DER DEPERSPEKTIVIERTE RAUM DDB 05 2008

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SCHWERPUNKT

SCHWERPUNKT

Der deperspektivierte Raum

Musiktheater ist ein Gesamtkunstwerk, bei dem die Änderung eines Parameters die aller anderen nach sich zieht. So wie die Regisseure Theaterformen jenseits geschlossener Werke suchen, suchen Bühnenbildner Räume jenseits von Realismus und Zentralperspektive. Sebastian Hannak formuliert hier seine Utopie eines „logischen Raumes“ mit einem Rest von Unerklärlichkeit. SEBASTIAN HANNAK

1 I Der virtuelle Raum der Kunst: Sebastian Hannaks Bühnenbild zur Uraufführung von Hans Thomallas „fremd“, die 2006 in der Regie von Hans-Werner Kroesinger am Forum Neues Musiktheater der Staatsoper Stuttgart herauskam.

genen Arbeit anführen. Bei der Arbeit 9 an „fremd“ , einer Uraufführung am Forum Neues Musiktheater der Staatsoper Stuttgart, die auf „Medea“ von Grillparzer basiert, kam ich über die inhaltliche Auseinandersetzung auf ein Neu–Denken von Räumen mittels der Computerterminologie. Von Medea gehen Kräfte aus – warum nicht den Raum verzerren? Der verzerrte Raum von „fremd“ vermittelt ein leicht dekodierbares Bild, das man aus der Zweidimensionalität kennt.

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n seinem kürzlich erschienenen Buch „Hitze“ über seine Erlebnisse als Koch erzählt der Autor Bill Buford am Beginn eines Kapitels von der Genese der Polenta. Er kommt zu dem Schluss, dass erst um 1600 der Mais als Lebensmittel in Italien eingeführt wurde und dieser die Gerste als bisherigen Hauptbestandteil der Polenta ersetzte. Aus einem Gericht wurde plötzlich ein anderes. Es gibt nicht vorherzusehende Umstände (zur selben Zeit, ebenfalls in Italien, entsteht die Oper), unter denen aus etwas Atbekanntem etwas Gleiches und doch völlig Neues, etwas anderes werden kann. Die Digitalität ist der Mais in meiner Polenta, sie hat eine entscheidende Veränderung meines räumlichen Denkens mit sich gebracht. Durch die Präsenz digital veränderter Bilder etwa in der Werbung oder in der Kunst gräbt sich unterbewusst die digitale Sehweise ins allgemeine Sehverständnis ein. Diese digitale Sehweise habe ich bei einem Projekt, auf das ich später zu sprechen komme, auf die architektonische Struktur des Raumes übertragen. Ich verzerre ihn, als würde er implodieren. Schon in der barocken Malerei und Architektur waren Verzerrung und 1 Aufblähung Stilmittel , aber erst die Digitalität hat mir diese Verbindung klargemacht. Ich weiß nicht, ob dem Musiktheater ein Wandel von Gerste zu Mais bevorsteht. Ich werde im Folgenden versuchen, meine derzeitigen

Foto: Sebastian Hannak

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Eindrücke und, anhand des erwähnten Projektes, meine persönliche Erfahrung zu beschreiben.

The window is new and the plumbing is strange / beside of all that nothing has changed.2

beschrieben, als „Inbild des Nichtmehr5 weiterkönnens“ . Die entleerten, glatten Bühnenräume entpuppen sich in ihrer Seelenlosigkeit als riesige Rückkopplungsapparate, die den Menschen in seiner Unperfektheit zeigen können („List? 6 Wie lächerlich! Flucht? Wie sinnlos!“ ), aber auch dieser Zugriff verkommt zur Attitüde, je öfter man ihn sieht.

abends im Hier und Jetzt ermöglicht es, dass sich dieser U-Topos materialisiert, am Zuschauer kondensiert und an ihm als Erkenntnis abperlt. Das vom jeweiligen künstlerischen Team gestaltete Erlebnis Theater kann Ausblick auf eine Welt geben, die über die bisher erlebte und erfahrene hinausgeht und doch von dieser Welt aus lesbar ist.

Es war eine zeitlang in der Oper ziemlich en vogue, sich der scheinbar festgefahrenen Stückrezeption wenn nicht auf der narrativen, so auf der visuellen Ebene zu entziehen und die Handlung schlicht zu verlegen. Man fand Mozart in der Bronx, Gounod im Altenheim und Händel im Hotel. Die gelungeneren Verlegungen sind das Ergebnis der Suche nach einer Zeitgenossenschaft der Stücke vergangener Jahrhunderte, die weniger gelungenen verleihen einen neuen Anstrich, die Erzählweise bleibt jedoch gleich. Eine andere Tendenz der letzten Zeit sind radikal entkernte Räume. „Warum stecken Opernregisseure 3 ihre Helden in Kerker?“ Diese Raumfindungen werden „wie ein letztes Hemd, 4 das die Insassen desselben umkleidet“ ,

