DER BÜHNENRAUM ZU GAS I und II BTR 03 2014

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Die Katastrophe in Permanenz Der Bühnenraum für das Stück „Gas I und II“

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ach einer Premiere archiviere ich das Projekt und gehe meine ersten Aufzeichnungen durch, um festzustellen, wo die Kernidee angelegt war. Mal ist es ganz konkret, mal nur als Ideenskizze festgehalten. Bei dem Raum zu „Gas I und II“ war es Folgendes: „Ein berstendes Objekt. Etwas Unüberschaubares. Etwas, dass sich eben nicht verändert. Das im Moment der größten Katastrophe angehalten scheint, im Moment des Berstens. Eine Skulptur? Ein Objekt? Was daran ist real? Ein bis zu den Zuschauern reichendes Objekt. Über den Zuschauern. Überdruck. Eine Kuppel öffnen. Waghalsig. Oben/Unten.“ Das erste Bühnenbildmodell ging von dem Bild eines aufgesprengten Daches aus, im weiteren Verlauf wurde daraus ein Fragment, der Journa-

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list Sascha Westphal hat den Raum so beschrieben: „Sebastian Hannak hat für die Inszenierung einen zutiefst symbolischen Raum geschaffen. Er vereint alle Spielorte des expressionistischen Diptychons und trägt die Zerstörung von Anfang an in sich.“

Die Dramen von Georg Kaiser Im Theater ist das zu verhandelnde Gefühl nicht immer ein Wohlgefühl. Es sind extreme Gefühlszustände, Menschen in persönlicher oder gesellschaftlicher Schieflage, denen wir als Zuschauer schonungslos beiwohnen. Das gilt auch exemplarisch für den expressionistischen Dramatiker Georg Kaiser: In seinen „Gas“-Dramen beschreibt er einen gesellschaftlichen Zustand, in dem Ereignisse, also Katastrophen, ihre

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von Sebastian Hannak

Jochen Klenk / Sebastian Hannak

Georg Kaiser richtet sich mit seinen Dramen gegen eine Technologiegläubigkeit. So auch in seinem Schauspiel „Gas I und II“, das bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen gezeigt wurde und im Mai Premiere am Badischen Staatstheater Karlsruhe hatte. In Kaisers Drama mündet Fortschritt in Katastrophen, dafür hat unser Autor, der Bühnenbildner der Inszenierung, einen Raum entworfen, der ein Leben am Abgrund zeigt. Wie nähert er sich inhaltlich dem Drama und setzt seine Idee dann praktisch in Bilder um?

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verändernde Kraft verloren haben. „Die Katastrophe ist ein schwarzes Blatt, wir buchen sie, und überschlagen die Seite“ heißt es lapidar bei Kaiser. Kaiser überhöht in seinen Dramen „Gas I und II“ die ungebrochene Technikbegeisterung des aufkommenden 20. Jahrhunderts sowie den scheinbar grenzenlosen Fortschritt in eine mögliche Zukunft. In Arthur Brehmers Buch „Die Welt in 100 Jahren“ von 1910 heißt es über die Zukunft: „Wird man eine Stadt aus der Ferne betrachten, dann wird sie wie ein durchbrochenes Netzwerk von Stahl und Eisen erscheinen.“ Und: „Es gibt ein Problem, welches der Mensch bald zu lösen genötigt sein wird: wir müssen einen Vorrat von Wärme und

stätte der ehemalige große Festsaal, ein Glaskubus mit Parkettboden, der unter der Intendanz von Regisseur Hansgünther Heyme (1990– 2003) in eine zusätzliche Spielstätte mit Tribüne verwandelt wurde. Somit bestand an beiden Spielstätten die seltene Möglichkeit, das Bühnenbild als Raumbühne von der Spielfläche bis in den Zuschauerraum zu (über-)bauen. Ich habe das Raumkonzept von Anfang an, mit leichten Unterschieden, für beide Spielstätten entwickelt. Anhand von zwei kompletten Raummodellen im Maßstab 1 zu 50 entwickelte ich die endgültige Position des Bühnenbilds im jeweiligen Raum mit unterschiedlichen Perspektiven für die Zuschauer, mitsamt Beleuchtung.

