Raum für Gedanken: Ostprignitz Ruppin

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K AT H R I N O LL R O G E

RAUM FÜR GEDANKEN Texte & Fotografien



K AT H R I N O LL R O G E RAUM FÜR GEDANKEN Texte & Fotografien

Land Brandenburg / Landkreis Ostprignitz-Ruppin Neuruppin _ Lentzke _ Rheinsberg


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DorfstraĂ&#x;e, Lentzke

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RAUM FÜR GEDANKEN

DAS WOHNZIMMER Ein Wohnzimmer, nur angedeutet durch drei Wände und die Decke; einseitig offen, durchsichtig, durchlässig. Die Fensterwand wie eine Fototapete aus der ostdeutschen guten Stube. Die Idee von „My home is my castle“ und auch von „Trautes Heim, Glück allein“. Aber alles sehr leicht, zerlegbar, transportabel – zerbrechlich, verletzlich, fluchtbereit. Zwei Sessel darin, Stehlampe in der Ecke, ein Tischchen, darauf eine Schreibmaschine. Suggestion von Schutz, Gemütlichkeit, Privatsphäre – und doch irgendwie auch das Gegenteil: ein transparenter, exponierter, paradoxer Beichtstuhl: Raum für Gedanken. Wer seinen Schritt verlangsamt oder neugierig stehen bleibt, den zieht Kathrin Ollroge ins Gespräch. Sie bietet einen Kaffee an und den Platz im Sessel. Was denken Sie über die Asylsuchenden, die Flüchtlinge, über die neuen Nachbarn? Raum und Zeit wird geschaffen für deine Gedanken: Lass sie raus, hämmere sie in die Tasten! Wann habe ich zuletzt auf einer Schreibmaschine geschrieben? Es gibt keine Löschtaste und kein Korrekturband. Formuliere einen Satz und schreib ihn auf, wie dir der Schnabel gewachsen ist. Zensur findet nicht statt, dein Name spielt keine Rolle. Gewähre einen Blick in deinen Gedankenraum!


Unglaublich, es funktioniert! Nein, es muss heißen: Kathrin Ollroge macht es funktionieren. Sie schafft die Atmosphäre. Ich vertraue ihr und der Schreibmaschine an, was sich hinter meiner Stirn abspielt. Sie ist freundlich, neugierig, nimmt mich ernst, bewertet nicht. Die Gedanken fließen, Ordnung ist nicht wichtig. Es ist ermutigend, was auf diese Art zutage gefördert wird. Ermutigend, weil viel differenzierter, ernsthafter, nachdenklicher als alles andere, was für gewöhnlich aus dem Luftraum über den Stammtischen dröhnt. Ängste, ja, Sorgen, ja, Vorbehalte, Halbwissen, Vorurteile – all das auch. Aber keine Schmähungen, kein Hass, keine Bedrohung. Hier äußern sich Menschen, die erreichbar sind, wenn sie beachtet, geachtet werden. Wer in die Gedankenräume hört, kann viel lernen. Neuruppin, im Januar 2015 Martin Osinski Sprecher im Aktionsbündnis Neuruppin bleibt bunt Flüchtlingskoordinator Landkreis Ostprignitz-Ruppin

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DIE ORTE Während der dreimonatigen Reise durch das Land Brandenburg machte der „Raum für Gedanken“ im vergangenen Jahr zehn Tage lang Station im Landkreis Ostprignitz-Ruppin und traf auf viele offene, hilfsbereite und aufgeschlossene Menschen, die sich durch Wort, Bild und tatkräftige Unterstützung in das Projekt eingebracht haben. Neuruppin 23. bis 25. September und 31. Dezember 2014 In Neuruppin leben ca. 30.345 Menschen. Von den rund 400 Flüchtlingen, die im Landkreis Ostprignitz-Ruppin aufgenommen wurden, leben ca. 220 im von den Ruppiner Kliniken betriebenen Übergangsheim in Treskow. Zusätzlich sind dezentrale Unterbringungen in Wohnungen geplant. Momentan leben nur wenige asylsuchende Familien in eigenständigen Wohnungen in der Kreisstadt. Der „Raum für Gedanken“ stand im September 2014 drei Tage lang auf dem Schulplatz und zum Jahresende für einen Tag in der Neuruppiner Bilderbogenpassagen. Lentzke 1. bis 4. Oktober 2014 Lentzke, ein 400-Einwohner-Dorf bei Fehrbellin, erwartete zum Jahresende 70 Flüchtlinge. Im Herbst stand der „Raum für Gedanken“ vier Tage und drei Nächte auf dem Spielplatz ganz in der Nähe der Wohnblöcke, in denen gerade einige Wohnungen vom Hausmeister für die neuen Nachbarn hergerichtet wurden. Jeden Morgen brachten LentzkerInnen einen frisch gebackenen Kuchen für die Besucher des Raumes. Im Januar 2015 wurde ein erneuter, kurzer Besuch in Lentzke organisiert, um mit einigen der inzwischen angekommenen Neu-Lentzkern aus der Russischen Föderation, Weißrussland, Syrien, Serbien


und Bosnien Kontakt aufzunehmen. Vor Ort gibt es eine Sozialarbeiterin, die den Wohnverbund leitet sowie einen arabisch sprechenden Sozialarbeiter. Für die alltäglichen Einkäufe gibt es einen Gemischtwarenladen im Ort. In der wärmeren Jahreszeit werden dort freitags öffentliche Grillnachmittage veranstaltet. Einige Bewohner geben Sprachunterricht und organisieren wöchentliche Einkaufsfahrten. Rheinsberg 2. bis 3. November 2014 Rheinsberg liegt im Rheinsberger Seengebiet im Ruppiner Land und zählt 8120 Einwohner. Im November 2014 stand der „Raum für Gedanken“ zwei Tage auf dem Kirchplatz. Zu diesem Zeitpunkt lebten noch keine Flüchtlinge in der „Töpferstadt“, jedoch wird die Aufnahme von Flücht­lingen in sechs Wohnungen der Rheinsberger Wohnungsgesellschaft geplant.

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Menzer StraĂ&#x;e, Rheinsberg

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Asylsuchende fliehen zu uns vor der Politik von uns. Neuruppin, männlich, Jahrgang 1980

----In einer Gesellschaft kommen „Probleme“ nicht von den Rand­ gruppen. Probleme entstehen aus der Unfähigkeit im Umgang mit dem, was von dem „normalen Umfeld“ abweicht. Angst vor Neuem könnte man es nennen. Eine Gesellschaft, die so schnelllebig geworden ist, dass selbst Familie oft nicht mehr beachtet wird, in der Probleme unterdrückt werden, in der die Zeit für Gespräche kaum noch vor­ handen ist … Wie soll man sich in solch einer Situation auf die geballte Ankunft fremder Kultu­ ren vorbereiten, außer durch die gewohnten, sensationssuchenden Medien? Medien, die sich lieber darauf stürzen, dass Wachmänner mit Nazi­ parolen auf dem Unterarm Asylanten zusammenschlagen als auf die schönen Feste, die Ein­ heimische mit Asylanten zusammen feiern. Ebenso die Unfähigkeit der Verantwortlichen, nennen wir sie mal Regierung, mit der Unterbrin­ gung, die nicht in einem Ghetto endet. Wenn wir etwas Unterstüt­ zung durch die Medien bekommen Uschi, Neuruppin

würden, über den Tellerrand zu schauen, den Blick auch mal in andere Länder zu lenken, wie diese mit der Flut an Zuwanderern umge­ hen, würden wir sehen, dass nicht Deutschland das Land ist, das alle Flüchtlinge aufnimmt. Im Gegen­ teil: Deutschland ist das Land mit den stärksten Sanktionen, mit den härtesten Aufnahmebedingungen. Al­ lein die Türkei, wie viele Flücht­ linge dort leben oder wie gut in Frankreich Ausländer integriert werden! Nein, unsere Regierung er­ hebt auch keinen Widerspruch, wenn es heißt, dass es nur Sozialschma­ rotzer sind, die zu uns kommen! Menschen, die um ihr Leben gerannt sind, vertriebene Menschen, die vor Unannehmlichkeiten weglau­ fen. Nicht weil sie uns vertreiben wollen, nein! Wir laufen weg, weil wir nicht wissen, was kommt. Wir verbarrikadieren unsere Wohnungen, lassen unsere Kinder nicht mehr alleine auf die Straße und, was für mich das Schlimmste ist, wir machen unsere Herzen zu. Etwas, auf das ich mal sehr stolz war, ein Deutscher zu sein, helfen zu können, wird einfach aus unserer Gesellschaft deinstalliert. Lentzke, männlich, Jahrgang 1965

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Meine Freundin ist Moslem und sie ist sehr nett und lustig. Sie lebt seit drei Jahren in Berlin und ich möchte, dass sie bei uns bleibt, weil sie mich in schweren Zeiten immer aufmuntert. Rheinsberg, weiblich, Jahrgang 2001

----Jemanden willkommen zu heißen, der an die Tür klopft und um Hilfe bittet, ist auch in unserem Kulturkreis eigentlich alte Tra­ dition. In Kulturen, aus denen heute viele Flüchtlinge kommen, werden wir heute noch wie kleine Könige behandelt. Da ist es un­ möglich und gehört sich auch für anständige deutsche Bürger nicht, dass Hilfesuchende mit dem Anzünden ihrer Unterkunft und der Bedrohung ihres Lebens empfangen werden. Dafür kann ich mich nur schämen. Sind zweitausend Jahre Christentum an so vielen meiner Mitbürger spurlos vorbeigegangen? Oder haben wir unsere einfachen Instinkte verloren? Oder unseren Verstand? Uns geht es im Vergleich so gut hier. Etwas zu teilen oder abzugeben ist doch da selbst­ verständlich.