Ob Repertoirestück oder Uraufführung, das Bezwingende des Abends kann nur die jeweils eigene Sichtweise sein. Bühnenbild als pars pro toto eröffnet die Möglichkeit, eine Geschichte, einen Text, eine Musik anders wahrzunehmen. Wie die Musik den Zuhörer, ergreift das Bild den Zuschauer direkt. Erst der Verstand ordnet das Gesehene und Gehörte. Ich sehe es somit nicht nur als Freiheit, sondern auch als Aufgabe, als Bühnenbildner diesen direkten Zugriff zu nutzen und den Zuschauer partizipieren zu lassen, indem ich dem Gesamterlebnis Theater den gestalteten Raum als zusätzliche Dimension hinzufüge. Die Zielformulierung des Theaters ist eine Utopie; ein Un-Ort, ein Noch-nicht-Ort, und das gemeinsame Erleben des Theater-

In dem oben zitierten Artikel von Peter Kümmel ist auch die Rede von der Hirnforschung, die vor kurzem eine neue Art von Zellen entdeckt hat, die „Spiegelnervenzellen“. Sie ermöglichen uns die Einfühlung in andere Menschen. „Wo kann man diese Zellen besser sti7 mulieren als im Theater?“

Die Deutsche Bühne 5 I 2008

Erleben, was andere nur sehen können8 Das Erlebnis Theater erfordert teilnehmende Wahrnehmung. Für den Theaterraum bedeutet dies, dass er mehr als formgebendes Element sein kann. Er kann gefühlskonstituierend sein. Ich möchte hier das Beispiel meiner eiDie Deutsche Bühne 5 I 2008

Die Situierung des Raumes im (Theater-)Raum, einer 400 qm großen, leeren black box, ermöglichte es, den Gesamtraum differenzierter zu besetzen als im Guckkastentheater. Der von mir entworfene Gesamtraum für den Abend ging von der Schaffung von Polaritäten aus. Das verzerrte klassizistische Zimmer war in die äußerste hintere Ecke platziert, das Publikum saß auf einer Zuschauerpodesterie wie auf einer Insel. Der umgebende Raum und die Zuschauerpodesterie verhielten sich dazu wie zu einem verschobenen Zentrum. Da es kein Portal gab, sah man beim Betreten des Raumes die beschriebene Situation zuerst von der Seite, beim Einnehmen der Plätze rückte sich die Perspektive zurecht. Der Verzicht auf die Zentralperspektive des Guckkastentheaters schaffte einen theatralen Raum aus allen Perspektiven. Ich habe in dieser und anderen 10 Arbeiten versucht, den Zuschauer zusammen mit den Darstellern und den Musikern durch diesen Gesamtraum in das Geschehen zu integrieren. Dieses Partizipieren machte die Zustände der Figuren anders les- und erlebbar, indem der Raum den Zuschauer mit der geschaffenen Raumsituation konfrontiert, ihn zum Voyer macht. In diesen Raumentwürfen sehe ich einen Ausgangspunkt für weitere Arbeiten. Neue Formen entstehen nur selten so zufällig wie die heutige Polenta. Im Erkennen der Zeitgenossenschaft von alten Formen können neue Formen ent-

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stehen, die man so noch nicht gesehen (oder gehört) hat. Das Finden neuer Formen bedeutet Recherche und Alltagsbeobachtung, „Realitätsstudien“ einerseits und deren Verlinkung zu inhaltlichen Ankerpunkten andererseits. In der Herkunft der Bezeichnung Barock als „unregelmäßige Perle“11 sehe ich mein Raumverständnis gut aufgehoben. Idealerweise haben meine Theaterräume eine geschlossene, logische Form und darüber hinaus etwas Unerklärliches, Rätsel- und Makelhaftes. 1

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z. B. die barocke Kirche „San Carlo alle Quattro Fontane“ von Francesco Borromini oder das Gemälde „Die Botschafter“ von Hans Holbein dem Jüngeren Walt Whitman Claus Spahn in Die Zeit: „Genieße das Dunkel!“ Peter Kümmel in Die Zeit: „Die Entfesselungskünstler“ Stephan Berg über Gregory Crewdson Peter Kümmel in Die Zeit: „Die Entfesselungskünstler“ Peter Kümmel in Die Zeit: „Die Entfesselungskünstler“ Aktuelle Werbung für einen Flachbildschirm „fremd“, UA von Hans Thomalla, Forum Neues Musiktheater der Staatsoper Stuttgart, März 2006 „Last Desire“, Forum Neues Musiktheater der Staatsoper Stuttgart, Dezember 2004, sowie „Der Fall des Hauses Usher“, Neuköllner Oper Berlin, April 2005. Portugiesisch „barocco“: schief, unregelmässig geformt ( von der Perle); aus: Deutsches Fremdwörterbuch.

Sebastian Hannak, Autor dieses Beitrages, ist freischaffender Bühnen- und Kostümbildner. Geboren 1976, studierte er Bühnen- und Kostümbild an der Kunstakademie Stuttgart bei Jürgen Rose und Martin Zehetgruber. Währenddessen Arbeitsaufentalt bei David Hockney in Los Angeles. Zusammenarbeit unter anderem mit den Regisseuren Joachim Schloemer, Michael von zur Mühlen, Simon Solberg. Arbeiten von ihm wurden mehrfach ausgestellt, zuletzt auf der Prager Quadriennale 2007 im deutschen Pavillon. Er war Stipendiat des Forums Neues Musiktheater 2004/06 und der Akademie Musiktheater Heute 2005-07. Das Tanzstück „Louder! Can you hear me“ von Eun-Me Ahn in Hannaks Ausstattung hat arte im Format Tanzfilm produziert. In diesem Jahr gestaltet Sebastian Hannak die Titelbilder der Deutschen Bühne.

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