Zwei Raummodelle: Die Spielflächen reichen in den Zuschauerraum. Hier das Modell für den asymmetrischen Raum im Badischen Staatstheater Karlsruhe

Seltene Gelegenheit: Das Bühnenbild wurde als Raumbühne konzipiert. Hier für den ehemaligen Festsaal mit Tribüne in Recklinghausen

Kraft haben, der unerschöpflich in der Quantität als auch billig in der Gewinnung ist. Ist diese Aufgabe gelöst, dann ist der menschliche Emporstieg sehr leicht.“ Georg Kaiser setzt mit seinen Dramen eine klare Antwort, dagegen. In „Gas I“ explodiert zum wiederholten Male das Gaswerk, es soll jedoch wieder aufgebaut werden. In „Gas II“ ist das Werk unter fremder Herrschaft, am Ende geschieht die finale Katastrophe: Unter Giftgas begraben, stirbt das Werk und alle darin, und „In der dunstgrauen Ferne sausen Garben von Feuerbällen gegeneinander – deutlich in Selbstvernichtung“, heißt es am Ende des Dramas. Für mich war das ausschlaggebende Moment für den Raumentwurf die Katastrophe. Auch aus heutiger Sicht fasziniert die Idee und die Beschreibung einer Katastrophe, zumal die aufgeworfenen Fragen von brennender Aktualität sind. Wie kann man nun eine Katastrophe darstellen? Ab-bilden? Eine eintretende Katastrophe ist ein Moment und für mich nicht zufriedenstellend darstellbar, man kann nur hinter den Superlativen der Vision Kaisers zurückbleiben. Also wollte ich die Symbolhaftigkeit auf die Spitze treiben: Es ging mir um ein fast comicartiges Bild von Zerstörung, das einfach decodierbar ist. Und so ist die Katastrophe schon eingetreten, obwohl sie auf der Handlungsebene noch nicht passiert ist. Und die Katastrophe bleibt Zustand, auch nachdem sie sich ereignet hat. Es ändert sich nichts. Der Raum befindet sich in einer Art freeze. Um diesen Zustand der Katastrophe den Zuschauern erlebbar zu machen, habe ich das Bühnenbild bis in den Zuschauerraum hinein und darüber gebaut.

Zur Werkstattübergabe in Karlsruhe, wo auch das Bühnenbild gebaut wurde, habe ich folgende Raumbeschreibung verfasst, um neben dem Modell einen Eindruck des Raums zu vermitteln: Der Raum für „Gas I und II“ besteht aus einem großen Steg, der aussieht wie ein Teil eines aufgesprengten Dachs, der ansteigend bis in den Zuschauerraum gebaut ist und hier die linke Tribüne überkragt. Die Schräge des Baus liegt bei 9 %. Die 13 Darsteller spielen darauf und unten auf dem normalen

Konstruktion für den schnellen Auf- und Abbau: Der gesamte Bau wurde beim Einrichten mithilfe von Kettenzügen in die richtige Höhe gebracht

Zwei Raummodelle Die Umsetzung des Raumentwurfs in den tatsächlichen Bau erfolgte in mehreren Schritten. Sowohl das Schauspiel des Badischen Staats­ theaters Karlsruhe als auch die Spielstätte bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen haben keinen Eisernen Vorhang und sind architektonisch besonders: Karlsruhe durch seine Größe, seinen asymmetrischen Zuschauerraum und seine Sichtbetonwände, die jeweils einen Dialog mit dem vorhandenen Raum verlangt. In Recklinghausen ist die Spiel-

