Moos et al., Das Potenzial von Wildnis in der Schweiz

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Bristol-Schriftenreihe Band 60

Haupt NATUR


Herausgeber Ruth und Herbert Uhl-Forschungsstelle fĂźr Natur- und Umweltschutz, Bristol-Stiftung, ZĂźrich www.bristol-stiftung.ch


Sebastian Moos, Sarah Radford, Aline von Atzigen, Nicole Bauer, Josef Senn, Felix Kienast, Maren Kern, Katharina Conradin

Das Potenzial von Wildnis in der Schweiz

Haupt Verlag


Verantwortlich für die Herausgabe Bristol-Stiftung. Stiftungsrat: Dr. René Schwarzenbach, Herrliberg; Dr. Mario F. Broggi, Triesen; Prof. Dr. Klaus Ewald, Gerzensee; Martin Gehring, Zürich Managing Editor Dr. Manuela Di Giulio, Natur Umwelt Wissen GmbH, Zürich Adressen der Autorinnen und Autoren Sebastian Moos, Maren Kern, Dr. Katharina Conradin, Mountain Wilderness Schweiz, Sandrainstrasse 3, CH-3007 Bern Sarah Radford, Aline von Atzigen, Dr. Nicole Bauer, Dr. Josef Senn, Prof. Dr. Felix Kienast, Eidgenössische Forschungsanstalt WSL, Zürcherstrasse 111, CH-8903 Birmensdorf Layout Die Werkstatt Medien-Produktion GmbH, D-Göttingen nach einem Konzept von Jacqueline Annen, Maschwanden Illustrationen Umschlag: Atelier Silvia Ruppen, Vaduz Kapitel 1 – 6: Magma Branding, Bern und St. Gallen Zitierung Moos, S., Radford, S.L., von Atzigen, A., Bauer, N., Senn, J., Kienast, F., Kern, M., Conradin, K. 2019. Das Potenzial von Wildnis in der Schweiz. Zürich, Bristol-Stiftung; Bern, Haupt 142 S. Diese Publikation ist in der Deutschen Nationalbibliografie verzeichnet. Mehr Informationen dazu finden Sie unter http://dnb.dnb.de Der Haupt Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016 – 2020 unterstützt. ISBN 978-3-258-08112-0 Alle Rechte vorbehalten. Copyright © 2019 Haupt Bern Jede Art der Vervielfältigung ohne Genehmigung des Verlages ist unzulässig. Printed in Germany www.haupt.ch

Signet FSC

Klimaneutral


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Abstract Wilderness potential in Switzerland Wilderness is very subjective and opinions on wilderness vary greatly. Here we consider wilderness as areas without any notable infrastructure and with little human influence, where nature can develop freely and natural processes are not disturbed. Wilderness is vitally important, yet it continues to decline on a global scale. Pressure on wilderness is increasing: Infrastructure for tourism and energy production in particular is a major threat to the last remaining pristine, untouched areas in Switzerland. Wilderness is not specifically protected in Switzerland; however, some valleys contain areas with the potential to return to wilderness following abandonment and discontinued land-use. The goal of this study was to identify areas of high wilderness quality in Switzerland. Additionally, the local population’s arguments for and against wilderness and views of experts in Cantons with high wilderness potential were explored. Interviews with the local population of Maderanertal show a close bond between inhabitants and their natural environment, affecting their attitude towards wilderness. The interviews show seven different lines of argumentation regarding the free, undisturbed development of nature. Wilderness was often not understood to exclude human land and resource use. Most cantonal experts share the opinion that there is a need for untouched areas in Switzerland. However, when referring to their «own» Canton, this opinion is far less distinct. Wilderness quality in Switzerland was quantified using four geographically measurable criteria (naturalness, human influence, remoteness and ruggedness) which were combined to form a wilderness quality map. The potential for future wilderness development was approximated using a value of «extensification» to identify areas of successively less intensive land-use. Around 17 percent of Switzerland’s landmass was identified to have high wilderness quality. These areas are mostly located in high alpine and glacial regions. Areas with high wilderness development potential, following land-use extensification over several decades were mainly concentrated in the Alps and the foothills of the Alps. The ecological potential for wilderness in the Alps is high; the attitude of the local population towards the free development of nature, however, is often sceptical. Wilderness has a chance, where both the ecological potential (wilderness quality and extensification) and the societal potential (acceptance, legal and political bases) overlap. Broad awareness of the value of wilderness, alongside the inclusion and active participation of the local population are crucial to achieve long-term wilderness protection in Switzerland. Areas of high wilderness quality and wilderness development potential need to be preserved. Protection measures which enable natural processes to develop freely e.g. forest reserves, should be extended to conserve these valuable areas. Keywords: wilderness; wild areas; wilderness quality; geographical modelling; wilderness mapping; Maderanertal; wilderness perception; Swiss Alps


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Das Potenzial von Wildnis in der Schweiz

