Kunst – Museum – Utopie

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THEMA: ZUKUNFT KULTURPOLITIK

Kunst – Museum – Utopie Fünf Thesen Michael Fehr

Dr. Michael Fehr leitet das Karl Ernst OsthausMuseum in Hagen (Westfalen)

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I. Wirklichkeit – Realität – Fiktion bleiben. Ist demnach die Konstruktion einer Realität Wenn man mit den Radikalen Konstruktivisten immer nur um den Preis der Fiktionalisierung eines Wirklichkeit als dasjenige definiert, das sich unse- Teils der Wirklichkeit oder einer anderen Realität zu rem Einfluss grundsätzlich entzieht, so kann Reali- haben, so kann das Fiktionalisierte ein das Realistität als dasjenige definiert werden, was wir über die sche übersteigendes Potenzial oder seine AlternatiWirklichkeit mit unseren Sinnen erfahren können ve repräsentieren – das, was möglich ist oder möglich und in unseren Gehirnen zu mehr oder weniger sein könnte, und das, was das Realistische eben nicht konsistenten Konstrukten verarbeiten. Indem wir ist oder sein kann. diese Konstrukte zur Grundlage unseres Handelns Realität und Fiktion gehören daher nicht nur wie machen, erscheinen sie aber besonders da, wo sie die zwei Seiten einer Medaille zusammen, sondern vergegenständlicht und beispielsweise in Appara- stehen in einem dialektischen Bezug zueinander: ten, Bauten, Organisationen oder theoretischen Ge- Indem Fiktionen den Rahmen sprengen, innerhalb bäuden dinglichen Charakter annehmen, selbst derer realistische Konstruktionen errichtet werden, wiederum als Wirklichkeit, als zweite Natur. Diese stellt ihre Entwicklung eine Möglichkeit dar, die zweite Natur unterscheidet sich von der ersten Bedingungen von Realitätskonstruktionen zur Anallerdings nicht nur dadurch, dass sie jene zur schauung bringen. Voraussetzung hat und von uns gemacht ist, sondern vor allem auch durch ihren relativen Charak- II. Utopisches und museales Bewusstsein ter: Denn weil wir in der Wirklichkeit unterschied- Museen haben gewöhnlich eine andere Realität liche Erfahrungen machen und unsere Gehirne die- zum Gegenstand als diejenige, der sie sich selbst se Erfahrungen individuell ververdanken. Diese Grundarbeiten, erleben und bearbei- Realität und Fiktion gehören nicht nur struktur teilt das Museum – ten wir Wirklichkeit auf verals Konstruktion verstanden wie die zwei Seiten einer Medaille schiedene Weise und konstruie– mit der Utopie, von der ren infolge dessen mehr oder zusammen, sondern stehen in einem Thomas Nipperdey sagte, sie weniger unterschiedliche Reasei »ein literarisch-theoretidialektischen Bezug zueinander. litäten. scher Entwurf einer mögliObwohl es deshalb die Realichen Welt, der bewusst die tät nicht geben kann, wird von der realistischen eine Grenzen und Möglichkeiten einer jeweiligen Wirkandere Form der Konstruktion über Wirklichkeit, die lichkeit (übersteige) und eine substantiell andere Fiktion, gewöhnlich klar unterschieden, weil ihr Welt (anziele), die sich durch ein hohes Maß von entweder eine Wirkungsmöglichkeit abgesprochen Vollendung (auszeichne).«1 Wenn nun das klassiwird oder weil sie als so angelegt erscheint, dass aus sche, historisch argumentierende Museum im Geihr keine wirksamen Handlungen folgen können. gensatz zur Utopie gerade nicht mit ›WunschzeiRealistische und fiktive Konstrukte über die Wirk- ten‹ oder ›Wunschräumen‹ (Alfred Doren), sondern lichkeit, Fakten und Fiktionen, sind jedoch keine mit realen Dingen aus bestimmten Leben an beGegensätze, sondern in der Tat nur unterschiedliche stimmten Orten beschäftigt ist, so bleibt doch verFormen, wie wir mit dem fragmentarischen Charak- gleichbar, das es in beiden Ansätzen um die Konter unserer Erfahrungen umgehen. Denn die Kon- struktion von Realitäten geht, die hier und jetzt struktion einer Realität ist nur mit Hilfe von Rah- nicht sind: Ähnlich wie das ›utopische‹ Bewusstmungen zu bewerkstelligen, aufgrund derer bestimm- sein‹ (Karl Mannheim) Wunschbilder hervorbringt, te Erfahrungen über die Wirklichkeit eingegrenzt die in einem dialektischen Verhältnis zu der Realiund zum Material für entsprechende Konstrukte tät stehen, aus der sie stammen, produziert das werden, andere jedoch als für solche Konstrukte klassische museale Bewusstsein Bilder vergangewirkungslos betrachtet werden und ausgeschlossen ner Zeiten, versunkener Kulturen oder ferner Wel-