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Bühnenniveau. Um oben die Sicherheit zu gewährleisten, gibt es ein Sicherungssystem, sodass die Darsteller eingehängt sind und sich auch nur so dort oben bewegen können. Es soll kein zweites Geländer vorne an der Abbruchkante geben. Um den Bau auf der Tribüne zu verankern, wird ein Spezialteil gebaut, das eine Aufnahme für den Steg bildet. Von dort führt eine Treppe auf den Galerieumgang für die Darsteller. Es gibt rückseitig links ein Treppengerüst, um nach oben und wieder herab zu

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Bühnenbild für ein Spiel am Abgrund

Bauprobe für Recklinghausen: Bei BUs, die aus einem unvollständigen oder einzelnen ganzen Satz bestehen, entfällt das Schlusszeichen

Für ein vereinfachtes Handling, vor allem für das Gastspiel in Recklinghausen, wurden 4 x 2 m lange Teilsegmente aus Vierpunkt-Traversen, beplankt mit 22er-Multiplex, gebaut. Der gesamte Bau ist 18,50 m lang und 13 m breit und an der höchsten Stelle 5 m hoch. Die Bühne des Schauspielhauses des Staatstheaters Karlsruhe hat eine lichte Breite von 22 m, die Spielstätte in Recklinghausen 17 m. Dort wurde der gesamte Bau am Boden montiert und so komplett auf die endgültige Höhe mithilfe von Kettenzügen gezogen. Um die Repertoiretauglichkeit in Karlsruhe zu gewährleisten, wurden im Schauspielhaus Kettenzüge verhängt, die die Einzelteile der Bühne auf die endgültige Höhe bringen, wo sie jeweils miteinander verbolzt werden. An den einzelnen Teilsegmenten ist ein eigens angefertigtes Geländer befestigt, das sowohl tragende Funktion hat als auch zur Sicherung der Darsteller dient. Zur Sicherung der Darsteller wurde vorderseitig eine Laufschiene mit Laufgleitern angebracht. Die Darsteller sind mit einem Beckengurt an 130 cm langen Sicherheitsleinen mit Spezialkarabinern in die Laufgleiter auf einer maximalen Höhe vom Boden bis ca. + 5 m eingeklinkt. Dadurch ist zur Abbruchkante hin ein „freieres“ Spiel möglich, ohne zusätzliche Geländer. Da es zwei Einstiegsmöglichkeiten auf die obere Spielfläche gibt, müssen jeweils vor der Vorstellung die richtige Anzahl Laufgleiter auf die jeweiligen Enden der Lauf-

Bauprobe Karlsruhe: Bei BUs, die aus einem unvollständigen oder einzelnen ganzen Satz bestehen, entfällt das Schlusszeichen

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3D-Modell für Recklinghausen: Die Position von Tribüne und Bühnenbild sowie die Anschlüsse der einzelnen Elemente wurden vorab ermittelt

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Eine Bauprobe, zwei Räume Die Festival-Premiere war am 9. Mai 2013 in Recklinghausen, die Bauprobe für den dortigen Bühnenraum fand dennoch zuerst am Schauspielhaus des Staatstheaters Karlsruhe statt. Hierfür wurden die Dimensionen der Spielstätte in Recklinghausen auf der Schauspielbühne des Staatstheaters markiert, mitsamt einem Segment der dortigen Zuschauertribüne. Somit war es auch schon möglich, die unterschiedlichen Sichtachsen der Zuschauer zu überprüfen. Nach der Bauprobe fertigte die Konstruktionsabteilung des Staatstheaters ein computergeneriertes 3D-Modell des Raums an, das schon die Position im Raum der Ruhrfestspiele samt Zuschauertribüne sowie später im eigenen Schauspielhaus beinhaltete. Hier konnte sehr klar gesehen werden, wie die Anschlüsse der einzelnen Elemente und die genaue Position im Raum sein würde − eine enorme Hilfe angesichts der kurzen Proben- und Aufbauzeit in Recklinghausen. Auch für die notwendige Bauabnahme war dieser Plan eine große Hilfe. Vor der Premiere am Staatstheater Karlsruhe 2014 gab es nochmals eine Bauprobe mit der Originaldekoration.

