polisMAGAZIN 3/2023 GLÜCK - Interview

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03 / 2023

30. Jahrgang € 15 ISSN 0938-3689

URBAN DEVELOPMENT

GLUCK Verweile doch - du bist so schön

HEALING Kultur verwirklichen, Erbe wertschätzen ZWISCHEN HEKTIK UND HARMONIE Wie DAS STREBEN NACH GLÜCK Über wir uns das Glück zurück auf die Straße holen Thomas Hug das Potenzial von Architektur über den gebauten Raum hinaus Glückserlebnisse zu kreieren Interview mit Thomas Willemeit WETTEN, DASS.. ? Deutsche Innenstädte und die Steuerung des Glücksspiels LUCK IMPERMANENT Years of luck have been forgotten in the misery of a minute SUMMER OF PIONEERS IN MITTWEIDA Gücksbringer für eine lebendige Innenstadt KÖLN GESTALTET WACHSTUM NACHHALTIG Der Köln-Katalog, ein Konzept Christina Quast für kompakte, nachhaltige und lebenswerte Quartiere Inga Hoffmann // Interview mit Andree Haack und Markus Greitemann FORM VOLLENDET Keine Architektur ist so gut, wie ihr Vorbild aus der Natur Interview mit Torsten Andreas Hoffmann KLEINES HEIM, GROSSE CHANCE Bauen, helfen, Obdach schenken


© Christian Thomas Fotografie

„Die Zugänglichkeit von Architektur, also wie ich Architektur erlebe, hat viel mit den Dis­ kussionen zu tun, wem die Stadt eigentlich gehört, wie gerecht der Stadtraum ist etc., was in Stadträumen erlaubt ist und wie sie verändert werden dürfen.“ Im Gespräch mit Thomas Willemeit, Gründer und Geschäftsführer, GRAFT Architekten

Susanne Peick

DAS STREBEN NACH GLUCK UBER DAS POTENZIAL VON ARCHITEKTUR UBER DEN GEBAUTEN RAUM HINAUS GLUCKSERLEBNISSE ZU KREIEREN

Unser Magazin trägt den wunderbaren Titel GLÜCK. Auf eurer Website heisst es „GRAFT ist u.a. ein Studio für das Streben nach Glück.“. Kannst du das kurz erläutern?

Ist Glück denn überhaupt gestaltbar; und können wir Innen- und Außen-Räume so entwickeln, dass sie dieses doch sehr subjektive Gefühl als Kollektiverfahrung hervorrufen?

Wir haben unser Büro 1998 in Los Angeles gegründet. Das „Streben nach Glück“ ist aus der amerikanischen Verfassung entlehnt. Dass „Glück“ dort als zentraler Bestandteil bzw. als Ideal der US-amerikanischen Gesellschaft ganz offiziell verankert wurde, fanden wir schon damals interessant. Der Begriff ist mehrdeutig; wir legen ihn in zweierlei Hinsicht für unser Studio zugrunde: Für uns ist Architektur seit jeher mit intensiver Arbeit verbunden gewesen. Insbesondere die ersten Jahre waren für uns anstrengend aber auch sehr erfüllend. Wir empfinden es als großes Glück, dieser kreativen Arbeit nachgehen und mittels Architektur an wichtigen gesellschaftlichen Themen und Fragen teilhaben zu können. Dafür braucht es Neugier und Aufgeschlossenheit, denn optimistische, gute Architektur kann nur dann gelingen, wenn man selbst eine nach vorn blickende, optimistische Sichtweise vertritt, um das Gute in der Welt zu entdecken.

Laut unserer Beobachtungen gibt es tatsächlich bestimmte Merkmale, die zu einem kollektiven Glücksempfinden oder Glückserlebnis führen können - nicht müssen. Diese Frage beschäftigt uns seit Tag eins. In jeder Entwurfsdebatte im Büro geht es uns darum, zu ergründen, wie das Erlebnis des gestalteten Raumes am Ende sein wird, also in welchem Verhältnis ein Baukörper, ein Stadtraum oder ein Innenraum zu mir steht. Das führt zu der spannenden Debatte, wie zugänglich Architektur für die jeweiligen Nutzer:innen ist. Im Englischen gibt es den schönen Begriff der accessability. Die Möglichkeit der Teilhabe, ein Gebäude in Besitz nehmen zu können ist für uns ein ganz entscheidender Aspekt.

Darüber hinaus leiten wir unser Selbstverständnis nicht aus der rein architekturautonomen Debatte ab. Selbstverständlich interessiert uns die gesamte Architekturgeschichte, die baurechtlichen und planerischen Rahmenbedingungen sowie konstruktive und technische Erfordernisse. Zugleich denken wir aber, dass es vorrangig das Ziel von Architektur ist, eine Glückssituation für den Nutzer herzustellen: Wir sind nur dann zufrieden, wenn das Erlebnis von Architektur zu einer positiven emotionalen Reaktion führt; also wenn unsere Auftraggeber:innen oder Nutzer:innen mit dem Ergebnis glücklich sind oder es sie auch etwas in Staunen versetzt. Wir beobachten viele Debatten zu allen möglichen Themen – sei es Nachhaltigkeit, Lärmschutz, Energieeffizient etc. – nie aber zum Thema Glück.

Kannst du hierzu ein Beispiel geben? Die Zugänglichkeit von Architektur, also wie ich Architektur erlebe, hat viel mit den Diskussionen zu tun, wem die Stadt eigentlich gehört, wie gerecht der Stadtraum ist etc., was in Stadträumen erlaubt ist und wie sie verändert werden dürfen. Uns begegneten diese Fragen aber das erste Mal in L.A. und im Kontext der Gestaltung von Hospitality Bereichen in Las Vegas - erst viel später auch in Europa, wo die Forderung nach Teilhabe heute in aller Munde ist. Ungeachtet der Kritik gegenüber den dortigen Projekten steht außer Frage, dass Las Vegas eine beispiellose Stärke besitzt, sehr präzise darüber zu diskutieren, wie das Erlebnis von Architektur ist, sprich wie Restaurants und Hotels erlebt werden. Wohin zieht es die Menschen? Warum suchen sie bestimmte Orte immer wieder auf? Und warum sind manche Räume erfolgreicher als andere? Durch die kontinuierliche Beschäftigung mit diesen Fragen entsteht nicht nur ein eigenes, präzises Fachvokabular für die entsprechenden Situationen, sondern auch die Einsicht, dass Architektur sehr wohl einen nachhaltigen Beitrag zum Glücksund Wohlempfinden von Menschen leisten kann.

INTERVIEW

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© Christian Thomas Fotografie

„Die Zugänglichkeit von Architektur, also wie ich Architektur erlebe, hat viel mit den Dis­ kussionen zu tun, wem die Stadt eigentlich gehört, wie gerecht der Stadtraum ist etc., was in Stadträumen erlaubt ist und wie sie verändert werden dürfen.“ Im Gespräch mit Thomas Willemeit, Gründer und Geschäftsführer, GRAFT Architekten

Susanne Peick

DAS STREBEN NACH GLUCK UBER DAS POTENZIAL VON ARCHITEKTUR UBER DEN GEBAUTEN RAUM HINAUS GLUCKSERLEBNISSE ZU KREIEREN

Unser Magazin trägt den wunderbaren Titel GLÜCK. Auf eurer Website heisst es „GRAFT ist u.a. ein Studio für das Streben nach Glück.“. Kannst du das kurz erläutern?

Ist Glück denn überhaupt gestaltbar; und können wir Innen- und Außen-Räume so entwickeln, dass sie dieses doch sehr subjektive Gefühl als Kollektiverfahrung hervorrufen?

Wir haben unser Büro 1998 in Los Angeles gegründet. Das „Streben nach Glück“ ist aus der amerikanischen Verfassung entlehnt. Dass „Glück“ dort als zentraler Bestandteil bzw. als Ideal der US-amerikanischen Gesellschaft ganz offiziell verankert wurde, fanden wir schon damals interessant. Der Begriff ist mehrdeutig; wir legen ihn in zweierlei Hinsicht für unser Studio zugrunde: Für uns ist Architektur seit jeher mit intensiver Arbeit verbunden gewesen. Insbesondere die ersten Jahre waren für uns anstrengend aber auch sehr erfüllend. Wir empfinden es als großes Glück, dieser kreativen Arbeit nachgehen und mittels Architektur an wichtigen gesellschaftlichen Themen und Fragen teilhaben zu können. Dafür braucht es Neugier und Aufgeschlossenheit, denn optimistische, gute Architektur kann nur dann gelingen, wenn man selbst eine nach vorn blickende, optimistische Sichtweise vertritt, um das Gute in der Welt zu entdecken.

