RC Premium 2/2021

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TITEL

Mensch und Mobilität

Über räumlich-physische, sozio-kulturelle und seelisch-geistige Mobilität, Sedentarismus und das vermeintliche Ideal des einsamen Stubenhockers von Matthias Zimmermann Natürlich kann ich jeden verstehen, der sagt: ich kann es bald nicht mehr hören! Seit über einem Jahr nimmt Corona so irgendwie alles und jeden in Beschlag. In die Fänge der Pandemie gerät selbst ein so erhebendes Thema wie Mobilität. „Mobilitas“, der Wille und die Fähigkeit, sich fortzubewegen. Die Natur kennt Ruhe und Stillstand kaum, Bewegung und Veränderung sind die Regel. Bewegung – physisch und im Geiste – ist Leben. Mobilität ist gelebte Freiheit. Die Wahl des Aufenthaltsorts innerhalb eines Staates ist verfassungsrechtlich garantiert und zählt unter dem Stichwort „Freizügigkeit“ zu den Menschenrechten (Vereinte Nationen, 1948, Artikel 13). Und jetzt das! Was sind das nur für Zeiten, in denen der Anschein entsteht, das bürgerliche Ideal sei das des Stubenhockers, der einsam oder allenfalls im kleinen Familienkreis brav zuhause bleibt. Ob wir es wollen, können, einsehen – oder auch nicht: „Stay Home“ ist die wirksamste Strategie, um einem Virus den Nährboden zu entziehen. Wenn Menschen einander nicht begegnen, kann sich SARS-CoV-2 nicht ausbreiten. Allenfalls auf indirektem Wege besteht wohl eine gewisse Wahrscheinlichkeit, sich Viren einzufangen. Sitzen diese in einer AerosolWolke, die ein Infizierter in einem geschlossenen Raum hinterlassen hat, muss man denjenigen gar nicht mal persönlich treffen. Anders bei Tröpfchen, die durch Husten, Spucken oder vor allem durch Niesen ausgestoßen werden. Tröpfchen übertragen Viren in hoher Menge, weshalb der Kontaktintensität eine große Bedeutung zukommt. Kinder brauchen und empfangen Nähe nun mal ganz besonders. Daher stellen eben auch Kleinkinder eine hohe Infektionsgefahr dar, selbst wenn sie nur eine geringe Virenlast entwickeln sollten. Eltern mit

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Kindergartenkindern ist das schon vor Corona längst bekannt gewesen. Wir wissen also, es braucht einen direkten oder indirekten Kontakt mit jemandem, der oder die bereits infiziert ist – was er oder sie mitunter gar nicht weiß und auch nicht spürt. Die asymptomatisch verlaufende Infektionserkrankung und die Infektiosität schon Tage vor dem Ausbruch der COVID-19Erkrankung ist ein gemeiner Trick dieser genauso winzigen wie verflixten und gefährlichen organischen Struktur. All das ist bekannt. Daraus resultiert das oberste Gebot der Bekämpfung der Corona-Pandemie: Kontaktreduktion! Genau hier kommt die Mobilität ins Spiel. Kontakte resultieren aus Mobilität. Ohne, dass man sich aufeinander zubewegt, wird es keinen Kontakt geben. Dennoch gilt eben auch, dass aus der Unterbindung von Infektionsketten eine Kette schwerwiegender Folgewirkungen resultiert: Physische Mobilität? Nur nicht fortbewegen! Soziale Mobilität? Verharre unter Deinesgleichen! Kulturelle Mobilität? Bleib, wo Du hingehörst! Mentale Mobilität? Bloß nicht zu viel selber denken! Was wird aus unserem Leben, wenn wir uns nicht bewegen? Liegt die Zukunft der Mobilität in der Organisation unseres Verkehrswesens oder liegt ein modernes Verständnis von Mobilität nicht vielmehr in der Gestaltung eines bewegten Lebens? Gehört zu einem mobilen Lebensentwurf nicht auch der Austausch mit anderen Menschen, sozialen Milieus und Kulturen? Und geht all dies nicht in besonderer Weise einher mit einem mobilen Kopf, also mit dem Willen und der Fähigkeit zu denken?


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