Zum Geleit Wildnis ist ein starkes, emotionales Wort, welches polarisiert. Den einen erwächst damit die Natursehnsucht, andere fühlen sich davon bedroht. Um die Wildnis in unseren Breiten zu verstehen, muss man zunächst den Wald verstehen. Wald und Wildnis entstammen vermutlich denselben Wortwurzeln, sie sind miteinander verbunden. Den Wald zu verstehen ist aber gar nicht so einfach. Dort gelten längere Zeitintervalle als für uns Menschen und vor allem andere Abläufe als in unserer immer schnelleren Welt. Wenn Bäume und Wald zerstört werden, sterben Gedächtnis und Vorstellungskraft mit. Unsere Zivilisation wurde inmitten der Wälder gewonnen. Sie definierte sich über die Abgrenzung zum Wald, der draussen (foris), dunkel und gesetzlos war. So gestaltete sich unser Umgang mit dem Wald schwierig. Wir nahmen Teile davon in unsere Obhut und machten daraus einen Forst. Spät erkannten wir, dass er auch Lebensraum für eine vielfältige Tier- und Pflanzenwelt ist, die auch des Alt- und Totholzes bedarf. Noch immer betreiben wir mit dem Wald und seinen Ressourcen weltweit Raubbau. Das muss ändern! Wir brauchen diese Wälder und wilde Gegenden, weil sie an eine Welt erinnern, die ausserhalb des Menschen liegt, ausserhalb seines gestutzten Blickes. Die Landschaften der grossen Ebenen, Prärien, Taigas, Wildfluss-Systeme, Wüsten, Berge einmal zu erleben, kann dem Menschen eine Ahnung der Grösse geben, die über ihn hinausgeht und die wir vielfach verloren haben. Es fällt uns offensichtlich schwer zu sehen, dass wir Teil von etwas Grösserem sind; wir verharren in einer vermeintlichen Andersartigkeit und verweigern uns eines Abgleichs, der uns mahnen könnte, dass die Welt mehr als uns umfasst. Respekt und Demut vor dieser Genese sind gefordert, auch ein Loslassen auf bestimmten Flächen. Wir rücken aber immer mehr von der natürlichen Welt ab. In der unberührten Natur gibt es Lebensvielfalt, die mit unserer Landnutzung nicht zurechtkommt. Sie braucht Freiräume, um sich entfalten zu können. Es braucht Flächen, auf denen wir die Natur Natur sein lassen. Dies sind Referenzflächen in einer sich rasch ändernden Welt, wo das Unvorhergesehene und Ungewohnte Platz haben muss. Als «Kolonisatoren» haben wir mit solchen Gedanken unsere liebe Mühe. Die Bedeutung in der Sprache ist auf unseren unmittelbaren Nutzen ausgerichtet. Da wird «das Andere» zum Ödland, zum Unland mit Unkraut, und der Wolf bedroht uns. Da nützen aufgearbeitete Fakten zu kaum vorhandenen Angriffen auf den Menschen durch dieses Raubtier und allfällige Vergleiche der vielen Todesopfer auf den Strassen nichts. Das steckt etwas tiefer, es steht uns diese Debatte für einen Spurwechsel oder eine Verbreiterung unserer Sichtweisen noch bevor. Die Wildnis-Debatte mit dem Erfordernis freier Naturentfaltung hat in den uns umgebenden Staaten im Zuge der Umsetzungen der Biodiversitäts-Konvention begonnen. In der Schweiz wurde sie mit den auszuweisenden Naturwaldreservaten und der damit verbundenen freien Naturdynamik eröffnet. Jetzt gilt es, sie auf Flächen ausserhalb des Waldes, zum Beispiel auf Flüsse und alpine Gegenden oberhalb der Waldgrenze, auszuweiten. Dabei gilt es, den berechtigten Ansprüchen der alpinen Bevölkerung Rechnung zu tragen. Das Postulat «Wildnis» soll dabei nicht zum Nachteil verkommen – ihr Wert ist zu


Zum Geleit

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vermitteln und letztlich auch abzugelten. Eine Grundlage für diese Wildnis-Debatte ist die Kenntnis des bestehenden Wildnispotenzials. Nun liegen diese Daten vor. Wir danken der Autorenschaft von Mountain Wilderness Schweiz und der Eidg. Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) für die Aufbereitung der Daten über die noch vorkommenden Wildnisqualitäten. Ebenso dankbar sind wir für die Behandlung des Wildnisaspekts aus sozialwissenschaftlicher Sicht. Es gibt sie also noch, die kaum erschlossenen Räume, vor allem in den Alpen. Die alpine Erschliessung ist allerdings weit fortgeschritten und diese letzten Refugien gilt es zu erhalten. Sie bilden das grosse Wildnispotenzial, die Regenerationsräume, die wir bei den Wildflüssen in Mitteleuropa weitgehend verloren haben und bereits heute im benachbarten Ausland wie am Tiroler Lech oder noch ausgeprägter am Friulaner Tagliamento suchen müssen. Die Bristol-Stiftung hat im Verlaufe ihrer Aktivitäten mehrfach Untersuchungen zur Wildnis gefördert. Dieses Buch leistet einen weiteren wichtigen Beitrag, nicht oder wenig genutzte Räume zu definieren und ihre Bedeutung für Natur und Mensch zu würdigen. Dieses bewusste «Unterlassen» statt nur geschehen «Lassen» kann die nötige Wildnis-Debatte bereichern. Mario F.Broggi Stiftungsrat und Geschäftsführer der Ruth und Herbert Uhl-Forschungsstelle für Naturund Umweltschutz



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Inhalt Abstract Zum Geleit Vorwort Dank

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Einleitung Sebastian Moos, Katharina Conradin, Maren Kern 1.1 Gründe für den Schutz von Wildnis 1.2 Wildnis – ein Wort, viele Begriffe 1.3 Wildnis in Deutschland und Österreich 1.4 Wildnis in der Schweiz 1.5 Problemstellung, Ziele und Fragestellung der Studie

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Vorgehen

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Gesellschaftliche Sicht auf Wildnis Aline von Atzigen, Nicole Bauer 3.1 Sozialwissenschaftliche Perspektiven auf Wildnis – Grundlagen aus der Forschung 3.2 Lokale Bevölkerung und Wildnis: Fallbeispiel Maderanertal 3.3 Kantonale Fachpersonen und Wildnis: Befragung 3.4 Folgerungen aus Fallbeispiel und kantonaler Befragung

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Modellierung von Wildnis Sarah Radford, Felix Kienast, Josef Senn 4.1 Fehlendes Wildnis-Inventar Schweiz 4.2 Ziel und verwendete Begriffe 4.3 Methodik zur Quantifizierung von Wildnis 4.4 Ergebnisse der Modellierung von Wildnis 4.5 Diskussion 4.6 Schlussfolgerung Diskussion Sebastian Moos, Maren Kern 5.1 Methodenkritik und Hinweise für künftige Studien 5.2 Die gesellschaftliche Perspektive 5.3 Das Potenzial von Wildnis in der Schweiz 5.4 Kartographischer Ansatz 5.5 Fazit

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Kernbotschaften und Forderungen von Mountain Wilderness Schweiz Sebastian Moos, Katharina Conradin, Maren Kern

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Zusammenfassung

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Literaturverzeichnis

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Anhang A Quellen zu Box 8 B Leitfaden für die Interviews mit der lokalen Bevölkerung im Maderanertal C Fragebogen der schriftlichen Befragung kantonaler Fachpersonen D Reklassifizierung der Arealstatistik E LABES-Indikator «Anlagefreie Gebiete» F Neuklassifizierung der Messwerte für das Kriterium «Abgeschiedenheit» G Neuklassifizierung der Messwerte für das Kriterium «Rauheit der Topographie» H Neuklassifizierung des Kriteriums «Menschliche Einflüsse» I Liste der verwendeten Kartendaten J Ergebnisse der Korrelationstests der gewichteten Kriterien

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Porträt der Autorinnen und Autoren