Laut unserer Beobachtungen gibt es tatsächlich bestimmte Merkmale, die zu einem kollektiven Glücksempfinden oder Glückserlebnis führen können - nicht müssen. Diese Frage beschäftigt uns seit Tag eins. In jeder Entwurfsdebatte im Büro geht es uns darum, zu ergründen, wie das Erlebnis des gestalteten Raumes am Ende sein wird, also in welchem Verhältnis ein Baukörper, ein Stadtraum oder ein Innenraum zu mir steht. Das führt zu der spannenden Debatte, wie zugänglich Architektur für die jeweiligen Nutzer:innen ist. Im Englischen gibt es den schönen Begriff der accessability. Die Möglichkeit der Teilhabe, ein Gebäude in Besitz nehmen zu können ist für uns ein ganz entscheidender Aspekt.

Darüber hinaus leiten wir unser Selbstverständnis nicht aus der rein architekturautonomen Debatte ab. Selbstverständlich interessiert uns die gesamte Architekturgeschichte, die baurechtlichen und planerischen Rahmenbedingungen sowie konstruktive und technische Erfordernisse. Zugleich denken wir aber, dass es vorrangig das Ziel von Architektur ist, eine Glückssituation für den Nutzer herzustellen: Wir sind nur dann zufrieden, wenn das Erlebnis von Architektur zu einer positiven emotionalen Reaktion führt; also wenn unsere Auftraggeber:innen oder Nutzer:innen mit dem Ergebnis glücklich sind oder es sie auch etwas in Staunen versetzt. Wir beobachten viele Debatten zu allen möglichen Themen – sei es Nachhaltigkeit, Lärmschutz, Energieeffizient etc. – nie aber zum Thema Glück.

Kannst du hierzu ein Beispiel geben? Die Zugänglichkeit von Architektur, also wie ich Architektur erlebe, hat viel mit den Diskussionen zu tun, wem die Stadt eigentlich gehört, wie gerecht der Stadtraum ist etc., was in Stadträumen erlaubt ist und wie sie verändert werden dürfen. Uns begegneten diese Fragen aber das erste Mal in L.A. und im Kontext der Gestaltung von Hospitality Bereichen in Las Vegas - erst viel später auch in Europa, wo die Forderung nach Teilhabe heute in aller Munde ist. Ungeachtet der Kritik gegenüber den dortigen Projekten steht außer Frage, dass Las Vegas eine beispiellose Stärke besitzt, sehr präzise darüber zu diskutieren, wie das Erlebnis von Architektur ist, sprich wie Restaurants und Hotels erlebt werden. Wohin zieht es die Menschen? Warum suchen sie bestimmte Orte immer wieder auf? Und warum sind manche Räume erfolgreicher als andere? Durch die kontinuierliche Beschäftigung mit diesen Fragen entsteht nicht nur ein eigenes, präzises Fachvokabular für die entsprechenden Situationen, sondern auch die Einsicht, dass Architektur sehr wohl einen nachhaltigen Beitrag zum Glücksund Wohlempfinden von Menschen leisten kann.

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Das passt durchaus. Ein frühes Projekt von uns in Berlin war ein sogenanntes „Design-Hotel“, die Idee aktuelles Design und Hospitality zu verbinden war zu der Zeit aktuell. Uns interessierte jedoch weniger, die nächste weiße modernistische Kiste mit bekannten Designer-Möbeln zu entwerfen, sondern zu hinterfragen, ob sich Design nicht eher auf eine bestimmte Atmosphäre bezieht. Viele werden das kennen: Manche Design-Hotels sind alles andere als einladend, sondern wirken kalt und elitär. Aufgrund dieser Gedanken und Eindrücke entwickelten wir Entwürfe, die das genaue Gegenteil darstellten: Räume, die nicht mehr für sich stehend Designobjekte sein wollen, sondern die auf Nutzer:innen zu reagieren scheinen; Räume, die förmlich erzählen, dass die verantwortlichen Architekt:innen Lust darauf haben, dass sie genutzt und erobert werden. In vielen Projekten greift ihr auf organische Formen zurück – ganz im Gegenteil zur weit verbreiteten scharfkantigen Architektur. Ihr sagtet einmal, dass sich in der Natur kein rechter Winkel finden lässt. Findet dahingehend mittlerweile eine Veränderung in der architektonischen Praxis statt? Das ist eine sehr gute Frage. Wir beobachten diese Veränderungstendenzen schon seit Jahrzehnten. Doch zunächst: Organische Formen haben in der Architektur eine lange Tradition – angefangen beim römischen Barock und dann sehr offensichtlich während der Barockzeit in Italien, dann in ganz Europa im 16./17. Jahrhundert. Auch im Jugendstil oder der frühen Moderne tauchten organische Formen immer wieder auf. Architektur als etwas zu betrachten, das Organik als Ausgangspunkt nimmt und dem scheinbar eine spezielle Kraft innewohnt, ist also per se keine neue Idee. Und genau dieser Gedanke fasziniert mich und uns seit jeher. Den echten Durchbruch schafft diese Idee allerdings meiner Meinung nach erst heute durch die Entwicklung computergestützter Entwurfsmethoden. Im Zuge der Einführung von CAD Ende der 80er-Jahre bzw. Anfang der 90er-Jahre wurde der Traum virtuell gestaltete Skulpturen in die Realität zu übertragen immer greifbarer. Genau diese neuen Möglichkeiten zogen uns übrigens auch nach L.A., wo wir dann auch unser Büro eröffneten. An den Universitäten in Deutschland arbeitete man zu dieser Zeit noch mit Tuschezeichnungen und Bleistift. L.A. war für uns wie die Entdeckung einer neuen Welt und neuer Möglichkeiten. Inwiefern hat diese neue virtuelle Welt dein Verständnis von Architektur verändert? Diese neuen Programme waren Katalysatoren und faszinierende Tools, um dynamisch Gestalt zu geben, Materie Leben einzuhauchen und Architektur am Menschen zu orientieren. Für mich ist Architektur aber erst dann spannend – und hier möchte ich zum Glücksempfinden zurückkehren – wenn sie in ihrer Gestalt nicht nur ein bestimmtes organisches Objekt imitiert, sondern darüber hinaus auch noch einen Dialog mit den Nutzer:innen führt. Was, wenn sie erst durch diese Interaktion ihre spezifische Form erhält? Was, wenn eine runde Form nicht nur dadurch entsteht, weil ein Architekt sie chic findet, sondern weil sie sich aus dem Dialog mit dem Nutzer ergibt, der sich im Raum bewegt?

