1992-07-19_Sunday-Times-Magazine_Guess-Who_GERMAN

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19. JULI 1992

DIE FÜHRUNGSFIGUR, DIE LABOUR GEFEHLT HAT


Jeans mit Hype Seite 30

Guess? Guess Jeans kommen aus Downtown L.A. Eng am weiblichen Körper anliegend, bekannt gemacht durch provokante Werbung, kommen die weltweit am meisten diskutierten Jeans nach Europa


Oben: Jeans sorgen für Zwist im FamilienImperium. Oben links: Gründer und CEO von Guess, Georges Marciano, und oben rechts, der jüngste Marciano-Bruder, Paul, dessen leidenschaftliche Werbekampagnen normalerweise nichts mit den Produkten des Unternehmens zu tun haben


Die Marciano-Brüder sind auf einem guten Weg. Ihre Jeans werden in nur einem Geschäft in Großbritannien verkauft, aber die sexy Werbung, in der die Produkte nur selten zu sehen sind, hat Guess zu einem der meistdiskutierten Bekleidungsunternehmen der Welt gemacht. Artikel von Rob Buchanan. Portraits von Blake Little Mittlerweile kennt jeder Zeitschriftenleser auf der Welt das Bild: ein körniges Schwarz-Weiß-Porträt einer Brigitte-Bardot-Doppelgängerin, mit Strähnen von honigblondem Haar, die ihr ins Gesicht wehen, mit erwartungsvoll geöffneten Lippen und ausladenden Brüsten, die nur halb von einem dünnen Bustier aus Spitzenstoff verborgen werden. Mit dieser Aufnahme startete das Supermodel Claudia Schiffer seine Karriere, und Guess wurde dadurch ein für alle Mal zu einer weltweit bekannten

Marke. Es ist eine der erfolgreichsten JeansWerbungen aller Zeiten, auch wenn kein Stück Denim-Stoff darin zu sehen ist. Und das ist laut Georges Marciano genau das Problem. Marciano ist Gründer, CEO und Chefdesigner von Guess, dem kalifornischen Bekleidungsriesen, den er gemeinsam mit seinen drei Brüdern Armand, Maurice und Paul mithilfe einer ausgewogenen Aufgabenverteilung leitet. Die Marcianos sind Söhne eines französischen Rabbiners mit italienischem Nachnamen und in Nordafrika geboren. Sie befinden sich derzeit auf unterschiedlichen Stufen im Einbürgerungsprozess in den USA.