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Vorwort Wildnis braucht Platz – und zwar sowohl in der Natur als auch in unseren Köpfen. Was auf den ersten Blick selbstverständlich klingt, ist auf den zweiten verworren. Denn Wildnis – verstanden als Raum, in dem wir Menschen die Natur Natur sein lassen, nicht eingreifen und unsere menschlichen Bedürfnisse zurückstellen – gibt es nicht mehr viel in den Alpen. Sie wird zurückgedrängt in die höher gelegenen oder gar vergletscherten Hochalpen, die seit jeher vom Menschen nur sehr extensiv oder gar nicht genutzt werden konnten. Aber auch dort droht ihr Gefahr, sei es durch touristischen Erschliessungsdruck oder Interessen der Energiewirtschaft. Nebst dieser ursprünglichen Wildnis gibt es jedoch Täler und Regionen, in denen die Natur zurückkommt und sich neuen Raum nimmt. Der Wald nimmt zu, Alpen verbuschen. Aus einer kulturhistorischen Perspektive mag dies bedauerlich erscheinen. Oft wird jedoch verkannt, dass diese flächenhafte Besiedelung der Alpen auf lange Sicht betrachtet ein kurzes Kapitel in der Geschichte der Alpen darstellt und aus grosser Not heraus entstanden ist. Die Bewirtschaftung von Alpen stellt einen wichtigen Teil der alpinen Kultur dar, doch beileibe nicht den einzigen. Oftmals wird das Argument vorgebracht, diese Vergandung führe zu einem Verlust an Biodiversität. Statt der kleinräumigen und fragmentierten Landwirtschaft mit ihren vielen verschiedenen Lebensräumen entstünden uniforme Wälder. Doch was geschieht in hundert, zweihundert Jahren? Wir wissen es nicht! Anzunehmen ist, dass durch Windwürfe, Murgänge, Überschwemmungen, Borkenkäfer oder Waldbrände erneut ein vielfältiges Mosaik an Lebensräumen entstehen und sich der Artenreichtum ganz ohne Zutun des Menschen wieder steigern würde. Gerade weil sie so selten geworden sind, sind Räume, in welchen die Natur sich frei entwickeln kann und wo natürliche Prozesse ungestört ablaufen, von grosser Bedeutung – ob für die Forschung, für den Erhalt der Artenvielfalt, für unsere menschliche Erholung und nicht zuletzt auch für unser Selbstverständnis. «Wir können nicht wissen, was wir tun, solange wir nicht wissen, was die Natur täte, täten wir nichts», brachte es der amerikanische Poet, Landwirt und Umweltaktivist Wendell Berry einst auf den Punkt. Die vorliegende Studie zeigt das Potenzial von Wildnis in der Schweiz auf – aus landschaftsökologischer und sozialwissenschaftlicher Sicht. Die Alpenschutzorganisation Mountain Wilderness Schweiz will damit einen fundierten Beitrag dazu leisten, dass die Debatte um Wildnis als Naturschutzinstrument neu entfacht wird. Die Studie ist eine wissenschaftliche Auslegeordnung darüber, wo es in der Schweiz noch Wildnis gibt, wo es sie wieder geben könnte, warum es Wildnis braucht und wie wir bei alledem den Menschen nicht vergessen. Diese Studie ist deswegen kein Argumentarium gegen den klassischen Arten- und Landschaftsschutz. Solange jede Sekunde ein Quadratmeter Fläche zubetoniert wird, die Landwirtschaft immer stärker industrialisiert wird und jedes Jahr weitere Arten aus der Schweiz verschwinden, brauchen wir diesen konservierenden, pflegenden Naturschutz


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Das Potenzial von Wildnis in der Schweiz

unbedingt. Doch: Wir brauchen nicht nur diesen. Wir brauchen auch Flächen, auf welchen wir uns bewusst zurückhalten, die wir loslassen und die wir der Natur überlassen. Dieses Argument ist das stärkste der vorliegenden Studie: Sie ist ein Plädoyer für mehr Gelassenheit im Umgang mit der Natur. Sie ist ein Plädoyer, der freien Naturentwicklung erneut einen Platz zu geben – auch im dicht besiedelten Europa. Und dieser Wandel beginnt mit der Auseinandersetzung mit den Argumenten für und wider Wildnis. Dieser Wandel beginnt im Kopf. Eine anregende Lektüre wünscht Katharina Conradin Geschäftsleiterin Mountain Wilderness Schweiz 2011-2018


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Dank Wir bedanken uns bei allen Personen und Institutionen, die uns bei der Realisierung dieser Studie unterstützt haben. Wir danken – dem Team von Mountain Wilderness Schweiz für die Unterstützung bei der Erarbeitung der Studie, insbesondere Annette Bretscher für Textarbeiten sowie ihre Mitarbeit bei der Planung und Strukturierung der Arbeit; – der Eidg. Forschungsanstalt WSL, welche die Durchführung der beiden Praktikumsarbeiten ermöglicht hat; – Magma Branding, insbesondere Jasna Hollenstein, für die graphische Gestaltung zahlreicher Abbildungen; – der Bristol-Stiftung für die finanzielle Unterstützung und die Herausgabe der Studie; wir danken insbesondere Mario F. Broggi für den unermüdlichen Einsatz und die fachliche Betreuung sowie Manuela Di Giulio für die redaktionelle Betreuung; – allen Fachpersonen, die sich für die Befragung auf kantonaler Ebene zur Verfügung gestellt haben sowie den Fachpersonen, welche die vier Wildniskriterien des landschaftsökologischen Teils und deren Eingangsgrössen bewertet haben; – den Einwohnerinnen und Einwohnern des Maderanertals, die für die Befragung der lokalen Bevölkerung zur Verfügung gestanden sind; – den Fotografen und Institutionen, die uns Bilder und Karten zur Verfügung gestellt haben, insbesondere Bruno Augsburger; – allen, die uns fachlich bei der Studie beraten haben, unter anderen Lesly Helbling, Urs Tester, Hans Weiss, Manuel Schweiger, Bernhard Kohler, Heiko Schumacher, Thomas Scheurer, Jodok Guntern, Lukas Denzler und Richard Bisig; – unseren Familien und Freunden, die uns beständig unterstützen. Sebastian Moos, Sarah Radford, Aline von Atzigen, Nicole Bauer, Josef Senn, Felix Kienast, Maren Kern und Katharina Conradin