Das ist sehr abstrakt – kannst du das konkretisieren? Gern. Als Echo der Bewegung im Raum kann Architektur z.B. dem Bedürfnis nach Schutz, Privatsphäre oder Öffentlichkeit Rechnung tragen – sei es in Form von Nischen oder sehr offen gestalteten Räumen und Flächen. Nehmen wir z.B. das von uns gestaltete Hotel Old Mill in Belgrad. Im Foyer gibt es eine große Wand aus horizontal gelagerten, sandfarbigen Schichten mit sehr feiner Linienführung. Sie bildet einen starken Kontrast zu der gegenüberliegenden Backsteinwand. An einigen Stellen wölbt sich diese von uns neu gestaltete Wand hervor. Hierdurch entstehen Nischen und niedrigere, privatere Zonen – z.B. dort wo der Rezeptionscounter verortet ist. An anderen Stellen entstehen Ausbuchtungen, die explizit in den Innenraum ragen. Sie bilden Sofalandschaften, die zum Verweilen einladen. Diese Architektur ist im Dialog mit den Nutzer:innen. Sie fragt: Willst du gesehen werden oder brauchst du mehr Privatheit? Was ist dein Bedürfnis? Rückzug oder Exponiertheit? Sie verlangt regelrecht eine Reaktion – auch wenn sie auf den ersten Blick vielleicht „nur“ als ansprechende Gestaltung eines Raumes wahrgenommen wird. Insofern kann man anhand von Architektur die Szenografie im Raum ablesen; sie fungiert wie ein Bühnenbild, das zum Theaterstück passen muss. Viele unserer Architekturen basieren auf genau solchen Gedanken. Ein Gebäude, das offensichtlich zu sehr verschiedenen Reaktionen führt, ist das Berliner ICC, für das auch ihr eine Zukunftsvision (M:ICC) vorgelegt habt. Während sich viele über die Zukunft des oppulenten „Raumschiff“ uneinig sind, sagt ihr, das Haus habe eine bemerkenswerte Energie. Es sei ein Schatz, den es zu heben gilt. Übersehen die Kritiker:innen, dass mitten in Berlin das Glück auf der Straße liegt? Das ICC ist v.a. ein sehr gutes Beispiel dafür, wie Gebäude aufgrund von individuellen Erinnerungen oder Erzählungen ganz unterschiedliche Bilder und Reaktionen hervorrufen – positive wie negative. Es beweist, dass es offensichtlich nicht nur eine objektive, rational vernünftige Debatte über Architekturgeschichte gibt, sondern viele kleine subjektive Diskussionen über Wirkung, das Narrativ und die vermeintlichen Botschaften. Genau in diesem Spannungsfeld steht das ICC: Die Kritik kommt von Betrachter:innen, die meiner Meinung nach im ICC Botschaften lesen, die an sich gar nichts mit dem Haus zu tun haben; z.B. dass es ein Konkurrent zum Palast der Republik ist. Ja, vielleicht war es in gewisser Weise die Antwort Westberlins auf den Palast der Republik. Diese Diskussionen zeigen auf jeden Fall, dass es zu dieser Zeit ein Ringen zwischen Ost und West gab. Abgesehen davon gibt es natürlich auch die Fraktion, für die das ICC stilistisch nicht „passt“. Auch solch eine geschmackliche Debatte hat ihre Berechtigung. Nimmt man aber eine neutralere Position ein und analysiert das ICC kommt man zu einem ganz anderen Schluss: Denn es ist erstaunlich, wie es Berlin in den 70er Jahren – also inmitten des Konflikts zwischen Ost und West – geschafft hat, in Form des ICC einen beispiellosen Zukunftsglauben und Optimismus in die Welt zu kommunizieren. Es steht sinnbildlich für das klare Statement „Wir laden die Welt zu uns ein…in unser Raumschiff!“. Und vielleicht ist es sogar eine Metapher für ganz West-Berlin gewesen, das sich trotz der schwierigen politischen Situation nicht unterkriegen lassen wollte und ein Lebensmodell postulierte, das immer im Blick nach vorne verankert war.

Wir wagen heute sogar zu behaupten, dass das ICC vielleicht der größte oder gar letzte Ausbruch dieser Art von Optimismus, Hoffnung und Zukunftsvertrauen war. Und genau dies anzuerkennen – dafür werben wir. Dass diese Sichtweise manche nicht teilen können, liegt daran, dass wir uns gegenwärtig in einer sehr selbstkritischen Phase befinden: Wir lamentieren, wälzen Probleme und sind übervorsichtig. Meiner Meinung nach sind viele nicht dazu in der Lage, in solchen Zusammenhängen einmal die eigenen Interessen und Befindlichkeiten hintenan zu stellen und stattdessen mit Offenheit und Freude in die Zukunft zu blicken. Wie wichtig wäre es, die Welt wieder zu uns einzuladen und gemeinsam über Zukunft zu diskutieren, anstatt in Diktaturen darüber entscheiden zu lassen? Welche Wirkung könnte das ICC denn auf den umliegenden Stadtraum haben? Mit dieser Frage beschäftigen wir uns auch sehr intensiv. Wir möchten das ICC nicht mehr als isoliertes, für sich stehendes Gebäude betrachten. Das ist insofern schwierig, weil es mit seinen 200.000 Quadratmetern Nutzfläche, ein echter Koloss ist. Diesen wieder zum Leben zu erwecken, ist schon herausfordernd genug. Trotzdem muss auch darüber nachgedacht werden, wie das Messeumfeld eingebunden und reaktiviert werden kann. Hauptaugenmerk muss hier auf der Schließung der Verkehrsschneise zwischen dem Messegelände und Charlottenburg//Wilmersdorf liegen. Diskussionen gibt es auch zu dem südlich angrenzenden Stadt Eingang City West, d.h. zum Umbau des Avus Autobahn Dreiecks, dem Bahnhofs Westkreuz und einer dichteren Bebauung. Und auch nach Norden, Richtung Tegel, sollte man das Stadtentwicklungspotenzial weiterdenken: Hier wäre z.B. eine Deckelung der abgesenkten Fahrstraßen ein Ausgangspunkt für die Notwendige Vernetzung der Stadtteile. Hierdurch entstünden neue grüne Freiräume mitten in der Stadt. Du siehst – das Wirkungspotenzial ist riesig! Und entsprechend hoch werden auch die benötigten Investitionssummen sein. Doch davon abgesehen: Wie steht es um den Spirit – ist Berlin mutig genug für so ein Projekt? Ich denke, wir unterschätzen die Kraft der hier unter der Oberfläche schlummernden Sehnsucht danach, zu sehen, was die Stadt noch alles kann. All diejenigen, die diese Sehnsucht in sich spüren und an die Stadt glauben, müssen sich noch viel stärker vernetzen und dürfen sich von Kritiker:innen nicht ins Bockshorn jagen lassen. Denn: Eine der größten Risiken, die wir eingehen können, ist, denjenigen das Feld zu überlassen, die behaupten, dass ohnehin alles dem Untergang geweiht ist, und nur radikale, neue Konzepte Abhilfe verschaffen werden - Stichwort AfD. Was aus dieser Richtung angestrebt wird, ist kein Glück, sondern das Schüren von Hass. Das gilt natürlich nicht nur für Berlin, sondern für unsere gesamte Gesellschaft: Glück ist und darf nicht nur eine individuelle Einschätzung von dir oder mir sein, wie wir subjektiv Glück empfinden. Es braucht eine bewusste Debatte darüber, dass und wie wir Glück erzeugen wollen – dazu gehört ein respektvolles Miteinander genauso wie wirtschaftliche und andere gesellschaftliche Faktoren. Aufbruch gelingt nur dann, wenn sich viele optimistische und neugierige Menschen gemeinsam auf den Weg machen. Und auch nur so eine offene und heterogene Gesellschaft wird Berlin weiterbringen. Die good news: Berlin ist bereits ein großer melting pot internationaler,

sehr neugieriger, progressiv denkender Menschen. Das Problem ist lediglich, dass sich bislang die Berliner Politik nicht aus diesen Köpfen speist, sondern stattdessen aus einer provinziellen „Ursuppe“, die begrenzt zukunftstauglich ist. Das ist vielleicht die größte Herausforderung: Berlin muss den Spagat schaffen zwischen der Bedeutung als Metropole in der Welt bei gleichzeitiger Berücksichtigung und Wertschätzung der lokalen Kieze. Metropolen, die diesen Spagat schaffen, sind erfolgreich. Kannst du uns hierzu ein paar Beispiele nennen? Ganz hervorragend gelingt das Metropolen wie Rotterdam, Stockholm oder Kopenhagen. Kopenhagen ist ein großes Vorbild in puncto Stadtentwicklung auf unterschiedlichen Ebenen. Tolle Entwicklungen sehen wir aber auch in Außenbezirken mancher Mega-Metropolen, wie z.B. in New York: Brooklyn, Queens oder der nördliche Teil der Insel Manhattan gelingt die Balance. Eine Stadt wie Paris durchläuft ihren Umbau eher top down – oder salopp gesagt mit dem Brecheisen - aber immerhin durchaus erfolgreich. Lass uns einmal auf Quartiersentwicklungen schauen. In einem anderen Interview kritisierte mein Gesprächspartner, dass er in den zahlreichen Diskussionen um erfolgreiche Quartiere den Aspekt vermisst, Quartiere auch als Puzzlestücke eines großen Ganzen zu betrachten. Denken wir zu wenig über die Verbindung zwischen Quartier und Zentrum nach und ist das überhaupt noch state of the art? Es stimmt, dass es eine starke Rückbesinnung darauf gibt, sich mit seinem Kiez, seinem Viertel etc. zu identifizieren. Natürlich ist es angenehm die Dinge des täglichen Lebens unmittelbar vor der Haustür zu haben - Stichwort 15 Minuten Stadt, Stadt der kurzen Wege etc. Diese Auseinandersetzung ist übrigens auch förderlich für die Akzeptanz von Architektur und Stadtplanung. Dennoch kann ich die Kritik verstehen. Ich denke, als verantwortungsvolle Bürger:innen müssen wir uns immer auch fragen, welchen Beitrag wir zum großen Ganzen, also zur Metropole, leisten: Warum ist meine Stadt nicht nur mein Kiez, sondern auch im internationalen Kontext relevant? Ist sie attraktiv für die besten und kreativsten Köpfe, die in der internationalen Debatte um Nachhaltigkeit, Klimaschutz, Politik, Literatur, Kunst, Kultur usw. eine Stimme haben? Natürlich gibt es Städte, die weit entfernt sind von solchen Fragestellungen, vielleiht interessiert viele