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ten, die in dem Maße an Bedeutung gewinnen können, wie sie die Verhältnisse, in denen sich das Museum selbst befindet, transzendieren. Utopisches und museales Bewusstsein sind demnach unterschiedliche Formen von Fiktionen und unterscheiden sich nicht strukturell, sondern vor allem durch den prospektiven beziehungsweise retrospektiven Charakter ihrer jeweiligen Konstrukte mit Bezug auf die Realität, innerhalb der sie konstruiert werden. bar gemacht werden kann. Andererseits ist hier zu beachten, dass je konkreter und detaillierter ein solches System definiert wird, es desto leichter kritisierbar wird und eben aufgrund solcher Details insgesamt zurückgewiesen werden kann. Die einzige Möglichkeit, diesem Dilemma zu entgehen, scheint mir darin zu bestehen, das utopische System als eine Operation definieren, mit deren Hilfe die bestehende Realität nicht nur beobachtet, sondern durch die darüber hinaus die in ihr angelegten Tendenzen, sich selbst zu überwinden, herausgearbeitet werden können.

III. Utopie als Beobachtung 2. Ordnung Utopisches Denken war und ist eine Form und Art des Denkens, die grundlegend mit den Prämissen dessen übereinstimmt, was wir heute als Systemtheorie bezeichnen. Den Termini der Systemtheorie folgend, möchte ich utopisches Denken als eine spezifische Form der Beobachtung Zweiter Ordnung charakterisieren: als die prospektive oder auch spekulative Beobachtung Zweiter Ordnung einer bestehenden Welt. Die prospektive oder spekulative Beobachtung Zweiter Ordnung kann allerdings keine rein akademische Beobachtung sein, sondern ist per definitionem eine Form des IV. Kunst und Utopie reflexiven Handelns: Und zwar sowohl eine Refle- Das Herstellen von Bildern und Objekten ist eine xion dessen, was beobachtet wird, als auch eine klassische Operation im Sinne der Systemtheorie Reflexion der Tatsache, dass das, was beobachtet und kann als ein Modell für den Prozess verstanden wird, nicht dem entspricht, was werden, wie aus der Wirklichder Beobachter zu beobachten keit eine Realität hervorgewünscht. Sich auf das Risiko Als Medium der Erfahrung und als bracht werden kann. Denn als einzulassen, diese Dynamik Form ihrer Vergegenständlichung ist Medium der Erfahrung und als weiter zu entwickeln, sie mit Form ihrer Vergegenständliein Bild immer ein Weltentwurf. einer Form zu versehen und mit chung ist ein Bild immer ein Inhalten zu füllen: das kann die Weltentwurf: ein konkreter Basis für ein zeitgemäßes utopisches Denken sein. Versuch, aus dem Fluss der Erfahrung ein Bild der Auch das utopische Denken ist durch das dialek- Wirklichkeit zu gewinnen. Die Fotografie, in der tische Verhältnis zwischen dem fragmentarischen diese Operation zu einem einfach handhabbaren Charakter unserer Erfahrungen und der Tendenz – Verfahren entwickelt wurde, mag für diesen Prozess wenn nicht gar dem Zwang – unseres Gehirns, aus ein Beispiel sein. diesen Erfahrungen ein wie auch immer sinnvolles Doch nur im Kunstwerk wird dieser Prozess zu Konzept zu formulieren, bestimmt: Ein utopisches einer bewussten Operation des Selbst oder, mit Konzept bedarf einer bestimmten Konkretheit und anderen Worten gesagt, zu einer reflexiven KonKonsistenz, um von einer bestehenden Welt unter- struktion, die die Bedingungen ihrer Welterkenntschieden werden zu können, oder – um es in der nis in ihrem Weltbild selbst zur Anschauung zu Terminologie der Systemtheorie zu formulieren – bringen vermag. In der Differenz zwischen Bildhat ein Regelwerk aufzustellen und zu beschreiben, stoff und Bild, in der Differenz zwischen dem beaufgrund dessen ein autopoietisches oder selbstre- deutungslosen materiellen, physischen Bestand produzierendes System konstituiert und wahrnehm- eines Bildes (dem Bildträger, der Farbe und ihrer

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Salon de Fleurus, New York, o.T., Ölskizze Karl Ernst Osthaus in seinem Arbeitszimmer auf dem Hohenhof, im Kreise seiner realisierten und nicht realisierten Utopien, darunter die Künstlersiedlung ›Stirnband‹ von Lauweriks, das Museum Folkwang Hagen, die Arbeitersiedlung Walddorf von Riemerschmid und die Folkwang-Schule von Bruno Taut