Im Land Brandenburg gibt es nicht einmal zwei Prozent Ausländer. Nach Rheinsberg kommen wohl 49 Personen, im Verhältnis zur Bevöl­ kerungszahl eher wenig. Ich denke, die Unterbringung in Großstädten ist besser, dort fällt es weniger auf. Hier in der ländlichen Region kann es mehr zu Problemen und Kon­ flikten kommen. Die Voraussetzungen zur Integration sind gar nicht vorhanden. Viele Leute hier fühlen sich ausgespielt und ausgegrenzt. Gerade die unteren Schichten, die entweder arbeitslos sind oder wenig Geld verdienen. Sie bekommen das Gefühl, dass für die Flücht­ linge mehr getan wird als für sie. Das ist das Problem. Die Politiker treffen keine klaren Entscheidun­ gen, es ist verschwommen. Ich habe nichts gegen Flüchtlinge, aber wie die Menschen gegenseitig ausge­ spielt werden, das finde ich nicht gut. Rheinsberg, männlich, Jahrgang 1960

Neuruppin, männlich, Jahrgang 1953 Richard, Rheinsberg


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Ich lebe hier in Lentzke seit ungefähr 10 Jahren und bin schon seit genauso langer Zeit mit Flüchtlingen aus unterschiedlichen Teilen der Welt befreundet. Ich helfe ihnen als Patin des Netz­ werks für das gesunde Kind. Ich habe bisher nur positive Erfah­ rungen gesammelt. Trotzdem ist das Gefühl, wenn sie jetzt ins eigene Dorf kommen, irgendwie ein biss­ chen anders. Vor allem, weil ich mir Sorgen mache, wie bestimmte Leute aus dem Dorf auf den Zuwachs reagieren und ob es zu bösartigen Auseinandersetzungen kommt. Ich bin auch gespannt, wie ich den Kontakt zu den anderen Menschen aufbauen und gestalten werde. Denn wir sind sowieso schon unter­ schwellig Dorfgespräch, seit die „Schwarzen“ bei uns öfter vor­ beischauen. Schade. Aber trotzdem freue ich mich auf sie! Lentzke, weiblich, Jahrgang 1977

----Zu DDR-Zeiten durfte man nichts sagen, jetzt darf man auch nichts sagen. Sonst heißt es gleich, wir sind ausländerfeindlich. Das Argu­ ment, wir brauchen die Ausländer, um unsere Wirtschaft anzukurbeln, ist kein Argument. Keiner sagt, Ulla, Lentzke

dass sie wieder in ihr Land zu­ rückkehren, um ihr Land aufzubau­ en. Das wäre Hilfe in meinen Au­ gen. Wir sollten sie unterstützen, damit sie nach dem Krieg wieder in ihr Land zurückkehren. Neuruppin, männlich, Jahrgang 1954

----Mich interessiert das nicht. Ich habe in Neuruppin mit Russen zu­ sammengearbeitet. Ich kam mit den Leuten immer klar. Wenn sie mich in Ruhe lassen, lasse ich sie auch in Ruhe. Sie haben das nur ver­ kehrt in die Welt gebracht. Viele haben Angst bekommen, weil sie gesagt haben, 70 Leute auf einmal. Sie haben uns falsch informiert. Hätten sie doch gleich gesagt, sie kommen nach und nach. Sind alles nur Menschen. Die Hautfarbe ist mir egal. Ich habe nichts gegen Ausländer. Wir haben den Vierer­ block hinten, der Sechserblock muss noch renoviert werden. Wenn sie nicht alle auf einmal kom­ men, dann ist es doch o.k. Sollen sie doch kommen. Wenn sie mit mir einen trinken wollen, trinke ich einen mit denen. Anders geht es nicht. So einfach ist es. Wenn ich helfen kann, mache ich es. Lentzke, männlich, Jahrgang 1965

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Anke, Jan-Ole & Sarah, Rheinsberg  _  Günther, Rheinsberg


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Mir bereiten die aktuellen Krisen auf der Welt sehr große Sorgen. Mir ist das Leid der Menschen insbesondere im arabischen Raum sehr präsent. Aufgrund unserer Geschichte finde ich, dass wir eine besondere Verantwortung gegenüber Flüchtlingen und Menschen in Not haben. Wenn ich mir die Nachbar­ länder der Krisenregionen ansehe und mitbekomme, wie viele Flücht­ linge dort aufgenommen werden, denke ich, dass wir als reiches Land alles versuchen müssen, um zu helfen. Klar ist mir, dass in Deutschland viel Angst gegen­ über Fremden herrscht und man die Menschen nicht überfordern darf. Trotzdem ist es mir persönlich sehr wichtig, so vielen Flücht­ lingen wie möglich eine sichere, menschenwürdige Unterkunft zu ge­ währen. Es würde mich sehr freuen, wenn wir die Menschen, die zu uns kommen, willkommen heißen und sie unterstützen, wo es geht. Sie sind mit ihrem schweren Schicksal in einem fremden Land, häufig trauma­ tisiert und hier dann häufig mit Fremdenfeindlichkeit konfrontiert. Ich wünsche mir Großherzigkeit und Offenheit der Bevölkerung!

Wir haben da große Skepsis. Wir und unsere Tochter fühlen uns mitunter belästigt. Wenn sie an den Zäunen stehen und wir vorbeigehen, das ist oft unschön und peinlich. Die Menschen sind, was ihre Klei­ dung betrifft, markenorientiert und gestylt und besitzen große Handys oder Smartphones. Woher haben sie das alles? Ich empfinde es als un­ gerecht. Ist das Not? Sie passen hier nicht her und manchmal sind sie gerade uns Frauen gegenüber auch aufdringlich. Wir sehen immer nur Männer. Wo sind die Frauen und Kinder? Hier werden Wohnungen für 50 Flüchtlinge zur Verfügung gestellt. Schlimm, wenn sie in ein Dorf kommen. Was sollen sie da tun? Gute Ausbildung ist wichtig und auch die Unterstützung. Aber sie werden doch in ihren eigenen Ländern gebraucht. Bleiben sie oder gehen sie auch wieder zurück? Wie wird das geregelt? In der Stadt fällt es nicht so auf, hier schon. Da treffen Welten aufeinan­ der, auf dem Land mehr als in der Stadt. Kulturen und Mentalitäten vermischen sich immer mehr, was bleibt von unserer Kultur übrig?

Neuruppin, männlich, Jahrgang 1964

männlich, Jahrgang 1970

Rheinsberg, weiblich, Jahrgang 1974;

Schmiedberg, Lentzke


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Renate mit ihrem Ehemann, Neuruppin窶ダツュ窶アnsgar, Neuruppin


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Fremdenfeindliche Gedanken gab es schon immer. Das Erschreckende ist, dass sie gesellschaftsfähig werden. Dinge funktionieren über Schlagzeilen, was vielen fremden­ feindlichen Aktionen zugute kommt. Man stelle sich vor, niemand würde zu einer solchen Aktion gehen und keiner Notiz von ihr nehmen, wie frustrierend wäre das für die Ak­ teure! Das Aufkochen dieser Themen in den Wahlkampagnen dient dazu, Stimmen aus dem rechten Rand zu erhalten. Viele Jugendliche erzäh­ len mir, dass sie sich von Skin­ head-Gruppierungen angezogen füh­ len, weil sie einfach eine Stimme gegen das saubere und spießige Gesellschaftsleben suchen. Wenn man in einer Ordnungshierarchie aufgewachsen ist, bieten solche Organisationen einen Rahmen und ein Grundgerüst, welches durch die Gruppendynamik leichter anzu­ nehmen ist. In dieser funktionieren an­ dere Mechanismen. Das Phänomen ist, dass, wenn einer losrennt, alle folgen. Wenn eine Gruppendy­ namik erstmal in Bewegung kommt, dann ist sie nur sehr schwer zu stoppen. Einer solchen Masse entgegenzutreten, wenn man sich inmitten dieser befindet, ist eine große Herausforderung. Eigentlich

sollte es in einer freien, demo­ kratischen Gesellschaft selbstver­ ständlich sein, Bedrohten Platz zu bieten. Es ist schade, dass es thematisiert werden muss. Neuruppin, weiblich, Jahrgang 1956