Mit SOLARKIOSK haben GRAFT und Andreas Spiess ein Infrastrukturinstrument geschaffen, das direkt mit den Menschen vor Ort zusammenarbeitet und ihre Gemeinschaft entwickelt. 26

INTERVIEW

© Georg Schaumberger

Klingt für mich nach form follows user anstatt nach form follows function.


Das passt durchaus. Ein frühes Projekt von uns in Berlin war ein sogenanntes „Design-Hotel“, die Idee aktuelles Design und Hospitality zu verbinden war zu der Zeit aktuell. Uns interessierte jedoch weniger, die nächste weiße modernistische Kiste mit bekannten Designer-Möbeln zu entwerfen, sondern zu hinterfragen, ob sich Design nicht eher auf eine bestimmte Atmosphäre bezieht. Viele werden das kennen: Manche Design-Hotels sind alles andere als einladend, sondern wirken kalt und elitär. Aufgrund dieser Gedanken und Eindrücke entwickelten wir Entwürfe, die das genaue Gegenteil darstellten: Räume, die nicht mehr für sich stehend Designobjekte sein wollen, sondern die auf Nutzer:innen zu reagieren scheinen; Räume, die förmlich erzählen, dass die verantwortlichen Architekt:innen Lust darauf haben, dass sie genutzt und erobert werden. In vielen Projekten greift ihr auf organische Formen zurück – ganz im Gegenteil zur weit verbreiteten scharfkantigen Architektur. Ihr sagtet einmal, dass sich in der Natur kein rechter Winkel finden lässt. Findet dahingehend mittlerweile eine Veränderung in der architektonischen Praxis statt? Das ist eine sehr gute Frage. Wir beobachten diese Veränderungstendenzen schon seit Jahrzehnten. Doch zunächst: Organische Formen haben in der Architektur eine lange Tradition – angefangen beim römischen Barock und dann sehr offensichtlich während der Barockzeit in Italien, dann in ganz Europa im 16./17. Jahrhundert. Auch im Jugendstil oder der frühen Moderne tauchten organische Formen immer wieder auf. Architektur als etwas zu betrachten, das Organik als Ausgangspunkt nimmt und dem scheinbar eine spezielle Kraft innewohnt, ist also per se keine neue Idee. Und genau dieser Gedanke fasziniert mich und uns seit jeher. Den echten Durchbruch schafft diese Idee allerdings meiner Meinung nach erst heute durch die Entwicklung computergestützter Entwurfsmethoden. Im Zuge der Einführung von CAD Ende der 80er-Jahre bzw. Anfang der 90er-Jahre wurde der Traum virtuell gestaltete Skulpturen in die Realität zu übertragen immer greifbarer. Genau diese neuen Möglichkeiten zogen uns übrigens auch nach L.A., wo wir dann auch unser Büro eröffneten. An den Universitäten in Deutschland arbeitete man zu dieser Zeit noch mit Tuschezeichnungen und Bleistift. L.A. war für uns wie die Entdeckung einer neuen Welt und neuer Möglichkeiten. Inwiefern hat diese neue virtuelle Welt dein Verständnis von Architektur verändert? Diese neuen Programme waren Katalysatoren und faszinierende Tools, um dynamisch Gestalt zu geben, Materie Leben einzuhauchen und Architektur am Menschen zu orientieren. Für mich ist Architektur aber erst dann spannend – und hier möchte ich zum Glücksempfinden zurückkehren – wenn sie in ihrer Gestalt nicht nur ein bestimmtes organisches Objekt imitiert, sondern darüber hinaus auch noch einen Dialog mit den Nutzer:innen führt. Was, wenn sie erst durch diese Interaktion ihre spezifische Form erhält? Was, wenn eine runde Form nicht nur dadurch entsteht, weil ein Architekt sie chic findet, sondern weil sie sich aus dem Dialog mit dem Nutzer ergibt, der sich im Raum bewegt?

Das ist sehr abstrakt – kannst du das konkretisieren? Gern. Als Echo der Bewegung im Raum kann Architektur z.B. dem Bedürfnis nach Schutz, Privatsphäre oder Öffentlichkeit Rechnung tragen – sei es in Form von Nischen oder sehr offen gestalteten Räumen und Flächen. Nehmen wir z.B. das von uns gestaltete Hotel Old Mill in Belgrad. Im Foyer gibt es eine große Wand aus horizontal gelagerten, sandfarbigen Schichten mit sehr feiner Linienführung. Sie bildet einen starken Kontrast zu der gegenüberliegenden Backsteinwand. An einigen Stellen wölbt sich diese von uns neu gestaltete Wand hervor. Hierdurch entstehen Nischen und niedrigere, privatere Zonen – z.B. dort wo der Rezeptionscounter verortet ist. An anderen Stellen entstehen Ausbuchtungen, die explizit in den Innenraum ragen. Sie bilden Sofalandschaften, die zum Verweilen einladen. Diese Architektur ist im Dialog mit den Nutzer:innen. Sie fragt: Willst du gesehen werden oder brauchst du mehr Privatheit? Was ist dein Bedürfnis? Rückzug oder Exponiertheit? Sie verlangt regelrecht eine Reaktion – auch wenn sie auf den ersten Blick vielleicht „nur“ als ansprechende Gestaltung eines Raumes wahrgenommen wird. Insofern kann man anhand von Architektur die Szenografie im Raum ablesen; sie fungiert wie ein Bühnenbild, das zum Theaterstück passen muss. Viele unserer Architekturen basieren auf genau solchen Gedanken. Ein Gebäude, das offensichtlich zu sehr verschiedenen Reaktionen führt, ist das Berliner ICC, für das auch ihr eine Zukunftsvision (M:ICC) vorgelegt habt. Während sich viele über die Zukunft des oppulenten „Raumschiff“ uneinig sind, sagt ihr, das Haus habe eine bemerkenswerte Energie. Es sei ein Schatz, den es zu heben gilt. Übersehen die Kritiker:innen, dass mitten in Berlin das Glück auf der Straße liegt? Das ICC ist v.a. ein sehr gutes Beispiel dafür, wie Gebäude aufgrund von individuellen Erinnerungen oder Erzählungen ganz unterschiedliche Bilder und Reaktionen hervorrufen – positive wie negative. Es beweist, dass es offensichtlich nicht nur eine objektive, rational vernünftige Debatte über Architekturgeschichte gibt, sondern viele kleine subjektive Diskussionen über Wirkung, das Narrativ und die vermeintlichen Botschaften. Genau in diesem Spannungsfeld steht das ICC: Die Kritik kommt von Betrachter:innen, die meiner Meinung nach im ICC Botschaften lesen, die an sich gar nichts mit dem Haus zu tun haben; z.B. dass es ein Konkurrent zum Palast der Republik ist. Ja, vielleicht war es in gewisser Weise die Antwort Westberlins auf den Palast der Republik. Diese Diskussionen zeigen auf jeden Fall, dass es zu dieser Zeit ein Ringen zwischen Ost und West gab. Abgesehen davon gibt es natürlich auch die Fraktion, für die das ICC stilistisch nicht „passt“. Auch solch eine geschmackliche Debatte hat ihre Berechtigung. Nimmt man aber eine neutralere Position ein und analysiert das ICC kommt man zu einem ganz anderen Schluss: Denn es ist erstaunlich, wie es Berlin in den 70er Jahren – also inmitten des Konflikts zwischen Ost und West – geschafft hat, in Form des ICC einen beispiellosen Zukunftsglauben und Optimismus in die Welt zu kommunizieren. Es steht sinnbildlich für das klare Statement „Wir laden die Welt zu uns ein…in unser Raumschiff!“. Und vielleicht ist es sogar eine Metapher für ganz West-Berlin gewesen, das sich trotz der schwierigen politischen Situation nicht unterkriegen lassen wollte und ein Lebensmodell postulierte, das immer im Blick nach vorne verankert war.