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Einleitung

Sebastian Moos, Katharina Conradin, Maren Kern In einer stark durch den Menschen geprägten Welt kommt Räumen, die noch weitgehend naturbelassen und unerschlossen sind, grosse Bedeutung zu. Hier findet optimalerweise weder menschliche Nutzung wie Landwirtschaft statt, noch beeinflusst menschliche Infrastruktur wie Strassen oder Gebäude die Umwelt. Diese sogenannte Wildnis ist von unschätzbarem Wert (Kap. 1.1). Mountain Wilderness Schweiz (2018b) definiert «Wildnis» folgendermassen: Unter Wildnis versteht Mountain Wilderness Schweiz Räume ohne nennenswerte Infrastruktur und menschliche Einwirkung, in denen die Natur sich frei entwickeln darf. Der Mensch ist in der Wildnis als rücksichtsvoller Gast willkommen. Wildnis hat insbesondere in dicht besiedelten und stark genutzten Gebieten wie Mitteleuropa eine grosse Bedeutung, weil es hier fast keine mehr gibt (z. B. EEA 2010). Gerade die Schweiz trägt mit den Alpen und ihren noch weitläufigen, unberührten Gebieten Verantwortung. Denn der Druck auf Wildnisflächen ist gross: In den letzten 20 Jahren sind weltweit 3,3 Millionen Quadratkilometer Wildnisräume verschwunden, was einem Rückgang von einem Zehntel entspricht. Besonders gross sind die Verluste im Amazonas und in Zentralafrika (WATSON J. et al. 2016).

1.1

Gründe für den Schutz von Wildnis

Wildnis erfüllt bedeutende Funktionen in den Bereichen Ökologie, Wirtschaft, Soziales und Kultur. Oder wie es der Wissenschaftsjournalist Lukas Denzler mit Blick auf die deutschen Nationalpärke formuliert: «Der grösste Wert aber liegt in der Symbolik – ein Stück Natur einfach Natur sein lassen. In einer intensiv genutzten und dicht besiedelten Landschaft ist das nicht wenig. Doch dies sollte mit dem Bewusstsein gepaart sein, dass unser Rohstoff- und Energiekonsum eigentlich viel zu hoch ist und drastisch zu reduzieren ist, um zukunftsfähig zu sein» (DENZLER 2017). Wildnis verkörpert eine Vielzahl an Werten. Die folgenden elf Gründe für Wildnis lehnen sich an die Argumente für Wildnis der Zoologischen Gesellschaft Frankfurt (ZGF 2018) und des WWF Österreich (2016) an. Die Argumente betreffen sowohl die Biodiversität als auch uns Menschen. Die Reihenfolge der Aufzählung entspricht keiner Gewichtung. Biodiversität 1) Rückzugsorte Es gibt Arten, die in der Kulturlandschaft keinen oder nur sehr wenig Platz finden. So sind beispielsweise viele Käfer, Flechten und Pilze auf Tot- und Altholz angewiesen (Box 1, Abb. 1; Box 4, Abb. 4). Das heisst, sie brauchen Bäume, die ihren ganzen Lebenszyklus durchlaufen können, vom Keimling bis zum absterbenden Giganten. In bewirtschafteten Wäldern gibt es meist nur wenige alte, zum Teil auch schon absterbende Bäume. Wildnis


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lässt alle Lebenszyklen zu und bietet damit Arten Lebensraum, die darauf angewiesen sind. Zudem sorgt sie durch ihre oft grosse Ausdehnung für ausreichende Vernetzung zwischen verschiedenen Lebensräumen und Lebensgemeinschaften. 2) Freie Naturdynamik Naturereignisse wie Waldbrände, Windwürfe, Borkenkäfer-Massenvermehrungen, Lawinen, Murgänge oder Überschwemmungen prägen und gestalten die Landschaft. In der Kulturlandschaft gibt es keinen Platz für solche Ereignisse: Sie zerstören Ernten oder ge-

Box 1: Die Zitronengelbe Tramete – ein «Wildnis-Indikator» Die Zitronengelbe Tramete (Antrodiella citrinella; Abb. 1) ist ein seltener, holzabbauender Pilz und bildet im Totholz Weissfäule (RYVARDEN und MELO 2014, zitiert nach WIENERS et al. 2016). Der Pilz kommt nur in Kombination mit dem häufigeren Rotrandigen Baumporling (Fomitopsis pinicola) vor, der vor allem auf abgestorbenen Fichten wächst. Die Zitronengelbe Tramete braucht reichlich Totholz – ist ein Stück Holz zersetzt, so stirbt sie ebenfalls ab, es sei denn, die Sporen erreichen ein in der Nähe liegendes Stück Holz. Daher kommt diese Pilzart ausschliesslich in unbewirtschafteten Wäldern vor. In der Schweiz wurde die Zitronengelbe Tramete bisher nur an sechs Orten festgestellt (Stiftung Wildnispark Zürich 2017). Das Vorkommen der Zitronengelben Tramete zeigt, dass in einem Gebiet der gesamte Lebenszyklus von Bäumen vollständig ablaufen kann.

Abb. 1. Die Zitronengelbe Tramete besiedelt tote Fichten. In der Schweiz wurde diese Pilzart bisher nur an sechs Orten nachgewiesen (Foto: Stefan Blaser).


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fährden Mensch und Tier. Tritt doch einmal ein solches Ereignis auf, so werden die Folgen möglichst rasch beseitigt. Es gibt jedoch Arten und Lebensgemeinschaften, die auf Naturereignisse und die von ihnen gestalteten Lebensräume angewiesen sind. Grosse von Pufferzonen umgebene Wildnisgebiete bieten Raum für Naturdynamik und die daran angepassten Arten und Lebensgemeinschaften (Box 9). Der Weissrückenspecht (Abb. 2) profitiert beispielsweise von Totholz (Box 2).

Box 2: Der Weissrückenspecht findet Nahrung und Unterschlupf in alten Laubholzwäldern Weissrückenspechte (Dendrocopos leucotos; Abb. 2) beginnen die Schweiz von Osten her zu besiedeln. Seit wenigen Jahren werden im Osten der Schweizer Alpen regelmässig einzelne Brutpaare beobachtet. Sie reagieren sehr sensibel auf Eingriffe des Menschen: In «aufgeräumten», bewirtschafteten Wäldern fehlen die borkigen, alten Bäume und das verrottende Holz. In abgestorbenen Baumteilen oder Dürrständern bauen die Höhlenbrüter ihre Schlaf- und Nisthöhlen. Im Totholz finden sie Insektenlarven und damit einen wichtigen Teil ihrer Nahrung. Da die Bäume in Schweizer Nutzwäldern nie richtig alt werden und umgefallene, morsche Bäume weggeräumt werden, wird dem Weissrückenspecht eine Ansiedelung erschwert. In Wildnisgebieten jedoch, in denen der Zyklus eines Baumes vom Keimling übers Absterben bis hin zum Verrotten des Holzes reicht, können sich die Vögel ungestört ansiedeln (Schweizerische Vogelwarte 2018).