----Wir sind nur für dieses Wochenende zu Besuch in Rheinsberg. Ich lebe seit fünf Jahren in Deutschland, in Berlin, mein Mann seit zehn Jahren. Wir fühlen uns in Berlin wohl. Ich gebe Deutschunterricht für Flüchtlinge und Migranten. Manche machen den Kurs mittler­ weile mehrfach. Sie haben keine endgültige Aufenthaltsgenehmigung und können nichts tun, eben auch nicht arbeiten gehen. Also warten sie … Das zermürbt. Rheinsberg, weiblich, Jahrgang 1983

----Vor 43 Jahren kam ich fremd nach Lentzke und ich war noch nicht einmal Ausländerin. Trotzdem war es schwer, dort heimisch zu wer­ den. Oft hörte ich damals die Älteren erzählen, von der Zeit als sie selbst nach dem Krieg als Flüchtlinge kamen und von den Ein­ heimischen als „Habenichtse“ mit Argwohn beobachtet wurden. Damals


wie heute gilt: Niemand ver­ lässt ohne Not seine Heimat. Die Flüchtlinge von heute haben oft Schlimmes erlebt. Dass sie „nur“ Wirtschaftsflüchtlinge sind, macht bei einigen von ihnen diesen Ent­ schluss doch nicht weniger nach­ vollziehbar. Geben wir ihnen eine Chance! Neuruppin, weiblich, Jahrgang 1959

----Die Omis haben geweint als wir die Nachricht aus der Zeitung erfahren haben, dass 70 Menschen in den Block kommen. Die Anwohnerver­ sammlung wurde kurz gehalten und wir wurden nicht vorinformiert, damit gar keine Proteste aufkom­ men. Früher haben sie die Stra­ ßenseite gewechselt, wenn dunkel­ häutige Menschen vorbeikamen. Ich kenne das noch von meiner Oma. Zu Kriegszeiten wurde ihnen in der Schule beigebracht, dass Schwarze minderwertig sind. Es gab keinen Kontakt zu afrikanischen Menschen. Das hat sich eingeprägt. Die Men­ schen, die nie das Dorf verlassen haben, haben Angst. Zu DDR-Zei­ ten hatten wir keine Afrikaner im Dorf. Die alten Leutchen wollen ihre Ruhe haben und hier ihren Le­ bensabend verbringen. Sie sind es

nicht gewohnt, mit Ausländern Kon­ takt zu haben. Ich weiß nicht, was jetzt passiert. Wir haben ja das Asylbewerberheim in Treskow. Dort radelt man automatisch schneller vorbei, weil den Mädels hinterher­ gepfiffen wird. Dort hört man oft genug von Übergriffen. Wir werden entspannt beobachten, wie sich die Sache entwickelt. Man muss ja mit­ einander auskommen. Lentzke, männlich, Jahrgang 1967

----Wir leben doch alle auf dieser einen Welt. Es liegt an jedem von uns, diese Welt menschlicher wer­ den zu lassen. Neuruppin, weiblich, Jahrgang 1969

----Ich habe keine Probleme mit Ausländern. Wer zu mir freundlich ist, zu dem bin ich auch freund­ lich. Ich habe mit einer afrikani­ schen Frau zusammen getanzt, scha­ de, dass ich sie nicht mehr sehe. Neuruppin, männlich, Jahrgang 1935

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Joldi, Neuruppin

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KKW-Siedlung, Rheinsberg


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Dörte & Tobi, Lentzke  _  Jan-Peter, Neuruppin


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Grundsätzlich bin ich optimistisch, aber ich habe Sorge, dass sich in diesen kasernenhaften Plattenbauten ein Ghetto bildet, wenn man sich nicht öffnet. Ich kenne momentan niemanden, der darin wohnt. Ich laufe daran vor­ bei, habe aber keine Bezugspunkte. Daher habe ich Angst, dass es ab­ geschirmt wird. Man weiß nicht, wer kommt. Wenn dann Familien her­ kommen, die sich zurückziehen, kann sich schnell ein Ghetto bil­ den. Man hört die niederschmet­ ternden Nachrichten. Man muss aufpassen, dass man nicht hinein­ gewürgt wird. Patenschaften mit einzelnen Familien machen Sinn. Man kann einzelne Menschen näher kennenlernen. Diese Zeit kann und sollte man sich nehmen. Wir sind ein sehr offenes Dorf mit unter­ schiedlichen Lebensmodellen. Das empfinde ich als sehr angenehm. Es gibt eine Gemeinschaft, die offen ist für Neues, aber nicht alle treffen sich und gehen zu Festen. Es ist ein wachsendes Dorf, keins das stirbt. Allein schon durch die Berlin-Nähe ziehen viele Künstler aufs Land. Als wir selbst noch in Berlin lebten, hatte meine Tochter eine Freundin in einer Schule im Wedding mit einem großen

Ausländer­ anteil. Diese Freundin durfte erst zu anderen Kindern mit nach Hause kommen, wenn die Eltern sich die Zeit nahmen und vorher einmal gemeinsam miteinander Tee tranken. Lentzke, weiblich, Jahrgang 1968

----Integration passiert am besten durch persönliche Patenschaften, staatlich angeordnete Integration ist keine Integration. Neuruppin, weiblich, Jahrgang 1950

----Vergeben auch wenn Unrecht passiert ist. Das ist eine Form des Friedens, um Hass und Vergeltung entgegenzuwirken. Neuruppin, weiblich, Jahrgang 1948

----Wer verlässt schon gerne seine Heimat? Diese Menschen werden zum Spielball der Politik gemacht. Flüchtlinge dürfen nicht arbeiten, nicht einmal ihre Wohnung sauber machen … Neuruppin, männlich, Jahrgang 1946


Auswanderung und Krieg gab es doch schon immer. Man sollte nicht mit so vielen Vorurteilen ran­ gehen, sondern erstmal den Men­ schen kennenlernen und nicht auf andere hören, weil sie in ihrer Misere stecken und vielleicht von Arbeits­ losigkeit bedroht sind. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass wir auch eines Tages diese Flücht­ linge sein könnten. Wir haben kein Verständnis für diese Leute, die jetzt Hilfe brauchen, denn wir kriegen ja alles. Wir möchten ja dann auch nicht abgewiesen werden! Es ist sogar eine Bereicherung, die Lebensart anderer Kulturen kennenzulernen, sich austauschen zu können. Einige bringen etwas mit, was wir gar nicht kennen und das kann für uns von großem Nutzen sein. Ich bin mit einer Kenianerin befreundet. Wir sind ganz offen miteinander und sagen einander ehrlich, wenn etwas nicht stimmt. Man sollte nicht von einer ge­ wissen Gruppe ausgehen. Das war ja zu Hitlers Zeiten auch so, dass man einer Gruppe folgt, die aus Fanatismus agiert. Sie meckern über alles und sind so undankbar. Man muss sich in die Situation des anderen reinversetzen können, um anders denken zu können. Ich

komme aus Sachsen-Anhalt und da ist Rechtsradikalismus beson­ ders schlimm. Sie schreien unter falschem Decknamen, „wir sind das Volk“. Das sind die Fanatiker. Am allerwichtigsten ist das Herz. Neuruppin, weiblich, Jahrgang 1959

----Wir in Rheinsberg haben keine Ausländerprobleme, hier gibt es noch keine. Rheinsberg, männlich, Jahrgang 1945

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Ich bin kein Flüchtling, aber meine Eltern und beiden Brüder mussten nach dem Zweiten Weltkrieg aus Polen flüchten. Wir leben seitdem in dieser Region um Rheinsberg. Unsere Wohnung war dürftig, so war das damals. Heutzutage sollte man den Flüchtlingen helfen, aber nicht in dem Maße, wie es hier geschieht, denn es fehlen oft die Voraussetzungen. Hier haben sie nicht nur die Sprachprobleme, die Probleme sind vielschichtig: Viele hier haben den Eindruck bzw. das Gefühl, die Flüchtlinge werden bevorzugt und erhalten mehr Hilfe als die eigenen Leute. So entsteht Neid bei Arbeitslosen und leider auch Ablehnung. Die gestellten Forderungen sind zu hoch. Wenn ich hier leben möchte, muss ich mich auch anpassen. Wichtiger wäre es, die Leute in ihrem Land zu halten. Dort muss es für sie lebenswert sein und bleiben. Frieden in jedem Land ist eine Voraussetzung, um sich in der eigenen Heimat wohl zu fühlen. Rheinsberg, weiblich, Jahrgang 1947