Wir wagen heute sogar zu behaupten, dass das ICC vielleicht der größte oder gar letzte Ausbruch dieser Art von Optimismus, Hoffnung und Zukunftsvertrauen war. Und genau dies anzuerkennen – dafür werben wir. Dass diese Sichtweise manche nicht teilen können, liegt daran, dass wir uns gegenwärtig in einer sehr selbstkritischen Phase befinden: Wir lamentieren, wälzen Probleme und sind übervorsichtig. Meiner Meinung nach sind viele nicht dazu in der Lage, in solchen Zusammenhängen einmal die eigenen Interessen und Befindlichkeiten hintenan zu stellen und stattdessen mit Offenheit und Freude in die Zukunft zu blicken. Wie wichtig wäre es, die Welt wieder zu uns einzuladen und gemeinsam über Zukunft zu diskutieren, anstatt in Diktaturen darüber entscheiden zu lassen? Welche Wirkung könnte das ICC denn auf den umliegenden Stadtraum haben? Mit dieser Frage beschäftigen wir uns auch sehr intensiv. Wir möchten das ICC nicht mehr als isoliertes, für sich stehendes Gebäude betrachten. Das ist insofern schwierig, weil es mit seinen 200.000 Quadratmetern Nutzfläche, ein echter Koloss ist. Diesen wieder zum Leben zu erwecken, ist schon herausfordernd genug. Trotzdem muss auch darüber nachgedacht werden, wie das Messeumfeld eingebunden und reaktiviert werden kann. Hauptaugenmerk muss hier auf der Schließung der Verkehrsschneise zwischen dem Messegelände und Charlottenburg//Wilmersdorf liegen. Diskussionen gibt es auch zu dem südlich angrenzenden Stadt Eingang City West, d.h. zum Umbau des Avus Autobahn Dreiecks, dem Bahnhofs Westkreuz und einer dichteren Bebauung. Und auch nach Norden, Richtung Tegel, sollte man das Stadtentwicklungspotenzial weiterdenken: Hier wäre z.B. eine Deckelung der abgesenkten Fahrstraßen ein Ausgangspunkt für die Notwendige Vernetzung der Stadtteile. Hierdurch entstünden neue grüne Freiräume mitten in der Stadt. Du siehst – das Wirkungspotenzial ist riesig! Und entsprechend hoch werden auch die benötigten Investitionssummen sein. Doch davon abgesehen: Wie steht es um den Spirit – ist Berlin mutig genug für so ein Projekt? Ich denke, wir unterschätzen die Kraft der hier unter der Oberfläche schlummernden Sehnsucht danach, zu sehen, was die Stadt noch alles kann. All diejenigen, die diese Sehnsucht in sich spüren und an die Stadt glauben, müssen sich noch viel stärker vernetzen und dürfen sich von Kritiker:innen nicht ins Bockshorn jagen lassen. Denn: Eine der größten Risiken, die wir eingehen können, ist, denjenigen das Feld zu überlassen, die behaupten, dass ohnehin alles dem Untergang geweiht ist, und nur radikale, neue Konzepte Abhilfe verschaffen werden - Stichwort AfD. Was aus dieser Richtung angestrebt wird, ist kein Glück, sondern das Schüren von Hass. Das gilt natürlich nicht nur für Berlin, sondern für unsere gesamte Gesellschaft: Glück ist und darf nicht nur eine individuelle Einschätzung von dir oder mir sein, wie wir subjektiv Glück empfinden. Es braucht eine bewusste Debatte darüber, dass und wie wir Glück erzeugen wollen – dazu gehört ein respektvolles Miteinander genauso wie wirtschaftliche und andere gesellschaftliche Faktoren. Aufbruch gelingt nur dann, wenn sich viele optimistische und neugierige Menschen gemeinsam auf den Weg machen. Und auch nur so eine offene und heterogene Gesellschaft wird Berlin weiterbringen. Die good news: Berlin ist bereits ein großer melting pot internationaler,

sehr neugieriger, progressiv denkender Menschen. Das Problem ist lediglich, dass sich bislang die Berliner Politik nicht aus diesen Köpfen speist, sondern stattdessen aus einer provinziellen „Ursuppe“, die begrenzt zukunftstauglich ist. Das ist vielleicht die größte Herausforderung: Berlin muss den Spagat schaffen zwischen der Bedeutung als Metropole in der Welt bei gleichzeitiger Berücksichtigung und Wertschätzung der lokalen Kieze. Metropolen, die diesen Spagat schaffen, sind erfolgreich. Kannst du uns hierzu ein paar Beispiele nennen? Ganz hervorragend gelingt das Metropolen wie Rotterdam, Stockholm oder Kopenhagen. Kopenhagen ist ein großes Vorbild in puncto Stadtentwicklung auf unterschiedlichen Ebenen. Tolle Entwicklungen sehen wir aber auch in Außenbezirken mancher Mega-Metropolen, wie z.B. in New York: Brooklyn, Queens oder der nördliche Teil der Insel Manhattan gelingt die Balance. Eine Stadt wie Paris durchläuft ihren Umbau eher top down – oder salopp gesagt mit dem Brecheisen - aber immerhin durchaus erfolgreich. Lass uns einmal auf Quartiersentwicklungen schauen. In einem anderen Interview kritisierte mein Gesprächspartner, dass er in den zahlreichen Diskussionen um erfolgreiche Quartiere den Aspekt vermisst, Quartiere auch als Puzzlestücke eines großen Ganzen zu betrachten. Denken wir zu wenig über die Verbindung zwischen Quartier und Zentrum nach und ist das überhaupt noch state of the art? Es stimmt, dass es eine starke Rückbesinnung darauf gibt, sich mit seinem Kiez, seinem Viertel etc. zu identifizieren. Natürlich ist es angenehm die Dinge des täglichen Lebens unmittelbar vor der Haustür zu haben - Stichwort 15 Minuten Stadt, Stadt der kurzen Wege etc. Diese Auseinandersetzung ist übrigens auch förderlich für die Akzeptanz von Architektur und Stadtplanung. Dennoch kann ich die Kritik verstehen. Ich denke, als verantwortungsvolle Bürger:innen müssen wir uns immer auch fragen, welchen Beitrag wir zum großen Ganzen, also zur Metropole, leisten: Warum ist meine Stadt nicht nur mein Kiez, sondern auch im internationalen Kontext relevant? Ist sie attraktiv für die besten und kreativsten Köpfe, die in der internationalen Debatte um Nachhaltigkeit, Klimaschutz, Politik, Literatur, Kunst, Kultur usw. eine Stimme haben? Natürlich gibt es Städte, die weit entfernt sind von solchen Fragestellungen, vielleiht interessiert viele

Mit SOLARKIOSK haben GRAFT und Andreas Spiess ein Infrastrukturinstrument geschaffen, das direkt mit den Menschen vor Ort zusammenarbeitet und ihre Gemeinschaft entwickelt. 26

INTERVIEW

© Georg Schaumberger

Klingt für mich nach form follows user anstatt nach form follows function.


© Tobias Hein

z.B. um Kosteneinsparungen geht – auch genauso schnell damit einverstanden sind auf bestimmte Gestaltungselemente zu verzichten. Dass das Ergebnis dann anders aussieht als zuvor besprochen, ist irrelevant. In Europa machen wir viel häufiger die Erfahrung, zunächst das zweifelnde, zurückhaltende, skeptische Stirnrunzeln unserer Projektpartner:innen überwinden zu müssen. Sind sie von unseren Ideen überzeugt, darf dann der vorgeschlagene Weg auch nicht mehr verlassen werden. Daher ist es für uns sehr wichtig, die besonderen Qualitäten, wie z.B. auch den kulturellen Background unserer Partner zu kennen.