Sie sind eine der exotischsten Erfolgsgeschichten der Modewelt. Es ist zehn Jahre her, seit Georges das Kaufhaus Bloomingdale's davon überzeugt hat, 30 seiner schmal geschnittenen Stonewashed-Jeans zum Kauf mit Rückgaberecht anzubieten. Mittlerweile wird der Jahresumsatz des Unternehmens auf über 550 Mio. USD geschätzt und hätte ohne eine frühe und unüberlegte Geschäftsentscheidung wahrscheinlich schon vor einiger Zeit die 1-Mrd.-Dollar-Marke überschritten. Jetzt steht Guess davor, auf den europäischen und britischen Markt zu drängen, wo die Produkte des Unternehmens mit Ausnahme einer kleinen Testboutique bei Harrods noch nicht erhältlich sind. Guess bietet schon lange andere Produkte als Jeans an. Mittlerweile stellt das Unternehmen Sportbekleidung mit vielen lässigen, kalifornischen Akzenten her: Jeanshemden, karierte Röcke und eine Linie von Bürokleidung im Missy-Stil. Der Plan besteht eindeutig darin, den europäischen Markt mit Kleidung zu erschließen, die mit der phänomenal erfolgreichen Marke Gap und den neuen sogenannten „Bridge Lines“ konkurrieren wird: preisbewussten Designerlabels wie Armanis A/X und DKNY von Donna Karan. Doch während diese Marken mit dem Massenmarkt liebäugeln, streben die Marcianos nach oben. Das Ergebnis ist eine seltsame neue Generation alltagstauglicher Kleidung, in der sich die Designs aller Anbieter gleichen und nur die Werbung einen Unterschied ausmacht. Man kann das als größten Vorteil oder größte Schwäche von Guess betrachten. Guess-Anzeigen haben sich noch nie auf das Produkt konzentriert, und genau dies war revolutionär an ihnen. Für Frauen war es schwer, die in den Anzeigen abgebildeten Kleidungsstücke zu finden. Seit Jahren ist es ein offenes Geheimnis in der Branche, dass Guess in seinen Anzeigen viel Kleidung von anderen Marken verwendet. Zwei Londoner Stylisten, die für das Unternehmen gearbeitet haben, berichten, dass sie die Anweisung hatten, „das Shooting wie ein redaktionelles Fotoshooting zu gestalten“ und dabei alles auszuwählen, was ihnen gefällt. Insider sagen, dass sowohl Stücke von Katharine Hamnett als auch von Pam Hogg in Guess-Kampagnen aufgetaucht sind. Zwei Wochen nachdem Claudia Schiffer in dem berühmten Bustier auftrat, schaltete ein kleines New Yorker Dessous-Haus eine Anzeige in einem lokalen Fachmagazin mit dem Slogan: „Guess Whose Bustier Is Used In The Guess Ads?“ (Raten Sie mal, wessen Bustier in Guess-Anzeigen verwendet wird.) Bei diesen Geschichten verzieht Georges Marciano das Gesicht. „Meiner Meinung nach sollte das, was in der Werbung gezeigt wird, auch in die Geschäfte kommen“, sagt er mit noch immer starkem französischem Akzent. Doch der jüngste Bruder Paul, der für Werbung zuständig und laut Insidern die dominierende Kraft im Unternehmen ist, lässt sich davon nicht beeindrucken. „Letztlich kommt es darauf an, dass die Verkaufszahlen

Gastauftritte: Bei Shana Zadrick (oben, unten und ganz rechts) und der blonden Claudia Schiffer geben Dekolletés den Blick auf Push-up-BHs frei, stecken Beine in Netzstrümpfen und sind Schultern von schlichten Blusen bedeckt. Wo die Jeans sind, kann man in den Anzeigen von Guess nur ahnen.

stimmen“, meint er. „Alles andere ist irrelevant. Gut, man sieht keine Kleidung, aber es wird eine Grundhaltung vermittelt, nämlich die von Guess. Und ich bekomme, was ich will: Ich errege Aufmerksamkeit. Darum geht es doch letztlich.“ Im Grunde geht es bei der Debatte zwischen den Brüdern um das Wesen ihres Unternehmens. Für Georges ist und bleibt Guess ein Hersteller eines einfachen Produkts. „Wenn es nach mir ginge“, so Georges, „würde auch mein Sohn Jeans herstellen, genauso wie sein Sohn nach ihm. Mein Traum ist, dass wir noch 100 Jahre lang Jeans herstellen.“ Nach Pauls Meinung ist die Vermarktung des Namens und der Images von Guess deutlich einträglicher als der Verkauf von

Jeans. Es gibt bereits ein halbes Dutzend Lizenzverträge, für Brillen, Düfte, Kinderbekleidung usw. Wenn man diese Strategie selektiv fortsetzt, könnte Guess eines Tages ein echter Rivalen der multinationalen Merchandising-Imperien von Ralph Lauren und Calvin Klein werden. Im Moment ist das Verhältnis der beiden Brüder also dynamisch und gespannt. „Wären wir Amerikaner“, gibt Paul zu, „würden wir auseinander gehen und nicht mehr miteinander sprechen, bis wir sterben.“ Das ist bisher nicht passiert. „Die Marcianos brauchen den Konflikt“, meint ein Freund der Familie. „Das ist ihre Kultur.“ Georges Marciano sitzt in einem Konferenzraum im zweiten Stock der Guess-Zentrale in Downtown Los Angeles. Er sieht jünger aus als seine 45 Jahre. Er ist glatt ra-