Abb. 2. Der Weissrückenspecht und ein in der Baumhöhle verstecktes Jungtier: Der Weissrückenspecht findet im Totholz einen wichtigen Teil seiner Nahrung (Foto: Lorenz Sieghartsleitner).


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3) Konfliktfreie Zonen Viele Tierarten können zwar in der Kulturlandschaft leben, geraten jedoch oft in Konflikt mit dem Menschen. Betroffen sind vor allem Raubtiere, aber auch grosse Pflanzenfresser. So haben etwa Bär, Luchs (Abb. 3; Box 3), Wolf, Fischotter, Wildkatze, Rothirsch oder Biber Konfliktpotenzial mit Landnutzenden. Sie werden deshalb oft verfolgt und stark unter Kontrolle gehalten – teilweise fehlen sie in der Kulturlandschaft sogar ganz. Auch Wildnisgebiete sind oft nicht ausreichend gross für diese raumbedürftigen Tiere – sie können aber dazu beitragen, einen Teil der Bestände vor Verfolgung und Nachstellung zu schützen und Konflikte abzufedern.

Box 3: Eurasischer Luchs – auf grosse Gebiete angewiesen Der Luchs (Lynx lynx; Abb. 3) gehört zu den grössten Beutegreifern Europas und braucht entsprechend grosse, unberührte Lebensräume. Die Gründe für seinen drastischen Rückgang in Europa sind zahlreich: Seine ursprünglichen Lebensräume – weitläufige, ungenutzte Wälder – sind durch intensive Waldnutzung und Ausbreitung der Landwirtschaft beinahe verschwunden. Ausserdem reduziert die Jagd den Bestand seiner Beutetiere in den restlichen Wäldern. Hinzu kommt, dass Luchse noch immer illegal gejagt werden. Oftmals müssen Luchse in die Kulturlandschaft ausweichen; wenn sie dort Nutztiere reissen, kommt es zu Konflikten. Im gesamten Alpenbogen leben nur noch rund 190 Tiere (WWF Schweiz 2018). Die Population gilt gemäss Rote Liste der IUCN als «stark gefährdet» (VON A RX 2007). Genügend grosse Wildnis- und Vernetzungsgebiete schützen den Luchs und dämpfen Konflikte in der Kulturlandschaft.

Abb. 3. Einen Luchs in der Schweiz in freier Wildbahn zu fotografieren, ist hohe Kunst – dem Fotografen Laurent Geslin sind dank jahrelanger, akribischer Arbeit einmalige Aufnahmen gelungen (Foto: Laurent Geslin).


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4) Ungestörte Evolutionsräume Viele Arten stehen ständig unter menschlichem Selektionsdruck. Das heisst, sie würden sich anders entwickeln, lebten sie nicht in einer Landschaft, die vom Menschen beherrscht und geformt wird. Wildnisgebiete sind Räume, in denen dank ungestörter Lebensräume spontan Neues entstehen kann. Dies ist auch zu unserem Vorteil: Es können Lebensformen entstehen, die sich für uns einmal als nützlich erweisen könnten. 5) Gerechtigkeit mit Lebewesen Der Mensch ist aktuell die dominante Art. Wir beanspruchen einen grossen Teil der natürlichen Ressourcen für uns. In der Schweiz sind bisher rund 45 000 Arten von Tieren, Pflanzen, Pilzen und Flechten bekannt, mit denen wir das Land teilen (FISCHER et al. 2015). Sie müssen mit dem Raum auskommen, den wir ihnen überlassen. Wildnisgebiete, in denen auch die nicht-menschliche Natur genügend Raum bekommt, sind ein Zeichen und ein wichtiger Schritt zu mehr Gerechtigkeit zwischen den Arten und entsprechen unserer ethischen Verantwortung.

Box 4: Der Alpenbock – eine seltene Schönheit Der Alpenbock (Rosalia alpina) ist ein wärmeliebender Käfer, der im Buchenwald lebt – ein in Europa häufiger Lebensraum mittlerer Höhenlagen. Der Rückgang der Buchen-Altholzbestände hat den Alpenbock jedoch vielerorts aussterben lassen. Der Alpenbock ist durch die Berner Konvention des Europarats geschützt und gilt gemäss Rote Liste der IUCN global gesehen als «gefährdet» (World Conservation Monitoring Centre 1996). Viele Buchenwälder mussten den wirtschaftlich lukrativeren Fichtenforsten weichen. Ausserdem entzieht das Wegräumen des Totholzes dem Alpenbock seine Lebensgrundlage. Alpenböcke brauchen für eine erfolgreiche Vermehrung totes Buchenholz, das über mehrere Jahre an besonnten Stellen überdauert (DUELLI und WERMELINGER 2010).

Abb. 4. Der Alpenbock ist vor allem seiner Schönheit wegen bekannt. Er lebt in Buchenwäldern, wo er auf Totholz angewiesen ist (Foto: Beat Wermelinger).


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Das Potenzial von Wildnis in der Schweiz