1 Thomas Nipperdey, Die Funktion der Utopie im politischen Denken der Neuzeit, in: Archiv für Kulturgeschichte 44, 1962, 357378

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IRWIN, Ljubljana »East Art Map« (2002) Webpage, Installation und Netzwerkprojekt. Eine alternative und offene Geschichte der osteuropäischen Kunst seit 1945 auf der Basis eines Netzwerkprojekts

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praktische Funktion verloren – und werden sie in dem Maße weiter verlieren, wie die elektronischen Medien zur Standardausrüstung der Haushalte in den informationellen Gesellschaften werden: Ähnlich wie Bibliotheken und Archive, werden Museen immer weniger als primäre Wissensquellen und Wissensspeicher benötigt, sondern stellen – vergleichbar den Goldreserven für die Währungen – nur mehr die materiellen Referenzwerte für von ihnen abgezogene, frei flottierende WissenseleBearbeitung), und dem bedeutungsvollen Bild, das mente dar. Diese Entwicklung scheint mir die in Wahrnehmung dieses Bestandes durch einen objektive Bedingung für einen ParadigmenwechBetrachter entstehen kann, ist diese besondere Struk- sel im Hinblick auf die zukünftige Rolle der Mutur präsent und erlebbar. Ihre Wahrnehmung setzt seen zu sein. eine aktive Reproduktionsfähigkeit des BetrachWenn das klassische, historisch orientierte Muters voraus, und kann im übrigen nur da erwartet seum schon immer ein Ort gewesen ist, an dem es werden, wo das Bild selbst dem Betrachter Ansatz- zumindest theoretisch möglich war, verschiedene punkte für die Eigenaktivität bietet. Dies ist bei Weltentwürfe und Weltbilder zu vergleichen, so ist Produkten von technischen Bildherstellungsver- es jedoch bisher kaum als ein Ort verstanden worfahren grundsätzlich nicht den, an dem die Bedingungen ihder Fall. Denn sie können in rer Konstruktion systematisch der Betrachtung nicht repro- Ähnlich wie Bibliotheken und Archive, untersucht werden können. Eben duziert, sondern nur als gedarin besteht jedoch eine besongebener Bestand, als zweite werden Museen immer weniger als dere Chance für die WeiterentNatur rezipiert, also emp- primäre Wissensquellen und Wissens- wicklung der Museumsidee und fangen werden. der Rehabilitation der altehrwürBilder, in denen die Be- speicher benötigt, sondern stellen digen Häuser in der Mediengedingungen der Konstrukti- nurmehr die materiellen Referenzwerte sellschaft: Indem sie nicht länger on einer Realität zur Anals Wissensspeicher, sondern als schauung gebracht wird, für von ihnen abgezogene frei flottie- Orte konzipiert werden, an denen können keinen, im oben dedie Bedingungen der Herstellung rende Wissenselemente dar. finierten Sinne realistischen von vorhandenem Wissen ebenso Charakter haben und wären dargestellt und erfahrbar wie sie insoweit zum Beispiel als Handlungsanleitungen zu Räumen gemacht werden, die der Konstruktion grundsätzlich missverstanden. Solche Bilder ha- von Realitäten gewidmet sind, die in den Massenben vielmehr immer fiktiven Charakter. Dass wir sie medien keinen Platz finden oder unter ihren Bedinals aus der Wirklichkeit: aus der Materie und ihrer gungen nicht hergestellt werden können. Dies aber Bearbeitung gewonnene Konstruktionen einer Re- bedeutet, dass die Museen die Fiktion von Objekalität wahrnehmen können, die die Bedingungen tivität aufgeben müssen und ihre Chance in ihrer ihrer Herstellung übersteigt und darüber hinaus Individualisierung, in einem jeweils spezifischen ihre Faktur zu erkennen gibt, macht sie zu konkre- Umgang mit den in ihnen bewahrten Realien erkenten Utopien. nen und aus sich heraus ihre jeweils eigenen Konstrukte über die Wirklichkeit erschaffen. Mit einem V. Das Museum als Ort des Utopischen Wort: Nur wenn die Museen ihre realistische FunkSo wie die Bildende Künste vor rund einhundert- tion aufgeben und sich zu Orten der Fabrikation fünfzig Jahren, haben die Museen zuerst mit der von Fiktionen machen, die das jeweils Gegebene Verbreitung der technischen Bildherstellungsver- wie immer übersteigen, haben sie, zumindest meifahren und jetzt mit der rasanten Entwicklung der ner Auffassung nach, eine Chance, sich das InteresMassenmedien und des Internet ihre realistisch- se des Publikums auf Dauer zu erhalten.

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