siert, hat Lachfalten in den Augenwinkeln und trägt ein blaues Oxford-Hemd und eine rote Krawatte, graue Flanellhosen und Slipper mit Quasten. Als er nach Amerika kam, war Georges „der typische spindeldürre Franzose“, erinnert sich ein ehemaliger Mitarbeiter, „in hautengen Schlaghosen und einem T-Shirt mit Flügelärmeln“. Er sprach kein Wort Englisch. Aber der Immobilienmarkt in Südkalifornien boomte, und er dachte, er könne die Gewinne aus 20 Jahren in der Bekleidungsindustrie in Marseille in Eigentumswohnungen stecken. Das ging natürlich schief. Marciano entschied sich, mit dem Rest des Geldes das altbekannte Geschäft wiederaufzunehmen, nämlich Jeans. „Meine Brüder glaubten nicht, dass ich es schaffen würde“, erinnert er sich zurück. „Ich sagte mir: ‚Entweder habe ich Erfolg oder ich arbeite wieder als Verkäufer.‘ Ich denke, ich bin ein sehr guter Verkäufer. Ich gebe niemals auf. Wenn man diese Qualität hat, schafft man es auch.“ Es war eine denkbar schlechte Zeit, ins Jeans-Geschäft einzusteigen. Die Hype um Designer-Jeans hatte den Zenit überschritten und Amerika war mit Jeans übersättigt. Aber Marciano hatte einige Ideen. Er entwickelte einen eingängigen Namen („Er war leicht auszusprechen“) und ein Logo („auch aus 30 m Entfernung war das Dreieck leicht zu

Die Kleidung auf dem Foto war gleichgültig Es ging nur um die Atmosphäre. erkennen“), eine in den USA bis dahin unbekannte Stoffbehandlung (Stonewashing) und ein neues Profil. „Wir schufen eine sehr, sehr enge Passform für Damen, was damals niemand tat.“ Was folgte, verwundert Marciano auch heute noch. „Wenn Sie mich fragen, wie Guess mit einer Investition von 120.000 USD vor 10 Jahren heute Geschäfte im Wert von einer halben Milliarde USD macht, dann zucke ich mit den Achseln.“ Es ist, nun ja, ein Märchen.“ Aber für den größten Teil dieser zehn Jahre war es auch ein Albtraum. Das Problem war, dass die Marcianos 1983 angesichts der stark steigenden Nachfrage einen 51-prozentigen Anteil von Guess an die Brüder Joe, Avi und Ralph Nakash verkauften, die aus Israel stammten und die Marke Jordache Jeans besaßen. Die Nakash-Brüder brachten Produktionskapazitäten und fast 5 Mio. USD in bar in den Deal ein. Einige Monate lang genossen die Marcianos ihren neu gewonnenen Reichtum und kauften Häuser in Beverly Hills, die nur wenige Blocks voneinander entfernt waren. „Sie dachten plötzlich, sie seien große Fische“, erinnert sich ein ehemaliger Mitarbeiter. „Sie zogen durch die Stadt, kauften tolle Autos und lebten im großen Stil. Man muss wissen, dass man in Frankreich immer auf sie herabgesehen hatte.“ Doch innerhalb von sechs Monaten gerieten die beiden Gruppen von Brüdern in einen ruinös teuren Rechtsstreit, der sechseinhalb Jahre dauern sollte. Ein Streit, den ein Wirtschaftsreporter als „den hässlichsten, ekelhaftesten, übelsten und abscheulichsten Unternehmensstreit“ bezeichnete, den er je erlebt oder über den er geschrieben hatte. Das Problem war den Nakash-Brüdern zufolge, dass die Marcianos es nachträglich ungemein bereuten, dass sie ihr junges Unternehmen zu billig verkauft hatten. Unter der Führung von Paul behaupteten die Marcianos im Gegenzug, dass die Nakash-Brüder ihre Designs für die eigene Jordache-Linie stehlen würden. Im darauffolgenden Streit kamen allerlei schmutzige Details über beide Familien ans Licht. Den Nakash-Brüdern zufolge blickten die Marcianos in Frankreich auf eine lange Karriere als „Wirtschaftskriminelle“ zurück. Paul musste beispielsweise zugeben, dass er den unerlaubten Druck von 1400 T-Shirts mit Snoopy von den Peanuts, bestellt hatte. Er musste Charles Schulz und United Features eine Geldstrafe von 2600 USD wegen Urheberrechtsverletzung zahlen. Die Marcianos ihrerseits zeigten die Nakash-Brüder bei den Behörden wegen Steuerhinterziehung an. Diese warfen den Marcianos vor, den Ermittler des Internal Revenue Service in Los Angeles unzulässig beeinflusst zu haben. Beide Seiten heuerten Unmengen privater Ermittler an, und der Fall endete vor einem Unterausschuss des