Mensch 6) Naturerfahrung und Erholung Mit zunehmender Verstädterung und technisiertem Lebensstil nimmt die Sehnsucht nach dem einfachen Leben, nach Achtsamkeit und unverbauter, unverbrauchter Natur zu. Eine wachsende Gruppe von Menschen möchte ihre Freizeit in möglichst naturbelassener Umgebung verbringen. Wildnisgebiete ermöglichen uns, eine Auszeit vom Zeitdruck der Leistungsgesellschaft zu nehmen, und einmalige Naturerfahrungen zu machen. Sie bieten dem Menschen Glück, Ruhe und Erholung. Wildnis lässt uns Einsamkeit und Stille, Rhythmen und Dimensionen weitläufiger Landschaften erfahren. In einer stark geordneten und zivilisierten Welt vermittelt Wildnis Faszination und Dynamik frei ablaufender Prozesse. Wildnis wartet gleichzeitig mit Unerwartetem und Ungewöhnlichem auf, das uns auch erschrecken und herausfordern kann. Sie bietet damit einen starken Kontrast zu urbanen, vom Menschen geprägten und kontrollierten Landschaften. 7) Regionalentwicklung und Tourismus Mit der zunehmenden Nachfrage nach nachhaltigem Tourismus steigt auch die Nachfrage nach wilden, unverbauten Landschaften. Die Andersartigkeit von Wildnisgebieten im Vergleich zu den gewohnten Kulturlandschaften hat eine grosse Anziehungskraft auf Touristinnen und Touristen. Für Gemeinden rund um Wildnisgebiete stellt dies ein nachhaltiges Potenzial dar: Einerseits generieren Wildnisgebiete Wertschöpfung für die regionale Wirtschaft (z. B. K NAUS 2012; BACKHAUS et al. 2013), andererseits bringen sie mit den Gästen neue Ideen in die Region. Mit zunehmendem Wachstum der Tourismusbranche besteht jedoch die Gefahr, dass die negativen Seiten des Tourismus, zum Beispiel Umweltzerstörung und Übernutzung, überhandnehmen. 8) Bildung und Forschung Die Forschung braucht Referenzsysteme, um zu verstehen, wie zum Beispiel der Klimawandel sich auswirkt oder wie sich Arten unter verschiedenen Umweltbedingungen entwickeln. Wildnisgebiete stellen solche Referenzsysteme dar: Nur wenn wir wissen, wie sich Ökosysteme ohne menschlichen Einfluss entwickeln, können wir auch Rückschlüsse auf die Entwicklung unter menschlichem Einfluss ziehen. Wildnisgebiete geben uns zum Beispiel Einblicke in die Entwicklung von Wildtierpopulationen oder von gebietsfremden Arten. Insbesondere lernen wir von Wildnisgebieten viel über den Klimawandel – und wie wir uns daran anpassen können. Wildnisgebiete haben auch ein grosses Potenzial für die Bildung: Gerade für junge Menschen können sie wichtige Erfahrungsräume sein. 9) Ökosystemleistungen Wildnisgebiete erbringen eine Vielzahl an Ökosystemleistungen. Insbesondere in Waldund Moorgebieten absorbiert und speichert die Biomasse CO2 und trägt dazu bei, den Klimawandel immerhin leicht abzuschwächen. Die in der Wildnis typischen natürlichen Ökosysteme reinigen zudem Luft und Wasser, puffern extreme Wettersituationen und Hochwasserereignisse, bergen genetische Vielfalt und künftiges Potenzial von heute


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noch nicht bekannten Tieren, Pflanzen und Pilzen. Einige dieser Ökosystemleistungen sind bisher nicht vollständig bekannt. Das allein sollte schon Grund genug sein, möglichst naturnahe Flächen zu erhalten oder diese sich wieder entwickeln zu lassen. 10) Philosophische Herausforderung Oft vergessen, aber nicht weniger wichtig ist die philosophische Auseinandersetzung, zu der uns Wildnis anregt. Wir neigen dazu, uns im Mittelpunkt der Welt zu sehen. Wir nehmen für uns das Recht in Anspruch, die Natur zu gestalten, zu nutzen und zu lenken. Wenn wir uns bewusst zurückhalten, darauf verzichten, alles zu nutzen, was wir nutzen könnten und uns in Demut gegenüber der Natur üben, ist dies eine beträchtliche philosophische Herausforderung. Wildnis bedeutet, dass wir unvorhersehbare Entwicklungen zulassen, unsere Sicht auf die Natur infrage stellen und uns einer gewissen Unsicherheit aussetzen. Das Zulassen von Wildnis ruft uns zudem in Erinnerung, dass es nicht nachhaltig ist, die Ressourcen vollständig auszuschöpfen, weil wir so keinen Raum für Unerwartetes und keine ungenutzten Reserven vorsehen. Wildnis ist also Ansporn zu umfassender Nachhaltigkeit. 11) Verantwortung Wir fordern von den weniger entwickelten Ländern des Globalen Südens den Schutz von Wildnisgebieten ein, zum Beispiel der tropischen Regenwälder oder der Savannen. Um glaubwürdig zu sein, muss auch die reiche, hochtechnisierte Schweiz ihren Beitrag leisten, indem sie einen Teil ihrer Flächen unter strengen Schutz stellt und hier auf Nutzung verzichtet. Auch wir tragen Verantwortung, beispielsweise für die einzigartige Kulisse der Hochalpen. Wie wollen wir von ärmeren Ländern den bewussten Verzicht auf Nutzung einfordern, wenn wir dies selbst nicht tun? Wildnisgebiete bieten nicht nur eine Chance für die Gerechtigkeit zwischen Ländern und Regionen, sondern auch für die Gerechtigkeit zwischen den Generationen. Nur wenn wir ausreichend Wildnisräume schützen, können auch kommende Generationen deren Schönheit und Dynamik erleben und von den Ökosystemleistungen profitieren. Wildnis zeigt sehr exemplarisch Nachhaltigkeit auf: Geht sie verloren, ist sie auch für kommende Generationen verloren – oder es braucht Jahrzehnte bis Jahrhunderte, bis sich eine sekundäre Wildnis entwickeln kann.

1.2

Wildnis – ein Wort, viele Begriffe

Wildnis birgt eine Fülle an Begriffen und Definitionen (Box 5). Diese Fülle macht einen Teil der Faszination des Themas aus: Jede und jeder entwickelt seine eigenen Bilder von Wildnis. Es handelt sich nicht um einen exakten naturwissenschaftlichen Begriff. «Für die einen beginnt Wildnis im eigenen Garten, auf alten Bahngeleisen und in der Industriebrache, andere – eher puristisch gesehen – verstehen unter Wildnis eine nie vom Menschen tangierte Naturlandschaft, beispielsweise in der Wüste» (BROGGI 2016). So lässt sich das Wort «wild» auch sprachgeschichtlich nicht zweifelsfrei einordnen. Es lässt sich sowohl


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Das Potenzial von Wildnis in der Schweiz

als deutsches wie auch als englisches Wort lesen. Besonders populär ist die Erklärung, dass die Wörter «wild» und «Wald» verwandt sind (DOPPLER 2004). Um Wildnis quantifizieren zu können und um eine gemeinsame Diskussionsgrundlage zu haben, werden in der vorliegenden Studie die Begriffe «Wildnis», «Wildnisqualität», «Wilde Räume», «Wildnisentwicklungsflächen» und «Wildnisgebiet» abgegrenzt. Wildnis ist in erster Linie ein Konzept. Zur genaueren Ausgestaltung stützt sich die vorliegende Studie auf die Definition von Wildnis nach der Wild Europe Initiative (Wild Europe 2013): Wildnis ist ein geographischer Raum ausreichender Grösse, in dem natürliche Prozesse überwiegen. Wildnis ist vom Menschen nicht oder kaum verändert und es gibt weder Siedlungen, Infrastruktur noch durch Menschen verursachte visuelle Störungen. Wildnis ist aber nicht zwingend mit dem Ziel der freien Naturentwicklung als Wildnisgebiet geschützt. Die Wild Europe Initiative (Wild Europe 2013) baut ihre Wildnisdefinition wiederum auf derjenigen der IUCN für Ib-Schutzgebiete auf und unterscheidet ausserdem zwischen Wilderness (Wildnis) und Wild Areas (Wilde Räume) (Abb. 5).