Man muss offen sein und auf die Menschen zugehen. Verglichen mit anderen Ländern sind die Deutschen nicht die gastfreundlichsten Men­ schen. Wir sind sehr weltoffen, sonst hätten wir unsere drei Pflegekinder ja auch nicht. Umso früher die Kinder Kontakt zu ausländischen Kindern haben, je besser. Der Umgang ist ganz wich­ tig. Wir hatten eine Zeit lang zwei dunkelhäutige Kinder und ein asiatisches. Das waren ganz lie­ be Kinder. Es ist ein Stückchen Herausforderung, aber wir machen es gerne, wir sind sehr famili­ enfreundlich. Wir haben schon so einiges miterlebt hier. Es war eine Erfahrung wert, aber alles sehr positiv. Wir gehen recht lo­ cker damit um, finden immer einen Weg und gehen offen ins Gespräch. Man muss mit dem Herzen dabei sein, anders geht es nicht. Was mich stutzig gemacht hat auf der Informationsveranstaltung war der Spruch „der Landkreis hat beschie­ den“ – über unsere Köpfe hinweg. Mit einer positiven Einstellung funktioniert das schon. Dann beru­ higt sich auch die erste Hitze. Lentzke, männlich, Jahrgang 1965


Hinten bei der Feuerwehr soll ein ganzer Wohnblock für Flüchtlinge zur Verfügung gestellt werden. Hoffentlich sind keine Schläger­ typen dabei, ich würde mich hier nicht mehr wohl fühlen. Da hätte ich Angst vor Konflikten. Ich habe eine Italienerin in der Klasse, sie lebt mit ihrer Familie seit drei Jahren hier. Sie ist sehr nett. Ihre Eltern kenne ich nicht, ich habe sie aber schon einmal gesehen. Sie haben hier ein ita­ lienisches Restaurant. Ich hätte kein Problem damit, wenn weitere Ausländer in unsere Klasse kommen würden. Nett sollten sie sein. Ich habe aber Angst, dass andere ne­ gativ denken und es dann Probleme und Auseinandersetzungen gibt. Das würde mir nicht gefallen. Rheinsberg, männlich, Jahrgang 2001

----Ich wohne in Neuruppin, sehe die Flüchtlinge im Stadtbild. Mein Sohn sagte: „Mama, hier sind so viele Leute aus Afrika und ich treffe oft Menschen, deren Sprache ich nicht verstehe.“ Wir erklä­ ren unserm Sohn (4. Klasse), dass es Menschen sind, die aus unter­ schiedlichen Gründen nicht mehr in ihrer Heimat bleiben konnten. Er

ist unbefangen dem Thema gegen­ über, sagt, es sei ja nett. Es ist schon ein komisches Gefühl, aber wir sprechen ganz offen darüber. Freiwillig verlässt man sein Land ja nur, wenn man schlimme Erfah­ rungen gemacht hat. Ich glaube nicht, dass sie kommen, weil sie hier materiell besser gestellt sind. Ich würde auch fliehen, wenn das Leben meiner Kinder bedroht wäre. Lentzke, weiblich, Jahrgang 1978

----Mit einer Sozialgemeinschaft sind alle, die in Deutschland wohnen gemeint. Ich denke, wenn der Staat mehr finanzieren würde und in Sozial­ pädagogen investieren würde, wenn die Wohnungspolitik geändert würde, damit die Flüchtlinge nicht in Ghettos eingesperrt werden, dann würden sie sich auch Zuhause fühlen und gezwungen sein, sich zu integrieren. Dann könnte man Flüchtlinge nicht ausgrenzen. Neuruppin, männlich, Jahrgang 1960

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Hinterhof, Lentzke

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Dieses Projekt freut mich sehr. Über meinen Aufenthalt in Deutsch­ land möchte ich sagen, dass hier für mich alles in Ordnung ist. Die Menschen sind liebevoll und nett und ich sehe keine Probleme. Ich bin ein Kommunist und bin froh, das hier schreiben zu können. [Übersetzt aus dem Englischen] Neuruppin, männlich, Jahrgang 1986

----Wir sind eine Überflussgesellschaft: Jeder hat viel und kann auch abgeben und Flüchtlinge unterstützen. Ich habe den Zweiten Weltkrieg zwar nicht miterlebt, ich kenne aber die Erzählungen von der Großmutter und der Mutter meines Mannes. Sie mussten damals aus Polen flüchten. Mein Mann war gerade geboren. Sie musste das Kind allein großziehen. Kurz nach der Entbindung wurde die Mutter meines Mannes vergewaltigt. Als der Großvater sie beschützen woll­ te, wurde er erschossen. Sie sind geflüchtet und wurden hier aufge­ nommen. Diese Geschichte bewegt mich immer noch. Die Flüchtlinge aus Kriegsgebieten mussten auch viel aushalten. Sie haben Schlim­ mes erlebt und durchgemacht. Sie haben Familienmitglieder, Freun­

de, ihre Heimat und alles was sie besaßen verloren. Auch sie muss­ ten damit rechnen, erschossen zu werden. In Rheinsberg werden sechs Wohnungen für Flüchtlinge zur Ver­ fügung gestellt. Massenunterkünf­ te halte ich für problematisch. Gut ist, wenn sie kommen und sich auch anpassen und Deutsch lernen. Anders funktioniert das nicht. Der Anblick von dunkelhäutigen Men­ schen ist hier ungewöhnlich. Das gibt es hier kaum. Es gibt leider viele Rechtsorientierte, die man kaum unter Kontrolle bekommt. Ich denke, es gibt auch bestimmt viele, die helfen wollen. Rheinsberg, weiblich, Jahrgang 1950

----Wie damals der goldene Westen, wird den Menschen jetzt das Leben in Deutschland angepriesen. Illu­ sionen, die mit einem besseren Leben verknüpft sind. Man weiß nie so genau, ob die Leute ernste Absichten haben und wirklich ver­ folgt werden. Flüchtlinge haben hier nichts zu tun und befinden sich in einer Warteposition. Das ist ein Problem. Durch die Lange­ weile entsteht Kriminalität. Kann man ihnen nicht etwas anbieten, dass sie in Eigeninitiative für


sich selbst etwas aufbauen kön­ nen und Handlungsspielraum bekom­ men, um nicht auf dumme Gedanken zu kommen? Diese Untätigkeit ist Gift. Es sollte ein Betätigungs­ feld für Asylanten erlaubt werden, selbst wenn sie wieder abgeschoben werden. Neuruppin, weiblich, Jahrgang 1950

----Ich sehe die Aufnahme von Flüchtlingen nicht so problematisch. Auf einer Einwohnerversammlung wurden wir informiert, dass in Lentzke 70 Flüchtlinge untergebracht werden sollen, nach und nach. Denn vor­ erst stehen von dem dreistöckigen Wohnblock in der Brunner Straße nur zwei Wohnungen zur Verfügung. Die anderen sind noch in Renovie­ rung. Es hat sich eine Interes­ sengemeinschaft von 6-8 Personen gebildet, die nach Möglichkeiten suchen, sie zu unterstützen und zu integrieren, z. B. mit Einkaufs­ fahrten nach Fehrbellin. Ich sehe das Problem in der Infrastruk­ tur. In Lentzke gibt es nur einen kleinen Laden, der den Bedarf an Lebensmitteln nicht abdeckt. Am Wochenende und in den Ferien fährt kein Bus nach Fehrbellin, Schule und Kita gibt es hier schon lange

nicht mehr. In der Umgebung sind die Schulen und Kitas voll belegt. Wie sollen die Kinder dort hin­ kommen, wo lernen die Flüchtlinge Deutsch? Das Gerücht geht um, dass nicht nur Flüchtlinge, sondern auch Asylbewerber kommen werden. Flüchtlinge dürfen wohl arbei­ ten, aber Asylbewerber nicht. Das wird problematisch. Wie soll das funktionieren? Wo werden sie ar­ beiten? Jedenfalls werden wir die neu Ankommenden unterstützen. Für und Wider gibt es immer, aber auch eine Chance. Lentzke, weiblich, Jahrgang 1940

----Mich beschäftigen viele Fragen: Geht es uns zu gut, um einen Sinn für die Sorgen von Flüchtlingen zu haben? Sind Wessis gefährdet für Fremdenfeindlichkeit in Bran­ denburg? Warum ist das finanzielle Existenzminimum von Asylbewerbern niedriger als vom Hartz-IV-Be­ troffenen? Sind zwei Prozent der Bevölkerung eine Gefahr für Überfremdung oder doch eher für menschliche Inzucht? Rheinsberg, männlich, Jahrgang 1961