Sebastian Hannak

auf verkleideten Stahlstützen. Alle drei Stützen haben eine Verblendung, die nach außen gekippt montiert wird. Die Multiplexeinleger (Lauffläche) werden vereinfacht zugeschnitten und bekommen eine Dickung in der Stärke der Plattenoberkante bis zur Unterkante der Vierpunkt-Traverse vorgebaut.

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kommen. Im hinteren Teil der Bühne gibt es zwei übergroße Türen, die als Flügeltüren an zwei L-förmigen Wänden angebracht sind. Auf der Bühne stehen ca. 25 nachgebaute Gasflaschen in unterschiedlichen Größen. Der Bau wird gehängt montiert, hierzu werden neue Kettenzüge verhängt. Der Bau selbst steht dann

Der Aufbau in Karlsruhe: Ein Geländer an der Konstruktion hat tragende Funktion und sicherte die Darsteller bei deren Spiel am Abgrund

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Aufbau Recklinghausen: Bei BUs, die aus einem unvollständigen oder einzelnen ganzen Satz bestehen, entfällt das Schlusszeichen

schienen verteilt werden. Zudem spielen die Darsteller unterschiedliche Rollen in unterschiedlichen Kostümen, sodass auch hinter der Bühne nach dem Umziehen gewährleistet sein muss, dass der Gurt jeweils richtig und sicher sitzt. Hierfür ist ein Techniker zuständig. Es wurde ein akustisches Signal vereinbart, falls einer der Darsteller vergisst, sich einzuklinken. Da die Sicherung von Anfang an so konzipiert war, konnte das Spiel am Seil in den Proben in die Inszenierung eingearbeitet werden − ein Leben am Abgrund. Hilfreich war hierbei, dass in einer Lager- und Ausweichproduktionsstätte des Staatstheaters Karlsruhe in der fertigen Originaldekoration geprobt werden konnte. Auch die Ton- und Beleuchtungsproben einschließlich der kompletten Endproben fanden hier statt. In Recklinghausen selbst gab es nur noch die Generalprobe. Nach drei Vorstellungen dort und einem Jahr dazwischen kam „Gas I und II“ am Staatstheater Karlsruhe am 8. Mai 2014 im Rahmen der Europäischen Kulturtage zur Premiere. Zusätzlich spielte in Karlsruhe im Rahmen der Sparte „Volkstheater“ ein weiteres Projekt, die 24-Stunden-Langzeitperformance „100 Dokumente“ mit 80 Karlsruher Bürgern in der Raumbühne von „Gas I und II“. Hierfür habe ich eine Erweiterung des Raums geschaffen, einen zusätzlichen beweglichen Raum, in dem sich im Verlauf der 24 Stunden die von den Spielern benutzten Dokumente und Objekte ansammelten.

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Projektbeteiligte

Technische Direktoren: Harald Fasslrinner, für die Ruhrfestspiele: Thorsten Engels Verantwortlicher Bühnenmeister Schauspielhaus: Hendrik Brüggemann Konstruktion und 3D-Modell: Michael Kubach Schlosserei: Mario Weimar Schreinerei: Rouven Bitsch Malsaal: Dieter Moser Beleuchtung: Gerd Meier, Christoph Häcker Inszenierung: Hansgünther Heyme Musik: Saskia Bladt Bühne und Kostüme: Sebastian Hannak Dramaturgie: Tobias Schuster, Jan Linders

Der Autor:

S e b a s t i a n H a nn a k

studierte Bühnen- und Kostümbild an der Kunstakademie Stuttgart bei Jürgen Rose und Martin Zehetgruber. Seine Arbeit für Schauspiel, Musik- und Tanztheater führte Sebastian Hannak u. a. an die Staatsoper Stuttgart, zu der Tanzkooperation pvc unter Joachim Schloemer sowie aktuell an das Staatstheater Karlsruhe.

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