Wildnis

Wilde Räume

Wildnisgebiet

Steigende Natürlichkeit Abb. 5. Die Wildnis-Definitionen nach Wild Europe (2013): Parallel zur Natürlichkeit steigt die Wildnisqualität (eigene Darstellung).


Einleitung

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Wildnis ist primär von natürlichen Prozessen geprägt und beherbergt autochthone Lebensräume und Arten. In Wildnis ist somit die Wildnisqualität besonders hoch: Wildnisqualität ist ein Index aus messbaren Wildnis-Kriterien (Kap. 4). Sie sagt aus, wie hoch der Wert für Wildnis pro definiertem Pixel ist, auf einer kontinuierlichen Skala mit Minimal- und Maximalwerten. Einbezogene Kriterien zur Berechnung von Wildnisqualität sind «Natürlichkeit», «Menschliche Einflüsse», «Abgeschiedenheit» und «Rauheit der Topographie». Der englische Begriff «Wild Areas», auf Deutsch «Wilde Räume», ist in der Literatur weit verbreitet. Er wird in dieser Studie mit Wildnispotenzial-Räumen gleichgesetzt: Wildnispotenzial-Räume haben sich eine hohe Wildnisqualität bewahrt, weil sie naturnah, abgelegen, kaum erschlossen oder genutzt sind und meist in steilem Terrain liegen. Wildnispotenzial-Räume sind aber nicht zwingend mit dem Ziel der freien Naturentwicklung als Wildnisgebiete geschützt. In Wilden Räumen laufen Prozesse wie in Wildnis grösstenteils frei und dynamisch ab. Wilde Räume können aber kleiner und fragmentierter sein. Zudem waren oder sind sie ursprünglich meist von menschlichen Aktivitäten wie Landwirtschaft oder Jagd geprägt. Die Wildnisqualität in Wilden Räumen ist hoch; sie reicht aber nicht an diejenige von Wildnis heran. Es gibt in der Schweiz zahlreiche Flächen, auf denen die intensive menschliche Nutzung aus verschiedenen Gründen rückläufig ist. Das können etwa Gebiete sein, die bereits heute extensiv genutzt werden (z. B. landwirtschaftlich) und sich durch eine weitere Extensivierung (z. B. Nutzungsaufgabe) in Richtung Wildnis hin entwickeln können. Wir nennen sie in der vorliegenden Studie Wildnisentwicklungsflächen: Wildnisentwicklungsflächen zeichnen sich durch einen hohen Grad an Extensivierung aus. Oftmals jedoch liegen Wildnisentwicklungsflächen im Kulturland und sind stark vom Menschen geprägt, daher weisen sie oft noch keine hohe Wildnisqualität auf. Sie besitzen aber das Potenzial, sich langfristig Richtung Wildnis zu entwickeln. Die beschriebenen Definitionen von Wildnisqualität, Wilden Räumen und Wildnis sagen zwar etwas über die Beschaffenheit eines Gebietes aus, aber noch nichts über deren Schutzstatus. Erst ein geschütztes Gebiet mit hoher Wildnisqualität ist nach unserer Definition ein Wildnisgebiet: Wildnisgebiete sind ausreichend gross und weisen hohe Wildnisqualität auf (mind. Wilder Raum). Wildnisgebiete sind dauerhaft als Schutzgebiete mit dem Schutzziel freier Naturentwicklung (=Prozessschutz) ausgewiesen. Im Unterschied zu Wildnispotenzial-Räumen gibt es in ausgewiesenen Wildnisgebieten keine Landnutzung mehr.


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Das Potenzial von Wildnis in der Schweiz

Box 5: Verschiedene Definitionen von Wildnis Organisation

Wildnis-Begriff Wildnis-Definition

Mindestgrösse

Bemerkung

International Alle internationalen Definitionen haben folgende Merkmale gemeinsam: – ursprüngliche oder nur leicht veränderte Gebiete – enthalten ursprüngliche Lebensräume und Arten – keine störende menschliche Aktivität oder wirtschaftliche Nutzung – keine permanenten Siedlungen IUCN (IUCN 2018)

«Wilderness Areas» (Kategorie Ib) Der natürliche Charakter des Gebiets ist erhalten. Schutz und Management dienen dazu, den natürlichen Zustand zu erhalten.

Die Fläche soll gross genug sein, damit ökologische Prozesse ablaufen können und Einflüsse des Klimawandels gepuffert werden können.

Diese globale Wildnis-Definition fokussiert stark auf ursprüngliche (primäre) Wildnis, während nationale Begriffsbestimmungen leicht an die lokalen Gegebenheiten angepasst werden.

Wild Europe Initiative (Wild Europe 2013)

«Wildnerness» Zusätzlich: keine optischen Störungen durch menschlichen Einfluss.

Mind. 30 km2; Primärwildnis in der Kernzone.

Basiert auf der IUCN-Definition.

European Wilderness Society (European Wilderness Society 2016)

«Wilderness» Zusätzlich: keine optischen Störungen.

Je nach Kategorie: 10 km2; 20 km2; 30 km2; 100 km2

Conservation International (MITTERMEIER et al. 2003)

«Wilderness» Gebiete, die mind. 70 % ihrer ursprünglichen Vegetation enthalten, mind. 10 000 km2 gross sind und von weniger als 5 Personen pro km2 bewohnt sind.

10 000 km2

Diese Definition wurde gewählt, um die auf der Erde noch vorhandenen Wildnisgebiete auszuscheiden. Conservation International ermittelte damit weltweit 37 solcher Gebiete.

Bundesamt für Umwelt (BAFU, Schweiz) (BAFU 2009)

«Wildnisgebiete» Als naturbelassene Gebiete («Wildnisgebiete») gelten ungenutzte Flächen, die mind. 500 m Abstand zu Siedlungen, Strassen (inkl. Alp- und Waldstrassen) und anderen Infrastrukturen haben.