Im Foyer des Hotels Old Mill in Belgrad gestaltete GRAFT eine große Wand aus horizontal gelagerten, sandfarbigen Schichten mit sehr feiner Linienführung. Sie bildet einen starken Kontrast zu der gegenüberliegenden Backsteinwand.

das, was um sie herum passiert einfach nicht so sehr. Die Faszination von großen Metropolen liegt aber ja gerade in einem breiten Spektrum: dass sie einerseits dörfliche Strukturen anbieten und andererseits mit der gesamten restlichen Welt vernetzt sind.

sind wir später vielleicht konservative Nestbauer – und im weiteren Verlauf der, der sich noch einmal komplett neu erfindet. Der Ausdruck einer heterogenen Lebensumgebung ist meiner Meinung nach der echte der Ausdruck von Freiheit.

Die Welt schaut z.B. nicht nur wegen der politischen Bedeutung auf Berlin, sondern auch wegen der hier ansässigen Kulturszene. Viele Menschen besuchen die Stadt wegen der Berliner Philharmoniker, dem besten Orchester der Welt. Solche Dinge sind nicht mehr Kiez-gesteuert, sondern haben mit metropolen Auffassungen zu tun. Das Verständnis für all das muss gefördert werden, weil wir wahrscheinlich davon ausgehen müssen, dass weder die Nationen noch einzelne Bündnisse oder sonst wer die Welt retten wird, sondern es künftig auf die vernetzte Welt der Metropolen ankommen wird; also auf die globalen Netzwerke zwischen den Großstädten, die führend sind in der Entwicklung von kreativen Ideen und technischen Lösungen für die Welt.

Und ist Freiheit nicht auch eine Form von Glück?

Zweifelsohne verändern sich unsere Maßstäbe. Wir sind, denken und leben vernetzter und globaler. Denkst du, der menschliche Maßstab wird dennoch weiterhin prägend sein wird für die Architektur?

Ja, diese Zwangssituation ist unser Alltag. Es gehört zu unserem Job, dass wir immer dann, wenn wir etwas Besonderes machen wollen, erst einmal versuchen, über ein Ziel hinauszuschießen. Nur so entsteht Neues! Diese Sehnsucht muss sich allerdings oft an schwierigen Rahmenbedingungen abarbeiten: an Ängsten der am Bau Beteiligten, an Genehmigungsbehörden oder Banken. Insofern ist es ein ständiges Ringen darum, neue Wege sowie neue Optionen und Möglichkeiten zu entdecken. Dieser Prozess ist anstrengend und freudvoll zugleich: Anstrengend, weil man ständig auf der Suche nach neuen Lösungen ist; und freudvoll, weil dadurch Wege entstehen, die man zuvor selbst nicht in Betracht gezogen hat. Ein bisschen mehr Geschwindigkeit würde ich mir dennoch in manchen Köpfen wünschen.

Was wir bauen, ist immer Ausdruck dessen, wie wir sind oder wie wir Gesellschaft lesen. Wenn wir es ernst meinen mit Gleichberechtigung zwischen Menschen jeder Natur und Herkunft, lasst uns auf allerhöchste Maßstäbe für Gleichheit in der Gesellschaft insistieren. Aber lass es mich knallhart formulieren: Wenn wir der Meinung sind, dass gleiche Rechte, gleiche Zugänge zu Ressourcen etc. dazu führen müssen, dass wir alle genau gleich definiert, also an einen bestimmten Maßstab gemessen werden, dann führt das zu einem inhumanen, gleichmacherischen, repetitiven, additiven, gesichtslosen Nebeneinander von objektivierbaren Menschen. Wir sind dann keine Individuen mehr, sondern nur noch irgendwelche Zahlen im Räderwerk der Geschichte. Warum? Weil derjenige, der den Maßstab vorgibt, letztlich auch die entsprechenden Regeln definiert und infolgedessen eine Macht- und Manipulationsfunktion einnimmt, die von dem Ideal nach Gleichheit gar nicht gedeckt ist. Anders gesagt: Gleichheit zeigt sich am besten in einem heterogenen, durchmischten, bunten Nebeneinander von unterschiedlichen Auffassungen. Sie erlauben uns, während unseres Lebens neue Perspektiven einzunehmen: In der Schule noch der verrückte Nerd,

Glück ist zumindest nahe an dem Gefühl der Freiheit bzw. Möglichkeit sich immer wieder neu erfinden und aus alten Bahnen ausbrechen zu können. Jede Debatte darüber, dass es bestimmte Regeln und ein bestimmtes „Maß“ gibt, also jeder Versuch Menschen in bestimmte Bilder und Muster zu pressen, führt meiner Meinung nach vom Glück weg. Und doch geht es auch nicht ganz ohne Kompromissbereitschaft. Gab es Situationen, wo ihr Kompromisse schließen musstet, die euch von eurem Glücks-Weg abgebracht haben?

Siehst du diesbezüglich einen Unterschied zwischen europäischen und amerikanischen Projektpartner:innen? Das kann ich nicht pauschal beantworten und es wäre unfair, alle über einen Kamm zu scheren. Es gibt Amerikaner, die sind deutscher als manche Deutsche und umgekehrt. Tendenziell haben wir allerdings öfter bei amerikanischen Projekten das Gefühl, dass die Bauherren am Anfang offener sind und sich viel leichter auf neue Themen und Gestaltungen einlassen. Diese Offenheit und Neugier aber auch damit einher geht, dass sie – wenn es

Ihr zeichnet euch auch durch hohes soziales Engagement aus. Mit euren sozialen Projekten kreiert ihr sozusagen Glücksorte für Menschen, die es vielleicht am dringlichsten brauchen. Welche Bedeutung hat das wiederum für das Feld der Architektur? Das ist eine sehr gute Frage, die in uns immer präsent war – sei es bei unserm Projekt in Afrika oder in in den USA in New Orleans. Uns ist aufgefallen bzw. aufgestoßen, dass - sobald es um die Gestaltung von Architektur in prekären Kontexten geht oder um die Erfüllung ganz fundamentaler Bedürfnisse, wie z.B. ein Dach über dem Kopf zu haben - die Debatte über Qualität über Bord geworfen wird. Platt gesagt: Ab dem Moment, in dem man helfen will, schwingt gleichzeitig der Gedanke mit, dass es nicht anspruchsvoll sein darf, weil nur begrenzte Mittel zur Verfügung stehen. Irgendwie ist dieser Reflex nachvollziehbar, aber wir haben uns gefragt: Müssen wir nicht gerade dann, wenn das Leben und der Alltag schon schwer genug ist, ganz besonderen Wert auf qualitativ hochwertige und gute Architektur legen? Unser Ansatz lautet seither: Design is not a first world privilege! Es kann nicht sein, dass ein Gestalter von vornherein seinen Entwurf weniger komplex oder schön ausarbeitet nur weil weniger Geld zur Verfügung steht! Genau aus diesem Grund haben wir z.B. bei Projekten wie unserem Solar Kiosk versucht, eine interessante, futuristische und sehr anspruchsvolle Kiste zu bauen; und eben nicht nur eine Lehmhütte oder anspruchslose Notlösung. Unsere Idee war eine Art Intervention, die auf Augenhöhe mit der „vernetzten Welt“ ist und eine respektvollere Auseinandersetzung mit den lokal Beteiligten. Ihr bringt Schönheit und Glück in einen Kontext, in dem diese Aspekte von Architektur sonst eher Mangelware sind. Das könnte bei uns auch spannend in der Diskussion um bezahlbaren Wohnraum sein, oder? Da hast du Recht. Überleg mal: Ein großer Teil der europäischen abendländischen Kulturentwicklung in der Moderne basiert auf genau diesen Gedanken. Die Bauhaus Moderne bzw. die Dessauer Zeit ging davon aus, dass eine industrielle Fertigung, also eine Serienfertigung, dazu führen kann, dass gutes Design erschwinglich ist. Dass im Nachhinein bestimmte Markt- und der Vertriebsmechanismen darin resultierten, dass hieraus teure Luxusobjekte wurden, war sicher nicht im Sinne der Gestalter:innen. Für uns war es immer wichtig, Design nicht als etwas Elitäres, sondern als etwas allgemein Zugängliches zu betrachten. Zu dem Thema könnten wir ein eigenes Interview führen. Zum Abschluss: Wie glücklich bist du genau in dieser Zeit, in der wir heute leben, den Beruf als Architekt ausüben zu können?