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Norma, Lentzke  _  Felix & Julius, Rheinsberg

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Die Not ist groß. Man ist tief betroffen, wenn man in den Medien über die Flüchtlinge in aller Welt informiert wird [einschließlich die Situation im Gazastreifen). Die Hilfe müsste durch die UNO organisiert werden, die hier leider immer versagt. Angesichts der großen Not will Deutschland zu wenige Flüchtlinge aufnehmen. Neuruppin, männlich, 1926

----Menschen sind in ihrer Heimat unglücklich, weil sie für sich und ihre Kinder nicht sorgen können. Sie sind auf der Suche nach besse­ ren Lebensbedingungen. Sie wollen arbeiten. Nach dem Zweiten Welt­ krieg waren tausende Menschen auf der Flucht. Sie brauchten Hilfe und bekamen sie. Wir sind aus hu­ manen Gründen verpflichtet, diesen Menschen zu helfen. Wer hilft, be­ kommt es irgendwie einmal zurück. Neuruppin, weiblich, Jahrgang 1938

Wir sind schon so geprägt von Urängsten, narzisstischen Störungen, Verhaltensmustern … Wie soll es da den Menschen aus unter­ schiedlichen Kulturen gehen? Rheinsberg, männlich, Jahrgang 1964

----Wir habe keine Probleme mit den Ausländern … Jedoch ein wenig Angst durch die Nachrichten aus dem Nahen-Osten, dass mit den Einwanderern auch solche Probleme nach Deutschland kommen. Wir fin­ den, Ausländer sollen in Deutsch­ land willkommen sein. Aussagen wie das Klauen der Arbeitsplätze sind Blödsinn. Für das Integrieren der Ausländer sollte jeder etwas beisteuern, damit wir eine bunte, zivilisierte Gemeinschaft aufbauen können. Neuruppin, drei Jungs, Jahrgang 2000 und 2001


Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden meine Eltern vertrieben und wir wurden aufgenommen. Menschen in Not brauchen Hilfe. Wir sind ein reiches Land und können großzü­ giger denken und handeln. Meine Eltern sagten immer zu mir: Gehe in die Welt und beobachte die Menschen in anderen Ländern. Was dir gut gefällt, kannst du dir aneignen. Das wird dir im Leben mit fremden und anderen Kulturen helfen. Neuruppin, männlich, Jahrgang 1960

----Ich bin diesem Thema gegenüber aufgeschlossen. Man muss notlei­ dende Menschen unterstützen. Aber man sollte sortieren! Viele kom­ men, weil sie hier voll verpflegt werden. Sie dürfen nicht arbeiten, bekommen aber Geld. Wer ist denn wirklich Flüchtling? Dass beißt sich alles. Tun wir den Menschen wirklich einen Gefallen, sie nach Lentzke zu schicken und abzuschot­ ten, in Heimen unterzubringen? Wer ist wirklich in Not? Das kann man so schlecht feststellen. Das ist das Problem. Unterm Strich ist al­ les mit einem großen Fragezeichen verbunden. Neuruppin, weiblich, Jahrgang 1945

Ich würde mir wünschen, dass die Bundesregierung die Menschen mehr darüber aufklärt, wie lange die Flüchtlinge bleiben. Wollten diese Menschen überhaupt herkommen oder sitzen sie hier und sind darüber total frustriert? Integration ist, glaube ich, echt schwierig. Ich bin schon oft in Deutschland um­ gezogen und habe erlebt, dass man selbst als Deutscher in Deutsch­ land, in der „Fremde“, nicht vorbehaltlos oder offen angenommen wird. Es ist immer mit viel Nach­ sicht und Wohlwollen verbunden, sich woanders einzufügen. Schon ein anderer Dialekt oder die hoch­ deutsche Sprache können Vorurtei­ le auslösen … Wie soll es da den „richtigen“ Ausländern gehen? Neuruppin, weiblich, Jahrgang 1980

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Grabenwall, Lentzke


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Vor Weihnachten sind die ersten Asylbewerber hier angekommen und die ersten Regungen sind zu spüren. Einige fühlen sich in ihren Ängsten bestätigt, andere haben bemerkt, dass es gar nicht so schlimm ist, wie gedacht. Es sind liebe Menschen, so freundlich. Endlich sind mal wieder Kinder im Ort und der Ort ist belebter. Nach außen hin funktioniert es. Zum Randalieren kommt hier keiner vorbei. Aber im Untergrund kocht halt manchmal etwas hoch. Inner­ halb der Häuser ist es extrem am Knistern, weil keiner den Mund aufmacht. Ein Mob so wie Pegida, die die Ängste und Sorgen der Leute instru­ mentalisieren, konsti­ tuiert sich aus solch einem Frust. Die Mieter im Block fühlen sich im Stich gelassen. Hier ist nie­ mand in der Gegend, wir haben ja nicht mal genug Ärzte. Ein Teu­ felskreis und typisch für unsere Politik insgesamt. Vieles, was früher über den Zivildienst ab­ gedeckt werden konnte, geht heute nur über das Ehrenamt. Die Asylbe­ werber mit Kopftuch und Vollbart, fallen mehr auf als die Europäer. Sie haben ja keine andere Möglich­ keit, als mit dem Bus zu fahren. Man sieht dann nur noch das Kopf­

tuch. Deswegen denken manche, dass wir überschwemmt werden. Obwohl nur 2,8 Prozent im Land Branden­ burg leben. Insgesamt sind hier noch 11 von 13 Familien aus Weiß­ russland, Syrien, Serbien, Bosnien und der Russische Föderation. Ein syrischer Mann musste zurück ins Einwanderungsland, wo der Finger­ abdruck hinterlassen wurde. Eine Familie aus Serbien hatte einen negativen Bescheid und musste wieder zurück nach Hause. So kann gar keine Nachbarschaft entste­ hen, wenn von 13 Familien nur ca. drei ihren Antrag durchkriegen, aber wegziehen müssen sie alle. Ich weiß nicht, ob sie wissen, dass sie nur kurz hier sind. Ich habe es so verstanden, dass es einen Herrn im Kreis gibt, der die Bescheide per Post verschickt. Und das war es. Es ist keiner da, der die Leute dann raus begleitet. Lentzke, männlich, Jahrgang 1965


Die Informationsübermittlung über die Ankunft von 70 Flüchtlingen in Lentzke war wie der Elefant im Porzellanladen. Wir dachten, da kommt ein Bus und 70 Leute steigen aus. Dass sie erst nach und nach kommen, wurde nicht gesagt. Auf der Einwohnerversammlung wurden Beschwerden darüber geäußert, dass die Linienbusse jetzt schon voll sind und die Schulkinder stehen bleiben. Ich lasse mir da nicht Bange machen; es wird sich alles entwickeln. Wir haben einmal im Monat unseren Seniorentreff und da kam die Diskussion wieder auf. Eine ältere Dame hat sowas von ge­ schimpft, sie will die Flüchtlinge nicht im Umfeld haben und hat al­ les mit Kreuzberg verglichen, dass mit Benzin begossene Fußabtreter unter die Türen geschoben werden. Ich weiß nicht, ob es Angst, Dumm­ heit oder Stimmungsmache ist. Da kocht es bei mir über! Ich habe kein Verständnis für derartige Äußerungen! Die Menschen hier aus dem Neubau freuen sich und sagen: Lass sie doch erstmal kommen und dann sehen wir. Andere Kulturen muss man kennenlernen. Ein Groß­ teil der Menschen ist nach dem Krieg aus einem zerbombten Land in ein zerbombtes Land gekommen.

Und jetzt, da es so reich ist, wollen sie nichts abgeben. Das kann ich nicht verstehen. Die abfälligen Meinungen dieser Dame beschäftigen mich so sehr, obwohl es schon über acht Tage her ist. Wenn sich in ihrem Denken etwas ändern sollte, wäre es ein Wunder. Gestern waren wir in Berlin zu ei­ ner Einheitsveranstaltung, wo eine Journalistin Bilder von zerbombten Städten im Jemen und Palästina gezeigt hat. Alles zerbombt! Und dann stellt man sich hin und sagt, die sollen doch dort blei­ ben. Ich habe selbst nicht so viel vom Krieg mitbekommen. Habe aber keinen Vater kennengelernt, weil er nicht aus dem Krieg zurückkam. Unsere Mutter musste auf dem Feld stoppeln gehen, damit wir etwas zu essen bekamen. Und jetzt, wo so­ viel Essen weggeworfen wird, soll nichts abgegeben werden? Das kann ich nicht verstehen. Lentzke, weiblich, Jahrgang 1942

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Kirchplatz, Rheinsberg


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Freunde von uns ziehen demnächst in den Block, in dem auch die Flüchtlinge untergebracht werden. Dadurch rückt das Thema für uns näher und wir müssen uns damit auseinandersetzen. Es ist viel Offenheit von unserer Seite da. Unsere Kinder sagten gleich, sie stellen den neuen Kindern eine Kiste voller Essen und einen Blumenstrauß vor die Tür. Unser Sohn hofft darauf, neue Freunde zu finden. An dieser kindlichen Unbefangenheit möchten wir fest­ halten. Mein Mann ist Musiker und hofft ebenfalls, dass noch andere Musiker kommen. Glückli­ cherweise gibt es viele sozial­ starke Mitbewohner im Dorf, die sich engagieren und Patenschaften bilden wollen. Es gibt aber auch ablehnende Haltungen.