UNTEN JAN JARECKI/WWP. LINKS ALASTAIR LAIDLAW

Kongresses in Washington. Letzten Endes ging es im Streit um die Aufteilung der 100 Mio. USD an Gewinnen, die treuhänderisch hinterlegt waren. Eine rabbinische Vermittlung zwischen dem Vater der Marcianos einerseits und dem designierten Rabbi der Nakash-Brüder andererseits blieb erfolglos. Schließlich einigten sich zwei Anwaltsteams, die zwei Wochen lang Tag und Nacht verhandelten, auf eine Zahl, und schöpften dann ein Viertel des Gewinnpools als Anwaltskosten ab. Guess hat immer noch mit den Folgen des Jordache-Prozesses zu kämpfen, und für Georges leidet das Image des Unternehmens bis heute. Umso wichtiger sei es, argumentiert er, schädliche Kontroversen um Werbekampagnen zu vermeiden und ein für alle Mal die Frage zu klären, ob es um das Produkt oder das Image geht. „Diese Angelegenheit ist seit einem Monat geklärt“, sagt er. „Wir haben ein Shooting mit Claudia, bei dem sie nur unsere Kleidung trug. Ab sofort ist alles, was man in den Abbildungen sieht, auch im Geschäft erhältlich.“ Wird Bruder Paul das akzeptieren? Georges nickt zuversichtlich. „Ich habe mich durchgesetzt“, meint er. „Und meine andere Brüder sind zu 100 % der gleichen Meinung. Es steht also drei gegen einen. Er hat verstanden, das wir Recht haben.“ Unten in seinem Büro spottet Paul Marciano nur, als er nach dem Ultimatum gefragt wird. „Oh, meine Brüder“, sagt er und kann sich ein Lachen kaum verkneifen. „Manchmal sprechen sie eine Woche lang nicht mit mir. Wenn ich mal wieder in Ungnade gefallen bin.“ Paul, der mit 39 der jüngste der vier Brüder ist, gilt als Wunderkind, der Joker. Mit großen Augen, leidenschaftlich und intensiv, mit widerspenstigem Haarschopf, ist er der klassische „kreative“ Typ, voller Witz und schrägen Einfällen. Daher darf er auf den traditionellen Anzug und die Krawatte verzichten. Stattdessen trägt er ein Tennisshirt mit Blumendruck und Jeans von Guess. Er ist der einzige Bruder, der noch in Jeans passt. Als Paul vor 10 Jahren zu seinen Brüdern in Los Angeles stieß, hatte er keine Erfahrung in der Mode- oder Werbebranche. Genauso wenige wie Wayne Maser, sein Fotograf. Maser ist ein ehemaliger Zahnarzt aus New Jersey, dessen fotografische Erfahrung sich einst auf Albumcover für MCA beschränkte. Damals waren die beiden dominantesten Magazinkampagnen die für Ralph Lauren und Calvin Klein. Für beide arbeite Bruce Weber als Fotograf. Pauls erster Instinkt war, Maser dazu zu bringen, „etwas so Starkes und Ausdrucksvolles wie Weber zu tun, ohne in die gleiche Richtung zu gehen“. Die Idee war, ungeschönt und simpel zu sein, ohne Make-up und Haarstyling: einfach authentisch. Er durchquert sein Büro und holt einen riesigen Bildband, einen Rückblick zum 10-jährigen Jubiläum der Guess-Werbung. „Schauen Sie, wie toll dieses Bild ist“, sagt er und blättert zu einer von Masers frühen Aufnahmen. „Das Mädchen wirkt absolut authentisch. Fast kein Make-up, zerrissenes T-Shirt, Staub, keine geschlossenen Knöpfe … das war der Anfang des Images von Guess. Mädchen konnten sich damit identifizieren.“ Paul und Maser verfeinerten den Look nach und nach und wechselten 1985 zu Schwarzweiß, „weil alle [anderen] Farbe verwendeten“. Jeans waren nicht genug. Zunächst fertigte ihr Stylist Learn Nealz spontan Hemden und Sommerkleider an, die später

