Berliner Tagesspiegel - 25 Jahre GRAFT

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Freitag, 27. Oktober 2023

Kultur in Berlin

Graft-Architekten Auf der Suche nach der weltläufigen Lösung Von Bernhard Schulz

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it dem Begriff des kairos bezeichneten die alten Griechen den günstigsten Moment, um eine Entscheidung zu treffen. Verstehen wir kairos einfach als jenen glücklichen Moment, zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein, dann ist man dem Geheimnis des Architekturbüros Graft ganz nahe. Die drei Firmengründer Lars Krückeberg, Wolfram Pütz und Thomas Willemeit waren irgendwie immer zur rechten Zeit da. Und wenn sie jetzt ihr 25-jähriges Jubiläum mit einer Ausstellung im Aedes Architekturforum begehen, dann sind sie wiederum einfach da, schauen ins Jetzt und in die Zukunft, aber nicht zurück; jedenfalls nicht weiter, als zur Erläuterung ihrer in der Ausstellung gezeigten Bauprojekte notwendig ist.

Wir glauben, dass Architektur eine Kunstform der Opulenz sein kann, die in der Lage ist, unvergessliche Erfahrungen und neue Realitäten zu schaffen. Lars Krückeberg, Wolfram Putz und Thomas Willemeit von Graft.

„Think global, act local“

Keine Erwähnung also ihres Beginns im fernen Los Angeles und dem märchenhaften Zusammentreffen mit einem prominenten Erst-Kunden; was ihnen für die folgenden Jahre ungeteilte Aufmerksamkeit weit über die eigene Zunft hinaus bescherte. Inzwischen ist ihr Portfolio derart umfangreich, dass sie auf kalifornische Villen der Neunziger Jahre nicht mehr verweisen müssen. Bei Aedes werden sechs Projekte vorgestellt, von denen vier in Berlin angesiedelt sind. „Think global,

Zur Ausstellung Eröffnung Fr 27. 10., 18.30 Uhr, bis 5. 12., Aedes Architekturforum, Christinenstr. 18-19 (am Pfefferberg). Diesen Sa/So 13 - 17 Uhr. Katalog 10 Euro. Mehr unter www.aedes-arc.de

act local“, haben sie einmal geäußert, in einem der zahlreichen Interviews, das die kommunikationsfreudigen Drei im Laufe der Jahre gegeben haben, und das kann man auf die hier vorgestellten Entwürfe beziehen. Sie sind allesamt für einen ganz spezifischen Ort geschaffen und zugleich von einer Weltläufigkeit, die nicht eigens betont werden muss, weil sie ohnehin ins Auge springt. Und doch greift es viel zu kurz, Graft nur als Gestalter urbaner Eleganz zu bezeichnen. Man denke nur – kleine Abschweifung – an das fantastische Innere, das sie dem gründerzeitlichen Eckhaus an der Bülowstraße verpasst haben, um es als „Urban Nation Museum for Contemporary Art“ zu einer Landmarke des neuen Berlin zu machen. Nun steht im Eingangsraum von Aedes eine Aluminiumkiste, die als „Solarkiosk“ gekennzeichnet ist. Es ist ein Objekt, das als Verkaufsbude dienen kann, wie als vieles andere, und für die nur eines entscheidend ist: Sie kommt ohne ortsfeste Energieversorgung aus. Die Energie wird vielmehr über Solarpanel auf dem Dach erzeugt, und so kann der Kiosk in jenen Breiten stehen, die heute als „Globaler Süden“ generalisiert werden, und deren gemeinsame Malaise (unter anderem) der Mangel an verfügbarer Energie ist. Voilà, Graft hat eine Lösung parat. Lösungen zu finden, ist ein

Kennzeichen von Graft. Deswegen haben sie die sechs Projekte im großen Raum nicht danach ausgesucht, dass es ihre schönsten sind; obgleich Lars Krückeberg im Gespräch inmitten der Ausstellung ausdrücklich betont, dass Architektur „Schönheit“ hervorbringen solle und nicht allein oder in erster Linie das, was heute von ihr verlangt wird, Energieeffizienz, Nachhaltigkeit, was auch immer.