Von uns wird nur etwas Offenheit und Wohlwollen erwartet, das ist doch bescheiden. Wir leben doch gut und qualifizierte Kräfte werden überall gebraucht. Aber jeder, der einen Einschnitt in seinen Alltag hat, hat erstmal Bedenken. Es sind Flüchtlinge, keine Bittsteller. Ich hatte vor kurzem ein Gespräch mit Freunden aus Eisenhüttenstadt. Wenn, wie dort, viele Menschen auf engem Raum leben, sind Spannungen vorprogrammiert. Ich denke, die­ jenigen, die das hier betreuen, sollten auch gut vorbereitet sein. Ideologische oder religiöse Diffe­ renzen sollten beachtet werden. Durch schlechte Organisation können Konflikte hineingetragen werden. Vom Grundsatz her bin ich aufgeschlossen und bleibe ge­ lassen.

Lentzke, weiblich, Jahrgang 1970

Lentzke, männlich, Jahrgang 1952


Die Neuruppiner Panzerkasernen könnten für Migranten genutzt werden. Das Gebiet ist groß und die Menschen hätten viele Möglichkei­ ten, sich zu betätigen und würden eine Aufgabe bekommen. Ich weiß nicht, welche Menschen aus welchen Kulturen und Religionen ankommen. Das sollte man vielleicht trennen. Es wird erzählt, dass Asylbewerber kommen und Schäden anrichten und die Einrichtung demolieren. Ich weiß es nicht, habe es nur gehört. Es wäre auf jeden Fall sinnvoll, dass sie Tätigkeiten bekommen, um keinen Unsinn anzustellen und um selbst etwas schaffen zu können. Neuruppin, männlich, Jahrgang 1945

Die größte Angst bei den Leuten ist vor den unterschiedlichen Lebensrhythmen. Sie dürfen nicht arbeiten, sind immer Zuhause wie die verpönten Hartz-Vierer. Dann entsteht Lärmbelästigung. Meine Tochter wohnt in Berlin mit Türken in einem Haus. Nette Leute, die gut miteinander auskommen. Aber einmal im Jahr zum Ramadan ver­ schieben sich die Lebensrhythmen abrupt. Da wird der Tag auf die Nacht verschoben. Es spitzt sich alles ganz schön zu, wenn man sich so umguckt. Wir reden im Freundes­ kreis viel darüber. Es ist ja ein Thema, was gerade brennend heiß diskutiert wird. Man kann doch Argumente vorbringen, ohne gleich als ausländerfeindlich abgestem­ pelt zu werden. Man muss sich weiterbilden, Radio hören und darf nicht nur auf Schlagzeilen aus den Medien hören. Schnell werden so Nachbarn gegeneinander aufgewie­ gelt. Und dann wird alles hochge­ putscht und verkompliziert. In der DDR hatten wir nur Vietnamesen und Kubaner, das hat auch nicht ge­ klappt. Sie waren auch abgekapselt und nicht integriert. Ansonsten gab es ja gar keine Erfahrungen mit Ausländern. Neuruppin, männlich, Jahrgang 1957

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Gedanken machen, überhaupt und sowieso … Nicht lethargisch Zu­ hause sitzen und die Dinge passie­ ren lassen … Das ist mir wichtig. Und aus den Gedanken heraus tätig werden. Tätig sein bedeutet: Angst verlieren, Räume für Gefühle zu öffnen. Ich würde mir wünschen, dass die Menschen es schaffen, ihre alltäglichen Probleme und Konflikte nicht auf Flüchtlinge und Asyl­ suchende zu übertragen. Jeder sollte die Verantwortung bei sich selbst suchen. Mitgefühl be­ deutet, sich in die Lage eines an­ deren Menschen hineinversetzen zu können. Das Mitgefühl stirbt aus! Lentzke, weiblich, Jahrgang 1962

----Wir müssend dafür sorgen, dass die Welt überall ein Zuhause ist. Dafür lohnt jede Anstrengung. Wir sind alle nur Gast auf dieser Erde. Rheinsberg, weiblich, Jahrgang 1956; männ­ lich, Jahrgang 1958

Wir sind im Februar 1945 geflüchtet. Nach Neuruppin mit einem Pferdewagen. Wenn ich könnte, würde ich heute Flüchtlinge be­ treuen. Ich finde es nicht gut, wenn sie beengt in einem Heim untergebracht werden. Sie sollen Wohnungen bekommen und ein nor­ males Leben führen können. Rheinsberg, weiblich, Jahrgang 1929

----Hilfe heißt nicht: Waffen liefern. 1. September Weltfriedenstag. Kleine Kundgebung in Neuruppin wegen Krieg in Syrien. Ein Syrier wollte etwas sagen, konnte es aber vor Aufregung nicht. Junge und alte Menschen aus den Flüchtlings­ heimen waren dabei. Wir finden es gut, dass sie hier sind, weil dort Krieg herrscht. Wir finden es gut, dass sie sich wohlfühlen dürfen. Neuruppiner haben sich positiv geäußert und wollten sie unter­ stützen. Deutschland soll nicht mit Waffenlieferungen die Kriege unterstützen. Damit kann man kei­ nen Frieden stiften. Hilfe vor Ort wäre wichtiger. Neuruppin, männlich udn weiblich, Jahrgang 1950

Kirsten & Florin, Lentzke

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Meine Oma ist 90 und wohnt in dem Block. Sie sagt, mal sehen, was jetzt wird. Was ich mich frage, was sollen sie hier? Hier gibt es ja wirklich nichts. Sie sitzen hier, haben keine Arbeit, dürfen, glaube ich, auch nicht arbeiten. Sie können nicht einkaufen. Hier ist kein Kino, keine Veranstal­ tung, nichts. Ich weiß nicht, was sie hier sollen, finde es eigent­ lich gemein und es tut mir schon richtig leid. Mir ist es ein Rät­ sel, was die armen Menschen ohne Perspektive sollen. Die Lentzker haben ihr eigenes Familienleben. Es ist ja nicht mehr so wie frü­ her, wo alle abends im Dorfkrug ein Bier zusammen tranken. Nun kommt eine andere Kultur, sie ha­ ben hier nichts. Wie kommen sie zur Schule, wie können sie in den Kindergarten? Ich finde es nicht richtig durchdacht. Ich habe keine Angst vor den Flüchtlingen, aber ich habe Angst vor ausländerfeind­ lichen Reaktionen.

Niemals habe ich das Recht, auf einen Menschen herabzusehen, es sei denn, ich helfe ihm aufzustehen. Und wenn ich persönlich in meinem Leben die Chance habe, nur einer Frau, einem Mann, einem Kind in dunklen Zeiten das Licht in seiner Dunkelheit zu sein, so habe ich mein Leben nicht umsonst ge­ lebt. Die Menschen in Deutschland haben oft nur Angst um ihr eige­ nes, kleines Reich. Angst, dass es morgen nicht mehr reichen könnte. Darum fürchten sie, sie müssen teilen. Dabei können wir alle so viel lernen, voneinander, von an­ deren Herzen, anderen Seelen. Vor Gott stehen wir alle ohne Geld da, ohne Hab und ohne Gut. Für ihn zählt nur eines: Welche Spuren der Liebe hast du hinterlassen in deinem Leben? Gingst du deinen Weg voller Vertrauen in mich, in dich? Ich wünsche mir, dass die Menschen sich wirklich für den Glauben öff­ nen, für die Liebe und das wirkli­ che Leben miteinander.