Meiner Meinung nach sollte das, was in der Werbung gezeigt wird, auch in die Geschäfte kommen wieder ihren Weg in das Guess-Sortiment fanden. Am Ende machte man sich keine Gedanken mehr darüber, wessen Kleidung auf dem Foto zu sehen war, es ging nur noch um die Atmosphäre. Die Atmosphäre geriet jedoch manchmal etwas außer Kontrolle. Gewagte Aufnahmen lösten wütende Reaktionen aus, insbesondere eine Aufnahme in Spanien, die Paul Marciano als „Exposé über Stierkämpfe und nicht über Jeans“ bezeichnen wollte. Es gab Blut, Mut, Machismo zu sehen. Außerdem eine unverkennbare Schamlosigkeit, die die Kunden sowohl faszinierte als auch anwiderte. „Ich habe noch nie eine Kampagne gesehen, die eine solche Wirkung entfaltete“, sagt er, „außer vielleicht die [aktuelle] Benetton-Kampagne.“ Guess und Maser gingen ab Ende 1988 getrennte Wege. „Die Richtung von Wayne Maser änderte sich an dem Tag, als er den Agenten wechselte und sich demjenigen von Helmut Newton, Xavier Moreau, anschloss“, meint Paul. „Moreau hatte einen solchen Einfluss auf ihn, dass meine Bilder immer provokanter wurden, sodass ich mich am Ende unwohl fühlte. Ich bat Wayne, sich etwas zu mäßigen.“ Laut Marciano tat Maser genau das Gegenteil. „Die beiden nächsten Shootings landeten im Schredder“, erklärt Paul. „Die Hawaii-Bilder habe ich geschreddert, ebenfalls Connecticut, das ähnlich wie bei Helmut Newton sadistisch war, multipliziert mit 10.“ Ich schredderte die Bilder und sagte, dass es das für mich war.“ Anstatt einen bekannten Modefotografen zu engagieren, suchte Paul Marciano „je-

