISTIERT VON TILL BRIEGLEB

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Wo de Ostseewellen trecken an den Strand, / wo de gele Ginster bleugt in’n Dünensand, / wo de Möwen schriegen grell in’t Sturmgebrus, / da is mine Heimat, da bün ick to Hus. Well- un Wogenrauschen wär’ min Weigenlied, un de hohen Dünen sehgn min Kinnertied, / sehgn uck all min Sehnsucht … 94


Die Nordostseewelle Jeder, der an der deutschen Küste ein Schifferklavier halten kann, hat das „Friesenlied“ im Repertoire. Doch was die Menschen an der Nordsee für den Inbegriff des Heimatschlagers halten, ist in Wahrheit das Produkt einer weiten Reise: von Zingst nach Berlin über Zürich hinaus in die Welt

Von Cl aus Steph an Rehfeld

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E R LE B E N S LAU F D E S LI E D E S, von dem zu erzählen ist, beginnt mit einer Frau und ihrem Eigen­ sinn. Aus einem weltfernen Dorf an der vorpommerschen Küste ist Martha Gräh­ lert 1898 mit 22 Jahren ins Gewimmel der Großstadt geflohen. Raus aus Zingst in die Welt, um zu schreiben und sich zu behaupten. 1905 wird sie als „langjährige Mitarbeiterin“ beim „Deutschen Familien­ blatt“ in Berlin geführt. Dem fünfjährigen elterlichen Hausverbot trotzt sie, aber das Sehnen nach den heimischen Gestaden wird sie in Berlin nicht verlassen. 1907 veröffentlicht Martha Grählert 25 Ge­ dichte im Selbstverlag, ein schmales Bänd­

chen mit dem Titel „Schelmenstücke“. Das erste Gedicht erzählt auf Plattdeutsch von ihrer großen Sehnsucht, „Mine Heimat“. 1908 drucken die „Meggendorfer Blätter“ das Gedicht ganzseitig ab, ein farbiges Strandbild verstärkt die Stimmung. Die nächste Szene der Liedbiografie spielt in Zürich, an einem Sonntagvormit­ tag. Ein Glaser aus Flensburg klopft an die Tür von Simon Otto Louis Krannig, einem Thüringer Handwerker, der sich 1891 an der Limmat niedergelassen hat. Der Flens­ burger hält die „Meggendorfer Blätter“ mit Martha Grählerts Gedicht in der Hand und bittet Krannig, der die Ostsee auf der Walz lieben gelernt hat, um eine Vertonung.

Beide verschwinden ins Musikzimmer, aus den Klaviertönen formt sich eine Melodie. Noch am Vormittag ist aus dem Gedicht ein Lied geworden, kurze Zeit spä­ ter wird es in Zürich erstmals öffentlich aufgeführt – am Grab des Flensburgers. Der Komponist hatte schnell „einige Sän­ gerfreunde zusammengetrommelt aus … den deutschen Vereinen“. Krannigs Hausverlag in Zürich rechnet nicht mit einem Geschäftserfolg in der Schweiz und sieht von einer Veröffent­ lichung ab. 1909 bringt Schondorf ’s Verlag in Braunschweig die Partitur des Liedes für „Tenöre und Bässe / Innig und frei bewegt“ in Umlauf. Es ist die Zeit der Hei­ 95


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Himmelskönig, Strandpoet Die erwachende Liebe der französischen Bourgeoisie zum Meer animiert den Maler Eugène Boudin um 1860 zu einer neuen Sprache in der Freilichtmalerei. So wird er zum Erfinder des Strandbilds ebenso wie zum Wegbereiter des Impressionismus

Von Jens Roste ck

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