Schönheit trotz Nachhaltigkeit

Nein, diese sechs Projekte stehen für sechs Herangehensweisen des Büros, das nebenbei längst auf Standorte in drei Kontinenten und über einhundert Mitarbeitende angewachsen ist. Einer den Raum füllenden Holzkonstruktion sind diese Vorgehensweisen gewissermaßen eingeprägt. Die deutsche Übersetzung der sechs, im Englischen so leichtgängigen Begriffe ist nicht in jedem Fall einfach. Es

Die Partner von Graft. Thomas Willemeit, Lars Krückeberg, Sven Fuchs, Wolfram Putz, Georg Schmidthals.

Urbanität für Berlin

Im Entstehen begriffen ist das Bürohaus „A Laska“ in Berlin, eine Holzhybridkonstruktion – also mit dem aus Brandschutzgründen gebotenen Betonkern für Aufzüge und Versorgung –, bei der einzelne Bauteile geschossweise versetzt aus der Fassade herausstehen und in ihrem Inneren kleine ExtraRäume bieten. Ungebaut blieb der Entwurf für das Jüdische Museum in Moskau, eingefügt in eine historische Busgarage der zwanziger Jahre und mit einem sanft geformten Aufstieg aus dem Untergeschoss nach oben, metaphorisch aus der Vergangenheit ins Heute. Das alles kann man als „schön“ bezeichnen – und ertappt sich dabei, diese Kategorie beinahe gar nicht mehr parat zu haben. Graft ist nicht auf ein Formenrepertoire festgelegt, ebenso wenig auf bestimmte Materialien. Und nicht einmal, wie man angesichts der makellosen Entwürfe in der Ausstellung glauben mag, auf den Computer als alleiniges Entwurfsinstrument: Sie zeichnen gern, betonen Lars Krückeberg und Wolfram Putz im Gespräch, um spontane Ideen auszudrücken und im Team zu bearbeiten. Bei Aedes sieht man im oberen Ausstellungsraum an der hinteren Wand Buchstaben, die keinen Sinn zu ergeben scheinen. Von einem einzigen Punkt aus lässt sich der vollständige Satz entziffern: „Taste is the lack of appetite“. Die Neugier auf das Neue, abseits von eingefahrenen Mustern, vom herkömmlichen „taste“, das ist das Motto der Ausstellung – und das Motto des Büros.

© Trockland 25/Keyvisual; Christian Thomas

Zum 25. Jubiläum ausgestellt: „Bricks“ ist eine Synthese von Schöneberger Bestandsbauten und einem Neubau.

geht um Verweben, um Spuren legen, um schneiden, herausschälen, um dreidimensionales Zusammenfügen und um das Überziehen von Volumina mit einer gemeinsamen Haut. So ungefähr jedenfalls. Es geht bei allen Projekten um „Morphogenese“: „Auf unserer Reise der Symbiose mit Technologie glauben wir, dass die Schaffung von Form und Schönheit die höchste Verkörperung von Nachhaltigkeit ist“, heißt es dazu im Katalog im klassisch-kleinen Format aller Aedes-Kataloge: „Wir glauben, dass Architektur eine Kunstform der Opulenz sein kann, die in der Lage ist, unvergessliche Erfahrungen und neue Realitäten zu schaffen.“ Mit ihren gerundeten oder sanft zurückgestuften Formen fügen sich die Apartment-Anlagen „Charlie Living“ oder „Wave“ hervorragend in die Architektur einer neuen Urbanität Berlins ein. Daneben sticht „Bricks“ hervor, jene geglückte Synthese von Schöneberger Bestandsbauten und einem Neubau mit hinreißender Ziegelfassade, die freilich ohne darunter liegende, computer-generierte Betonkonstruktion nicht möglich wäre. Und die Münchner Jugendherberge, die die vorwiegend in Gruppen anreisenden Gäste geradezu ins Gebäude einsaugt, steht für eine zeitgemäße Form des Jugendtourismus.


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