Keine Angabe

Diese Definition wurde gewählt, um die in der Schweiz vorhandenen naturbelassenen Gebiete zu kartieren.

Bundesamt für Naturschutz (BFN, Deutschland) (FINCK et al. 2013)

«Wildnisgebiete» Ausreichend grosse, (weitgehend) unzerschnittene, nutzungsfreie Gebiete, die dazu dienen, einen vom Menschen unbeeinflussten Ablauf natürlicher Prozesse dauerhaft zu gewährleisten.

10 km2; in flussbegleitenden Auenwäldern, Mooren und an Küsten mind. 5 km2.

Mit dieser Definition wird auf die Tatsache eingegangen, dass es in Deutschland heute fast keine Bereiche mehr gibt, die der ursprünglichen (primären) Wildnis entsprechen.

National


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Porträt der Autorinnen und Autoren Sebastian Moos (Jg. 1987) ist im Raum Luzern aufgewachsen. Er hat an der Universität Basel Geowissenschaften mit der Vertiefung Biogeographie und angewandte Ökologie studiert und mit dem Master abgeschlossen. Bei Mountain Wilderness Schweiz in Bern ist er als Projektleiter dafür verantwortlich, dass es in der Schweiz künftig mehr Wildnis gibt. Wildnis ist für ihn eine der grundlegendsten Auseinandersetzungen mit dem Menschsein überhaupt. Mountain Wilderness Schweiz, Sandrainstrasse 3, CH-3007 Bern E-Mail: sebastian.moos@mountainwilderness.ch

Sarah Radford (Jg. 1990) ist in Cambridgeshire (England) aufgewachsen. Sie hat in Leeds Biologie studiert und danach in Freiburg i. Br. ihren Master in Forstwissenschaften abgeschlossen. Während ihres Praktikums an der Eidg. Forschungsanstalt WSL hat sie die GIS gestützte Analyse von Wildnis in der Schweiz durchgeführt. Sie liebt nichts mehr als draussen zu sein, «come rain or shine», sie geniesst und schätzt die Natur sehr. Für sie hat Wildnis etwas Besonderes, das man nicht mit Worten fassen kann. Eidg. Forschungsanstalt WSL, Zürcherstrasse 111, CH-8903 Birmensdorf E-Mail: sarah.radford@wsl.ch

Aline von Atzigen (Jg. 1988) ist im Kanton Aargau aufgewachsen. Sie hat in Zürich und Buenos Aires Sozial- und Kulturanthropologie und Soziologie studiert und in Lund den Master in Humanökologie abgeschlossen. Während ihres Praktikums an der Eidg. Forschungsanstalt WSL hat sie die gesellschaftliche Sicht auf Wildnis untersucht. Aktuell ist sie Ethnologie-Doktorandin an der Universität Zürich. Wildnis als Kulturleistung ermöglicht aus ihrer Sicht eine wissenschaftliche und gesellschaftliche Debatte darüber, was Naturschutz sein kann, soll oder muss und für wen. Eidg. Forschungsanstalt WSL, Zürcherstrasse 111, CH-8903 Birmensdorf E-Mail: aline.vonatzigen@uzh.ch


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Das Potenzial von Wildnis in der Schweiz

Nicole Bauer (Jg. 1970) ist in Luxemburg aufgewachsen. Sie hat an der TU Berlin Psychologie studiert und dort mit einem umweltpsychologischen Thema promoviert. Für ein Projekt zum Thema Einstellungen der Bevölkerung zu Wildnis und Verwilderung kam sie im Jahr 2000 an die Eidg. Forschungsanstalt WSL. Das Thema Wildnis begleitet sie seitdem in Forschungs- und Buchprojekten. Seit 2012 ist sie Mitherausgeberin und seit 2016 Geschäftsführerin der Zeitschrift Umweltpsychologie. Eidg. Forschungsanstalt WSL, Zürcherstrasse 111, CH-8903 Birmensdorf E-Mail: nicole.bauer@wsl.ch

Josef Senn (Jg. 1957) ist im Glarnerland aufgewachsen. Er hat in Basel und in Turku (Finnland) Biologie studiert. Bei seiner Arbeit an der Eidg. Forschungsanstalt WSL beschäftigt er sich mit der Ökologie von Pflanzenfressern und mit Artenschutz. Wildnis ist nicht nur bei seiner Arbeit ein Thema, sondern auch in der Freizeit, wenn er mit Feldstecher und Kamera Tiere in ihrem natürlichen Lebensraum beobachtet. Eidg. Forschungsanstalt WSL, Zürcherstrasse 111, CH-8903 Birmensdorf E-Mail: josef.senn@wsl.ch

Felix Kienast (Jg. 1958) ist in Zürich aufgewachsen. Nach Studium und Dissertation in Geographie an der Universität Zürich vertiefte er sich in den USA zwei Jahre in die Ökosystemmodellierung. Als Landschaftsökologe beschäftigt er sich an der Eidg. Forschungsanstalt WSL mit der Erfassung von Landschaftsentwicklungen und der Wahrnehmung von Landschaft. Er ist wissenschaftlicher Leiter der Landschaftsbeobachtung Schweiz (LABES) und Titularprofessor an der ETHZ. Wildnis ist für ihn ein faszinierendes Landschaftskonzept. Eidg. Forschungsanstalt WSL, Zürcherstrasse 111, CH-8903 Birmensdorf E-Mail: felix.kienast@wsl.ch


Porträt der Autorinnen und Autoren

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Maren Kern (Jg. 1983) kommt aus Frauenfeld. Sie hat einen Bachelor in Umweltnaturwissenschaften sowie einen Master in Forest Ecology and Management und arbeitet seit März 2018 als Geschäftsleiterin bei Mountain Wilderness Schweiz. In Sachen Wildnis sieht sie in der Schweiz noch viel Entwicklungspotenzial. Mountain Wilderness Schweiz, Sandrainstrasse 3, CH-3007 Bern E-Mail: maren.kern@mountainwilderness.ch

Katharina Conradin (1981) ist promovierte Geographin und war von 2011 bis 2018 Geschäftsleiterin von Mountain Wilderness Schweiz. Aktuell arbeitet sie für das Beratungsbüro seecon im Bereich der nachhaltigen Entwicklung. Wildnis und freie Naturentwicklung sind für sie speziell als Ergänzung zum traditionellen Naturschutz von grosser Bedeutung. Mountain Wilderness Schweiz, Landoltstrasse 83, CH-3007 Bern E-Mail: k.conradin@gmail.com



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