Lentzke, weiblich, Jahrgang 1976

Neuruppin, weiblich, Jahrgang 1968


Hier in der Ecke, wo die Flüchtlinge untergebracht werden sollen, sind nur Sozialwohnungen. Da haben sie dann genau das richtige Umfeld, sich zu integrieren. Rheinsberg, männlich, Jahrgang 1980

----Ich habe letztens einen Film gesehen. Da hat in Bautzen, glaube ich, ein Hotelier sein Hotel zu einem lebenswerten Flüchtlings­ heim mit dem gleichen Personal usw. umfunktioniert. Seitdem bekam er Morddrohungen und musste erst einen Zaun um sein Hotel bauen, um die Menschen zu schützen … vor seinen Nachbarn. Das macht mir Angst … Wie wollen wir empfangen werden, wenn wir flüchten müssten? Rheinsberg; weiblich, Jahrgang 1951

In meiner Freizeit spiele ich sehr oft mit Asylanten Fußball. Das kulturelle Umfeld hier in Neuruppin wäre ohne Menschen aus anderen Ländern sehr langweilig. Ich finde es aber sehr krass, was in den Medien so alles passiert. Ich bin für eine kulturelle Viel­ falt. Neuruppin ist, meiner Mei­ nung nach, ein gutes Beispiel für Toleranz. Die Gesetze für einen langen Aufenthalt für Flüchtlinge sind sehr hart. Diejenigen, die hier auf Dauer leben können, muss­ ten auf schwierigstem Weg zu uns kommen. Es gibt immer Leute, die denken, dass es zu viele Flücht­ linge gibt. Meiner Meinung nach haben die Leute damit Unrecht. Es kann schon stimmen, dass auf der Welt das Thema Flüchtlinge ein schwieriges Thema ist, aber wir sollten Flüchtlinge aufnehmen, die Probleme haben. Neuruppin, männlich, Jahrgang 1995

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Garten, Lentzke

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Lentzke war zu DDR-Zeiten mal ein Vorzeigeort. Die Schadenfreude der umliegenden Gemeinden ist spürbar. Bisher wohnten hier 400 Leute. Außenstehende haben keine Ahnung davon, was es heißt, in solch einem Wohnverbund zu leben … Die Probleme sind komplex. Von der (nicht) vorhandenen Infrastruktur bis zu Mülltrennung, Verschwen­ dung, Lärmbelästigung, Mentali­ tätsangelegenheiten. Für den Lärm durch Kinder haben die Nachbarn Verständnis. Aber der Lärm bis spät in die Nacht ist ein Problem. Der Umgang mit materiellen Dingen, die Verschwendung und Unachtsam­ keit lösen Frust bei den Einheimi­ schen aus. Das Treppenhaus ist to­ tal warm vor ihren Wohnungen. Sie machen morgens die Lampen an und abends wieder aus. Einmal kannst du es den Leuten erklären, aber die Wohnungen werden drei- bis viermal im Jahr neu belegt. Und man fängt immer wieder von vorne an. Ich möchte mit keinem tau­ schen, aber sie glauben teilweise wirklich, hier ist Schlaraffenland. Da kommt immer warmes Wasser aus der Leitung, das Essen und alles andere wird bezahlt und Kleidung bekommen sie von Ehrenämtlern. Die Nachbarn haben kein Verständnis

dafür. Bedürftig sein, das sieht in ihren Augen anders aus. Sol­ len sie auf den Knien herumrut­ schen? Wenn es nach dem Weltkrieg die Möglichkeit gegeben hätte, in die alte Heimat zu telefonie­ ren, hätten wir doch auch Bescheid gesagt, dass wir gut angekommen sind. Telefonieren kostet heute nichts mehr und so stehen sie eben auf der Straße und telefonieren. Ein Mann kam im BMW mit Spen­ den. Jeanshosen für 150 Euro das Stück. Dann kriegen sie halt eine Markenjeans! Andere müssen darum kämpfen, sich mal bei Kick eine Jeanshose leisten zu können. Die Essensreste in den Mülltonnen sind enorm. Das Problem ist, dass die Leute das einfach nicht verstehen. Sie haben die Mülltrennung erklärt bekommen, haben aber nur einen Mülleimer oben. Und wenn unterwegs Müll aus den Tüten fällt, bleibt er liegen. Die Leute, die hier schon immer gewohnt haben, leiden unter der Situation. In der Müll­ tonne finden sich funktionstüchtige Sachen. Die Einheimischen verste­ hen diese Verschwendung nicht, es tut denen weh. Lentzke, männlich, Jahrgang 1965


Die Flüchtlinge kurz vor der Wende sind Deutsche gewesen, die zu Deutschen geflüchtet sind. Das war etwas anderes, das kann man nicht vergleichen. Die meisten Flücht­ linge heute sind Wirtschaftsflücht­ linge. Nach den USA hat Deutsch­ land die höchste Immigrationsrate. Es zeichnet sich immer mehr ab, dass wir eine Vermischung der Kultur und der Religion haben. Was ist von der deutschen Kultur noch übriggeblieben? Klar, man kennt Goethe, Bismarck, was ist denn noch typisch deutsch? Andere Kulturen zu retten, auf Kosten der eigenen Kultur, das begrüße ich, ehrlich gesagt, nicht. Wenn die Politiker sagen, wir holen neue Leute aus dem Ausland wegen des Fachkräftemangels, das ist eine Lüge. Die Flüchtlinge können nie etwas dafür. Die Schuld ist bei den Kriegstreibern und Politi­ kern zu suchen. Warum führen wir Krieg? Für Rohstoffe. Es geht nur um Macht, um Geld. Ein von Men­ schen gemachtes Problem, auf deren Schultern ausgetragen. Die Men­ schen, die herkommen sind nicht das Problem, sondern das Resultat des Problems. Den Frust auf die Flüchtlinge kann ich verstehen. Ich verstehe, wenn Ablehnung ent­

steht. Den Begriff Sozialschma­ rotzer würde ich aber nie benut­ zen. Um Gottes Willen, man sollte die Menschen trotzdem mit offenen Armen empfangen. Wärme, Gast­ freundschaft. Wir sprechen immer nur über die Resultate, nicht über die Ursachen. Das ist das ganze Problem. Ich habe in die deutsche Politik jegliches Vertrauen ver­ loren. Das Einzige, was wir als Volk, als Bevölkerung machen können, dass man gemeinsam einen Konsens findet, um diese Politik wieder auf den richtigen Pfad zu bringen. Rheinsberg, männlich, Jahrgang 1982

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Juliane & Viola mit ihren Sテカhnen, Lentzke窶ダ窶ィテ、rbel, Neuruppin

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Feldweg, Lentzke


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Ich bin Erzieherin in Berlin in einem Verein mit mehreren Kitas und sozialpädagogischer Betreuung. Wir haben mittlerweile zwei serbische, zwei französische und eine syrische Familie. Man merkt, dass das syrische Kind noch sehr traumatisiert ist und eine andere Sozialisation genossen hat als die deutschen Kinder. Man merkt die kulturellen Unterschiede. Die Kinder aber verständigen sich auf andere Weise, auch ohne Sprache. Sie haben da keine Verständigungs­ probleme und auch keine Vorur­ teile. Kinder sollen auch rela­ tiv zeitig den Zugang zu anderen Kulturen bekommen und im Kinder­ garten die erste Erfahrung mit ausländischen Kindern machen. Die syrische Familie ist in Pankow untergebracht. Die Kriminalitäts­ rate ist dort, unterm Strich, gestiegen. Zusammenleben auf engstem Raum schürt die Unzufrie­ denheit, besonders nach trauma­ tischen Erleb­ nissen. Dieses im Kontext zu sehen, für jemanden der keine Berührungspunkte hat, ist schwer. Ich habe das Gefühl, dass für Flüchtlinge nur große Sympa­ thie empfunden wird, wenn es einen selbst nicht berührt und aus der Ferne betrachtet wird. Wenn das

Thema näher rückt, sogar in die unmittelbare Nachbarschaft, merkt man dann ganz schnell, wie groß die Sympathie dann tatsächlich ist: nämlich relativ gering. Neuruppin, weiblich, Jahrgang 1978

----Ich habe keine Probleme mit den Flüchtlingen. Die Probleme sind alle hausgemacht. Ich würde mein Letztes geben, besonders wenn Familien mit Kindern kommen. Ich mag Kinder. Habe zwar auch nicht die höchste Rente, aber die Kin­ der würde ich unterstützen. Wenn sie wollen, lade ich sie auf mein Multicar und fahre sie durch die Gegend. Lentzke, männlich, Jahrgang 1939

Mustafa, Osama & Salim, Lentzke


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Spielplatz, Lentzke


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Ein großes Problem sind die gewaltverherrlichenden Spiele. Er­ folgsquote über Tote und zerstörte Häuser. Sie spielen die Spiele, wissen aber nicht, was Krieg wirk­ lich ist und was es bedeutet, ver­ trieben zu werden und Not in der Familie zu haben. Es ist schwer, das der Jugend greifbar zu machen. Neuruppin, männlich, Jahrgang 1945