am richtigen Ort. Die o.g. Softewarentwicklung mitzuerleben – live vor Ort in L.A. - gehört auch dazu. Dazu gehören wir zu einer der ersten Generation, die als junge Menschen schon international arbeiten durften. Wir hatten gute Bauherren, durften in kurzer Zeit sehr viel lernen und hatten auch das Glück, mit unseren Projekten den Nerv der Zeit zu treffen. Dass wir nun auch für unser Büro, das mittlerweile 25 Jahre besteht, ein eigenes neues Headquarter bauen konnten, macht uns natürlich auch glücklich. Dazu wohnen und arbeiten wir auch noch alle zusammen unter einem Dach – auch keine Selbstverständlichkeit. Ich persönlich empfinde es außerdem als großes Glück wie heterogen wir arbeiten dürfen: Da jedes Projekt einzigartig ist, sind wir immer wieder aufs Neue vom Endergebnis fasziniert – und unsere Nutzer:innen hoffentlich auch. Unkonventionell sein zu dürfen ist schon ein echter Segen – das gilt, denke ich, für das gesamte GRAFT Team. Und was macht dich persönlich glücklich? Auch da gibt es mehrere Ebenen. Auf familiärer Ebene bin ich mit dem größten Glück ausgestattet, das ich mir vorstellen kann. Wenn ich nur mich betrachte, bedeutet für mich Glück, Momente zu erleben, in denen mir plötzlich bewusst wird, dass ich mich weiterentwickelt habe, und ein anderer Mensch geworden bin. Das sind für mich immer wieder sehr besondere Augenblicke: Auf der einen Seite ist man sich seiner Identität bewusst; doch dann tut sich da ein ganz neuer Aspekt, ein ganz neuer Teil Mensch auf – und dazwischen lernt man, was man unbedingt von sich behalten möchte. Diese Beharrungskräfte sind unglaublich stark. Es ist nicht immer leicht Veränderung zuzulassen. Hast du einen Tipp, wie dies dennoch gelingt? Am besten mithilfe großer Offenheit: für andere Strategien, andere Menschen, andere Architekten, Kollegen. Wenn man sich öffnet, um zu verstehen, warum sich jemand für etwas anderes begeistert, dann entstehen im Bestfall auch in einem selbst neue Ideen und Perspektiven. Die wichtigste Einsicht ist aber, dass all das, an dem man bis dato festgehalten hat, gar nicht der letzte Stein der Weisen ist. Insofern ist die Fähigkeit mit Offenheit durchs Leben zu gehen auch eine Form von Glück: Glück ist nichts, was du festhalten kannst. Für mich ist es ein dynamisches Phänomen, das mit dem Grundgefühl, einhergeht, dass viele Dinge möglich sind. Das ist ein schöner Abschlussgedanke. Vielen Dank für dieses Gespräch und vor allem viel Glück für alle weiteren Projekte und Vorhaben.

THOMAS WILLEMEIT studierte Architektur an der Technischen Universität Braunschweig und schloss 1997 als Diplom-Ingenieur in Architektur ab. Er nahm außerdem an der Meisterklasse Architektur und Städtebau am Bauhaus Dessau teil. Neben seiner Tätigkeit als Architekt gewann er zahlreiche nationale Preise als Violinist.

Mit Blick auf all das, was bis dato in meinem Leben passiert ist, kann ich in weiten Teilen nur von Glück reden. Im beruflichen Kontext waren Lars, Wolfram und ich einfach zur richtigen Zeit

INTERVIEW

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© Tobias Hein

z.B. um Kosteneinsparungen geht – auch genauso schnell damit einverstanden sind auf bestimmte Gestaltungselemente zu verzichten. Dass das Ergebnis dann anders aussieht als zuvor besprochen, ist irrelevant. In Europa machen wir viel häufiger die Erfahrung, zunächst das zweifelnde, zurückhaltende, skeptische Stirnrunzeln unserer Projektpartner:innen überwinden zu müssen. Sind sie von unseren Ideen überzeugt, darf dann der vorgeschlagene Weg auch nicht mehr verlassen werden. Daher ist es für uns sehr wichtig, die besonderen Qualitäten, wie z.B. auch den kulturellen Background unserer Partner zu kennen.

Im Foyer des Hotels Old Mill in Belgrad gestaltete GRAFT eine große Wand aus horizontal gelagerten, sandfarbigen Schichten mit sehr feiner Linienführung. Sie bildet einen starken Kontrast zu der gegenüberliegenden Backsteinwand.

das, was um sie herum passiert einfach nicht so sehr. Die Faszination von großen Metropolen liegt aber ja gerade in einem breiten Spektrum: dass sie einerseits dörfliche Strukturen anbieten und andererseits mit der gesamten restlichen Welt vernetzt sind.

sind wir später vielleicht konservative Nestbauer – und im weiteren Verlauf der, der sich noch einmal komplett neu erfindet. Der Ausdruck einer heterogenen Lebensumgebung ist meiner Meinung nach der echte der Ausdruck von Freiheit.

Die Welt schaut z.B. nicht nur wegen der politischen Bedeutung auf Berlin, sondern auch wegen der hier ansässigen Kulturszene. Viele Menschen besuchen die Stadt wegen der Berliner Philharmoniker, dem besten Orchester der Welt. Solche Dinge sind nicht mehr Kiez-gesteuert, sondern haben mit metropolen Auffassungen zu tun. Das Verständnis für all das muss gefördert werden, weil wir wahrscheinlich davon ausgehen müssen, dass weder die Nationen noch einzelne Bündnisse oder sonst wer die Welt retten wird, sondern es künftig auf die vernetzte Welt der Metropolen ankommen wird; also auf die globalen Netzwerke zwischen den Großstädten, die führend sind in der Entwicklung von kreativen Ideen und technischen Lösungen für die Welt.

Und ist Freiheit nicht auch eine Form von Glück?

Zweifelsohne verändern sich unsere Maßstäbe. Wir sind, denken und leben vernetzter und globaler. Denkst du, der menschliche Maßstab wird dennoch weiterhin prägend sein wird für die Architektur?

Ja, diese Zwangssituation ist unser Alltag. Es gehört zu unserem Job, dass wir immer dann, wenn wir etwas Besonderes machen wollen, erst einmal versuchen, über ein Ziel hinauszuschießen. Nur so entsteht Neues! Diese Sehnsucht muss sich allerdings oft an schwierigen Rahmenbedingungen abarbeiten: an Ängsten der am Bau Beteiligten, an Genehmigungsbehörden oder Banken. Insofern ist es ein ständiges Ringen darum, neue Wege sowie neue Optionen und Möglichkeiten zu entdecken. Dieser Prozess ist anstrengend und freudvoll zugleich: Anstrengend, weil man ständig auf der Suche nach neuen Lösungen ist; und freudvoll, weil dadurch Wege entstehen, die man zuvor selbst nicht in Betracht gezogen hat. Ein bisschen mehr Geschwindigkeit würde ich mir dennoch in manchen Köpfen wünschen.