Otis, die Unwerth am Hafen von St. Tropez entdeckte, und die jetzt in Anzeigen für Calvin Klein Jeans erscheint. Dann natürlich noch die unsterbliche Claudia, die exotische Sharna Zadrick und zuletzt Eva Herzigova, eine Tschechin, die Marilyn Monroe in nichts nachsteht. Paul erhebt sich aus seinem Sessel und läuft quer durch sein Büro, um sein neuestes Shooting zu zeigen, auf dem Herzigova in einem Bikini im Fünfziger-Jahre-Stil an einem Strand in Rio herumtollt, als Ebenbild von Norma Jean. „Wir haben das im September aufgenommen“, sagt er. „Ich wusste nicht, dass der Film JFK, im Dezember in die Kinos kommen würde. Er war überall zu sehen, und meine Bilder auch. Reiner Zufall. Dieses Bild führte zu einer der größten Meinungsverschiedenheiten mit meinen Brüdern“, sagt er und deutet auf einen von mehreren Dutzend Abzügen, die an der Pinnwand hängen. „Der Balkon, das ist das Weiße Haus! Das ist Marilyn, die auf JFK wartet … oder vielleicht auf ihn und Robert! Das ist die zugrunde liegende Emotion. Die Kraft dieser Aufnahme ist unglaublich, auch wenn man ihr Gesicht nicht sieht. Sie erregt extrem viel Aufmerksamkeit. Das war Marilyn, von Männern erniedrigt.“ Paul Marciano hält inne und zuckt mit den Schultern. „Es sind keine Jeans zu sehen. Das ist das Problem.“ „Schauen Sie hier“, fährt er fort und zeigt auf einen neuen Stapel Bilder. Es ist Claudia Schiffer an einer Tankstelle in der Mojave-Wüste, von Kopf bis Fuß in Guess gekleidet: Jeans, Gürtel, Bluse, Schal. Paul klingt jetzt ziemlich entrüstet. „Ich meine, wenn ich wie hier ausschließlich Guess-Kleidung verwende, sieht das nicht sexy aus. Hier dagegen habe ich ein Shirt von Guess, aber das Shirt ist kaum zu sehen. Das Bild ist einfach unglaublich!“ Er zeigt auf Schiffers Augen, Lippen, Haare, die Kinnpartie. „Das ist stark, das ist manden, der mit mir wachsen würde“. Beim lebendig, das ist monumental, weil sie wunderBlättern in einer Ausgabe von The Face schön ist.“ fand er eine körnige, verzerrte Katharine Aber wäre es nicht einfacher, anstatt geHamnett-Anzeige, die sein Interesse weckte. gen seine Brüder zu kämpfen, einfach Dessous Es dauerte drei Monate, bis er die Künstlerin herzustellen oder jemanden zu beauftragen, sie fand. Ellen von Unwerth entpuppte sich als unter dem Namen „Guess“ herzustellen? ehemaliges Model und Freundin eines „echt„Unterwäsche ist nicht unser Geschäft“, en“ Fotografen. Marciano stellte sie sofort ein. antwortet Paul. „Wir machen Sportkleidung Das lag zum Teil daran, dass Guess von fem- … Schauen Sie, ich kämpfe bei jedem einzelinistischer Seite viel Gegenwind bekam, weil nen Shooting für das, was ich für richtig halte das Unternehmen Fotos von unschuldig auss- und um allen anderen einen Schritt voraus ehenden jungen Models mit böse und schäbig zu sein. Das ist es, was das Unternehmen am aussehenden älteren Männern veröffentlichte. Laufen hält. Georges macht das Gleiche im Pauls Assistent verbrachte den größten Teil Design. Ich mag seine Designs nicht immer, seiner Arbeitszeit damit, Beschwerdebriefe wissen Sie? Aber wir wurden von unserer zu beantworten. Es lag zum Teil auch daran, Mutter dazu erzogen, zusammenzuhalten. Wir dass „ein Mädchen nicht das tun würde, was stammen aus bescheidenen Verhältnissen. Als Wayne bislang tat, nämlich eine Frau in eine wir Kinder waren, hatten wir sehr wenig Geld schwierige Lage bringen“. Es war in erster und schliefen alle vier im selben SchlafzimLinie Unwerths Technik (bzw. das Fehlen jeg- mer. Wir lebten sehr beengt und gingen auf licher Technik). „Die Bilder waren unscharf, dieselbe Schule, in dieselbe Pfadfindergruppe. und das gefiel mir, weil man raten musste“, Natürlich, wenn man erwachsen wird und erinnert sich Paul. Das hatte noch niemand heiratet, hat die Frau vielleicht andere Vorgemacht. Das ist Ellens Markenzeichen. Es stellungen. Dann ändern sich die Dinge. Aber erzeugte eine gewisse Stimmung. Ich hatte wir haben immer noch diese Energie, sodass Gänsehaut.“ jeder ehrlich seine Gefühle zum Ausdruck Unwerth entwickelte mit heißen Report- bringt. Jedes Mal nutze ich die gleichen Aragen schnell einen ausdrucksstarken Stil, der gumente und versuche, sie dazu zu bringen, seitdem vielfach kopiert wurde. Laut Marcia- durch meine kreative Brille zu blicken, nicht no ist sie nicht die Art Fotografin, die Bilder die geschäftliche.“ vor der Aufnahme perfekt ausleuchten und Ist es also immer drei gegen einen? Paul arrangieren muss. „Sie hat den Blick eines Marciano schwenkt den Zeigefinger. „Das Reporters“, erklärt er. „Sie fotografiert alles, würde ich nicht sagen“, sagt er. „Es kann zwei sogar im Auto auf dem Weg zum Shooting. gegen zwei sein.“ Er lächelt schelmisch. „Aber Das macht sie echt.“ Derselbe Instinkt half häufig ist es einer gegen drei.“ Unwerth dabei, wirklich erstaunliche Gesichter für Guess zu finden. Die erste war Carre

Letztlich kommt es darauf an, dass die Verkaufszahlen stimmen Alles andere ist irrelevant


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