----Wenn heute über Flüchtlinge gesprochen wird, muss ich immer an die 90er Jahre denken. Es gab nach der Wende kaum Ausländer, aber jede Menge Vorurteile. Schlecht informierte Menschen wussten alles besser. Hat sich seitdem etwas verändert? Ich fürchte, nein. Noch immer lese ich auf Facebook: Die sollen wieder dorthin zurück, wo sie herkommen. Nur wenige machen sich die Mühe, dagegen zu argumen­ tieren, auf Krieg oder wirtschaft­ liche Nöte hinzuweisen, die die Menschen dazu zwingen, ihr ganzes bisheriges Leben hinter sich zu lassen. Gerade in einer vernetz­ ten und vermeintlich aufgeklärten Welt hätte ich das nicht erwar­ tet. Deshalb wünsche ich mir, dass Flüchtlinge nicht als Last emp­ funden werden, sondern als Berei­ Michael, Neuruppin

cherung und Anlass, unsere eigene Lebensweise mit all ihrem Über­ fluss, ihrem weichgespülten Fern­ sehen und so manchem voreiligen Urteil zu überdenken. Wenn meine Großeltern nicht auch eines Tages nach Flucht und Vertreibung ein neues Zuhause in dem Land gefunden hätten, das wir heute Deutschland nennen, könnte ich diese Zeilen nicht schreiben. Diese Freiheit zu teilen macht unsere Gesellschaft modern. Nicht die Abschottung vor dem, was fremd und andersartig erscheint. Neuruppin, männlich, Jahrgang 1975

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Insa, Peter & Alma, Neuruppin  _  Franz, Lentzke


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Ich habe das Gefühl, dass die Integration keine wirkliche Integration ist. Sie könnte direkter in der Gesellschaft stattfinden, mehr an der Basis. Da, wo Menschen leben, arbeiten und ihre Freizeit verbringen. Jeder Flüchtling könn­ te einen Paten bekommen. Der Pate kümmert sich um Integration, um Teilnahme an allen Bereichen des Lebens, auch sofortige Integrati­ on durch einen Hilfsarbeiter-Ar­ beitsplatz. Firmen übernehmen die Patenschaften, aber auch engagier­ te Privatpersonen. Das alles ist unentgeltlich, aber wird automa­ tisch mit zunehmender Zeit sehr hohe soziale Anerkennung erfahren. Neuruppin, männlich, Jahrgang 1961

----Die Probleme bei der Unterbringung der Asylbewerber sind, nach meiner Ansicht, die medizinische Versorgung und die sprachliche Barriere. Dazu kommt noch Versorgung mit Lebensmitteln, da ja nicht alle Menschen das gleiche essen. Neuruppin, männlich, Jahrgang 1938

Ein Bild welches mir Angst gemacht hat, war das Bild eines eingezäunten Hauses, kameraüberwacht, Wachschutzpatrouille rund um die Uhr. Dieses Bild aufzulösen, zu vergessen, dabei haben Freunde und Bekannte geholfen. Indem sie nicht meine Skepsis schürten und in das Horn meiner Angst bliesen, sondern ein anderes Bild malten. Auf diesem Bild sind Begegnungen zu sehen, das miteinander Feiern, der Austausch von Kochrezepten. Eine Freundin sagte: Toll, ich komm dich ganz oft besuchen. Ein Kollege meinte: Da musst Du nicht verreisen, die fremden Länder kom­ men vor die Tür. Ein Bekannter be­ schrieb mir die Freundlichkeit und Mentalität der syrischen Menschen. Ich suche diese Menschen und die positiven Begegnungen. Die angst­ machenden, destruktiven vermeide ich. Der Zuzug von Flüchtlingen ist eine von vielen Veränderun­ gen, welche in meinem Leben gerade passieren. Ich habe mich an den Gedanken gewöhnt, ihn zu meinen anderen Gedanken getan. Dies gibt mir die Freiheit, der Situation entspannt, gespannt, neugierig und auch erwartungsvoll entgegenzuse­ hen. Danke an meine Freunde. Lentzke, weiblich, Jahrgang 1970


Nach mehr als einem halben Jahr kann ich sagen: Keine der extremen Befürchtungen hat sich bewahrheitet. Niemand hat eine Ziege auf der Straße geschlach­ tet, keine Rechten sind im Dorf aufmarschiert, es gibt nicht mehr Einbrüche, als vorher auch schon. Die neuen Lentzker sind höflich und zurückhaltend. Dass es trotzdem nicht einfach ist, war zu er­ warten. Klar ist es jetzt lau­ ter in den Häusern – so war es zu DDR-Zeiten auch, als alle Wohnun­ gen belegt waren. Klar gibt es Probleme mit Müll – aber Sessel, Fernseher und Kühlschränke schmei­ ßen auch Deutsche an den Straßen­ rand. Klar ist die Infrastruk­ tur schlecht, doch es gibt eine Mitfahrliste. Alle Kinder sind in Schule oder Kita untergebracht. Doch die Langeweile unter den Flüchtlingen ist immens. Wir reden viel, versuchen, Probleme schnell zu lösen, der Landkreis ist weit weg und hilft wenig. Trotzdem sind meine Erfahrungen durchweg fast nur positiv und ermutigend und immer wieder sehr, sehr schön! Wer gibt mir das Recht zu sagen: Der eine darf kommen und der andere soll Zuhause verhungern? Lentzke, weiblich, Jahrgang 1962

Die Problematik des Vertrieben­ seins ist uns fremd. Unsere Großeltern haben uns in unserer Kindheit davon erzählt. Es klang wie ein Märchen aus vergangenen Tagen und nicht nachvollziehbar in unserem eigenen Leben. Sie kamen aus dem Sudetenland und Ostpreußen über Nacht geflüchtet. Uns geht es gut. Wohlstand und Frieden – geben wir etwas ab. Es schmerzt nieman­ den, also macht es! Rheinsberg, weiblich, Jahrgang 1960

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Schloßstraße, Rheinsberg


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Alex & Hans, Lentzke  _  Mary, Neuruppin

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Michael, Lentzke


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Menzer StraĂ&#x;e/Am Stadion, Rheinsberg


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© 2015 Kathrin Ollroge Fotografie, Potsdam Projektträger: Potsdamer Kunstgenossen e. V. Konzept/Fotografie: Kathrin Ollroge Design Raumkörper/Technik: Peer Ollroge Textgestaltung/Lektorat: WennText, Eszter Molnár, Potsdam Gestaltung/Layout/Satz: HELLOGRAPH, Potsdam Bildbearbeitung: Göran Gnaudschun Webseite/Programmierung: Markus Laspeyres, Nerdline Druck/Herstellung: Christian & Cornelius Rüss GbR, Potsdam www.raum-fuer-gedanken.com VIELEN DANK! Der Assistenz vor Ort: Barbara Thieme, Peer Ollroge, Jennifer Peters. Sowie Vivianne Lehmann, Jeanne Finsterbusch, Undine van Beek, dem Team der fabrik Potsdam, Steffen Brünner, Marek Kucera, Nadja Hess, Kerstin Walter, dem Hans-Otto-Theater & Stadt für eine Nacht, Raymond und Michael Utech, Lydia Schimpf, Mario Zetzsche, Juliane Lang/Stadtverwaltung Neuruppin, Norma Strauß, Martin Osinski, Steffen Jakuttek, Dieter Sarnow/Bündnis Fehrbellin & Lentzke bleibt bunt, Michael Köser, Josphine Gutzeit und Moritz von Hammerstein vom Wohn­ verbund Lentzke, Uschi Jung, Toni Torrillon, Esta Ruppin, JWD Mittendrin, Bilderbogenpassage, Marktleitung Neuruppin Andreas Dziamski, Herr Schlaak, Alexandra Ester/Inkom Neurppin GmbH, Antje Lunow/GV Nordost Verwaltungsgesellschaft mbH, Pension Rosengarten und Pension Oelke, Ingrid El Chouli, Horst Ollroge sowie dem gesamten Produktionsteam! Besonderen Dank allen Menschen, die sich durch Wort, Bild, Kuchen, Fahrzeugreparatur und praktische Hilfe in das Projekt eingebracht haben.

Das Projekt „Raum für Gedanken im Landkreis Ostprignitz-Ruppin“ wurde gefördert von: Brandenburgische Landeszentrale für Politische Bildung & Lokaler Aktionsplan Ostprignitz-Ruppin aus dem Bundesprogramm TOLERANZ FÖRDERN – KOMPETENZ STÄRKEN



Anhand von Texten und Fotografien werden die Herausforderungen des Zusammenlebens von Menschen unterschiedlicher Herkunft, Kultur und Religion im Land Brandenburg thematisiert.

www.raum-fuer-gedanken.com


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