Was wir bauen, ist immer Ausdruck dessen, wie wir sind oder wie wir Gesellschaft lesen. Wenn wir es ernst meinen mit Gleichberechtigung zwischen Menschen jeder Natur und Herkunft, lasst uns auf allerhöchste Maßstäbe für Gleichheit in der Gesellschaft insistieren. Aber lass es mich knallhart formulieren: Wenn wir der Meinung sind, dass gleiche Rechte, gleiche Zugänge zu Ressourcen etc. dazu führen müssen, dass wir alle genau gleich definiert, also an einen bestimmten Maßstab gemessen werden, dann führt das zu einem inhumanen, gleichmacherischen, repetitiven, additiven, gesichtslosen Nebeneinander von objektivierbaren Menschen. Wir sind dann keine Individuen mehr, sondern nur noch irgendwelche Zahlen im Räderwerk der Geschichte. Warum? Weil derjenige, der den Maßstab vorgibt, letztlich auch die entsprechenden Regeln definiert und infolgedessen eine Macht- und Manipulationsfunktion einnimmt, die von dem Ideal nach Gleichheit gar nicht gedeckt ist. Anders gesagt: Gleichheit zeigt sich am besten in einem heterogenen, durchmischten, bunten Nebeneinander von unterschiedlichen Auffassungen. Sie erlauben uns, während unseres Lebens neue Perspektiven einzunehmen: In der Schule noch der verrückte Nerd,

Glück ist zumindest nahe an dem Gefühl der Freiheit bzw. Möglichkeit sich immer wieder neu erfinden und aus alten Bahnen ausbrechen zu können. Jede Debatte darüber, dass es bestimmte Regeln und ein bestimmtes „Maß“ gibt, also jeder Versuch Menschen in bestimmte Bilder und Muster zu pressen, führt meiner Meinung nach vom Glück weg. Und doch geht es auch nicht ganz ohne Kompromissbereitschaft. Gab es Situationen, wo ihr Kompromisse schließen musstet, die euch von eurem Glücks-Weg abgebracht haben?

Siehst du diesbezüglich einen Unterschied zwischen europäischen und amerikanischen Projektpartner:innen? Das kann ich nicht pauschal beantworten und es wäre unfair, alle über einen Kamm zu scheren. Es gibt Amerikaner, die sind deutscher als manche Deutsche und umgekehrt. Tendenziell haben wir allerdings öfter bei amerikanischen Projekten das Gefühl, dass die Bauherren am Anfang offener sind und sich viel leichter auf neue Themen und Gestaltungen einlassen. Diese Offenheit und Neugier aber auch damit einher geht, dass sie – wenn es

Ihr zeichnet euch auch durch hohes soziales Engagement aus. Mit euren sozialen Projekten kreiert ihr sozusagen Glücksorte für Menschen, die es vielleicht am dringlichsten brauchen. Welche Bedeutung hat das wiederum für das Feld der Architektur? Das ist eine sehr gute Frage, die in uns immer präsent war – sei es bei unserm Projekt in Afrika oder in in den USA in New Orleans. Uns ist aufgefallen bzw. aufgestoßen, dass - sobald es um die Gestaltung von Architektur in prekären Kontexten geht oder um die Erfüllung ganz fundamentaler Bedürfnisse, wie z.B. ein Dach über dem Kopf zu haben - die Debatte über Qualität über Bord geworfen wird. Platt gesagt: Ab dem Moment, in dem man helfen will, schwingt gleichzeitig der Gedanke mit, dass es nicht anspruchsvoll sein darf, weil nur begrenzte Mittel zur Verfügung stehen. Irgendwie ist dieser Reflex nachvollziehbar, aber wir haben uns gefragt: Müssen wir nicht gerade dann, wenn das Leben und der Alltag schon schwer genug ist, ganz besonderen Wert auf qualitativ hochwertige und gute Architektur legen? Unser Ansatz lautet seither: Design is not a first world privilege! Es kann nicht sein, dass ein Gestalter von vornherein seinen Entwurf weniger komplex oder schön ausarbeitet nur weil weniger Geld zur Verfügung steht! Genau aus diesem Grund haben wir z.B. bei Projekten wie unserem Solar Kiosk versucht, eine interessante, futuristische und sehr anspruchsvolle Kiste zu bauen; und eben nicht nur eine Lehmhütte oder anspruchslose Notlösung. Unsere Idee war eine Art Intervention, die auf Augenhöhe mit der „vernetzten Welt“ ist und eine respektvollere Auseinandersetzung mit den lokal Beteiligten. Ihr bringt Schönheit und Glück in einen Kontext, in dem diese Aspekte von Architektur sonst eher Mangelware sind. Das könnte bei uns auch spannend in der Diskussion um bezahlbaren Wohnraum sein, oder? Da hast du Recht. Überleg mal: Ein großer Teil der europäischen abendländischen Kulturentwicklung in der Moderne basiert auf genau diesen Gedanken. Die Bauhaus Moderne bzw. die Dessauer Zeit ging davon aus, dass eine industrielle Fertigung, also eine Serienfertigung, dazu führen kann, dass gutes Design erschwinglich ist. Dass im Nachhinein bestimmte Markt- und der Vertriebsmechanismen darin resultierten, dass hieraus teure Luxusobjekte wurden, war sicher nicht im Sinne der Gestalter:innen. Für uns war es immer wichtig, Design nicht als etwas Elitäres, sondern als etwas allgemein Zugängliches zu betrachten. Zu dem Thema könnten wir ein eigenes Interview führen. Zum Abschluss: Wie glücklich bist du genau in dieser Zeit, in der wir heute leben, den Beruf als Architekt ausüben zu können?

am richtigen Ort. Die o.g. Softewarentwicklung mitzuerleben – live vor Ort in L.A. - gehört auch dazu. Dazu gehören wir zu einer der ersten Generation, die als junge Menschen schon international arbeiten durften. Wir hatten gute Bauherren, durften in kurzer Zeit sehr viel lernen und hatten auch das Glück, mit unseren Projekten den Nerv der Zeit zu treffen. Dass wir nun auch für unser Büro, das mittlerweile 25 Jahre besteht, ein eigenes neues Headquarter bauen konnten, macht uns natürlich auch glücklich. Dazu wohnen und arbeiten wir auch noch alle zusammen unter einem Dach – auch keine Selbstverständlichkeit. Ich persönlich empfinde es außerdem als großes Glück wie heterogen wir arbeiten dürfen: Da jedes Projekt einzigartig ist, sind wir immer wieder aufs Neue vom Endergebnis fasziniert – und unsere Nutzer:innen hoffentlich auch. Unkonventionell sein zu dürfen ist schon ein echter Segen – das gilt, denke ich, für das gesamte GRAFT Team. Und was macht dich persönlich glücklich? Auch da gibt es mehrere Ebenen. Auf familiärer Ebene bin ich mit dem größten Glück ausgestattet, das ich mir vorstellen kann. Wenn ich nur mich betrachte, bedeutet für mich Glück, Momente zu erleben, in denen mir plötzlich bewusst wird, dass ich mich weiterentwickelt habe, und ein anderer Mensch geworden bin. Das sind für mich immer wieder sehr besondere Augenblicke: Auf der einen Seite ist man sich seiner Identität bewusst; doch dann tut sich da ein ganz neuer Aspekt, ein ganz neuer Teil Mensch auf – und dazwischen lernt man, was man unbedingt von sich behalten möchte. Diese Beharrungskräfte sind unglaublich stark. Es ist nicht immer leicht Veränderung zuzulassen. Hast du einen Tipp, wie dies dennoch gelingt? Am besten mithilfe großer Offenheit: für andere Strategien, andere Menschen, andere Architekten, Kollegen. Wenn man sich öffnet, um zu verstehen, warum sich jemand für etwas anderes begeistert, dann entstehen im Bestfall auch in einem selbst neue Ideen und Perspektiven. Die wichtigste Einsicht ist aber, dass all das, an dem man bis dato festgehalten hat, gar nicht der letzte Stein der Weisen ist. Insofern ist die Fähigkeit mit Offenheit durchs Leben zu gehen auch eine Form von Glück: Glück ist nichts, was du festhalten kannst. Für mich ist es ein dynamisches Phänomen, das mit dem Grundgefühl, einhergeht, dass viele Dinge möglich sind. Das ist ein schöner Abschlussgedanke. Vielen Dank für dieses Gespräch und vor allem viel Glück für alle weiteren Projekte und Vorhaben.

THOMAS WILLEMEIT studierte Architektur an der Technischen Universität Braunschweig und schloss 1997 als Diplom-Ingenieur in Architektur ab. Er nahm außerdem an der Meisterklasse Architektur und Städtebau am Bauhaus Dessau teil. Neben seiner Tätigkeit als Architekt gewann er zahlreiche nationale Preise als Violinist.

Mit Blick auf all das, was bis dato in meinem Leben passiert ist, kann ich in weiten Teilen nur von Glück reden. Im beruflichen Kontext waren Lars, Wolfram und ich einfach zur richtigen Zeit

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