Die Vintschgau-Bahn Meran-Mals

Page 1

Die

Vintschgau-Bahn Meran-Mals

THEODOR CHRISTOMANNOS GIANLUCA NORCIA


EINLEITUNG DER AUTOR DIESES BUCHES IST THEODOR CHRISTOMANNOS, DER 1854 IN WIEN (DAMALS HAUPTSTADT DES ÖSTERREICHISCHEN KAISERREICHS) IN EINE WOHLHABENDE FAMILIE GRIECHISCH-MAZEDONISCHER ABSTAMMUNG GEBOREN WURDE UND DER GRIECHISCHORTHODOXEN RELIGION ANGEHÖRT. SEIN VATER WAR EIN WOHLHABENDER KAUFMANN, WÄHREND SEINE MUTTER AUS EINER BANKIERSFAMILIE IM DIENSTE DER MONARCHIE STAMMTE. IM WINTER ZWISCHEN


1872 UND 1873 HIELT ER SICH IN GRIES AUF UND BEGLEITETE SEINE MUTTER ZUR REKONVALESZENZ; DANACH BLIEB THEODOR IN BOZEN UND BESUCHTE DAS FRANZISKANERGYMNASIUM UND SPÄTER DIE UNIVERSITÄT: ER BEGANN EIN MEDIZINSTUDIUM, DAS ER JEDOCH NACH EINER VERWUNDUNG AN DER RECHTEN HAND WÄHREND EINES DUELLS AUFGEBEN MUSSTE UND WECHSELTE DARAUFHIN ZU DEN RECHTSWISSENSCHAFTEN; NACH SEINEM ABSCHLUSS 1884 LIESS ER SICH IN MERAN NIEDER UND ARBEITETE ALS RICHTER UND RECHTSANWALT; 1887 STARB SEIN VATER UND THEODOR ERBTE DAS GROSSE FAMILIENVERMÖGEN. SCHON DAMALS WAR CHRISTOMANNOS

5


EIN LEIDENSCHAFTLICHER BERGSTEIGER, DER SICH SEHR FÜR DIE ENTWICKLUNG DES HOCHGEBIRGS TOURISMUS INTERESSIERTE. ALS 1890 DER GIOVERETTO-SEE ÜBERFLUTET WURDE, ZEICHNETE ER SICH DADURCH AUS, DASS ES IHM GELANG, HUNDERTE VON EINWOHNERN IN DIE ORGANISATION EINER ART „ZIVILSCHUTZ“ EINZUBINDEN UND SO DIE KATASTROPHE ABZUWENDEN. IM SELBEN JAHR ERFUHR ER, DASS DER VERSTORBENE MINISTER LEOPOLD VON HOFFMANN, EBENFALLS EIN LIEBHABER DER BERGE, EINE SUMME FÜR DEN BAU EINER STRASSE VON GOMAGOI NACH SOLDA VORGESEHEN HATTE, DIE


JEDOCH NICHT AUSREICHTE, UM DIE KOSTEN ZU DECKEN; CHRISTOMANNOS NAHM SICH DAS PROJEKT ZU HERZEN UND SCHAFFTE ES, DEN REST DER NOTWENDIGEN GELDER ZU BESCHAFFEN, DIE ER TEILS VON KAISER FRANZ JOSEPH, TEILS VOM MERANER BÜRGERTUM UND TEILS VON SEKTIONEN DES ALPENVEREINS ERHIELT (ER SELBST WURDE 1891 ZUM PRÄSIDENTEN DER SEKTION MERAN GEWÄHLT); NEBEN DER STRASSE ENTWARF ER GEMEINSAM MIT DEM WIENER ARCHITEKTEN OTTO SCHMID EIN HOTEL FÜR SOLDA; BEIDE WERKE WURDEN 1893 EINGEWEIHT. NACH SEINEM AUSSCHEIDEN AUS DEM ANWALTSBERUF WIDMETE

7


SICH CHRISTOMANNOS HAUPTBERUFLICH DER FÖRDERUNG DES FREMDENVERKEHRS; 1895 GRÜNDETE ER DEN VEREIN FÜR ALPENHOTELS IN TIROL, DER DURCH DEN BAU VON HOTELS UND DIE INSTANDHALTUNG VON STRASSEN DIE HOCHTÄLER TIROLS FÜR DIE ÖFFENTLICHKEIT ZUGÄNGLICH MACHEN WOLLTE; BEREITS IM SOMMER 1896 ERÖFFNETEN ZWEI NEUE HOTELS IN TRAFOI UND AM KARERSEE UNTER DER SCHIRMHERRSCHAFT DES VEREINS, DER AUCH DAS WEISSLAHNBAD IN TIRES UND EIN WEITERES HOTEL AM FALZAREGO-PASS ERWARB. NEBEN DEN HOTELS ERÖFFNETE ER AUCH MEHRERE BERGHÜTTEN, DARUNTER DIE


„CIMA FIAMMANTE“ (AUF DEM GIOGAIA DI TESSA) UND DIE „CORONELLE“ UND „RODA DI VAÈL“ (AUF DEM ROSENGARTEN). NEBEN ANDEREN INITIATIVEN SETZTE SICH CHRISTOMANNOS BESONDERS FÜR DEN BAU DER DOLOMITENSTRASSE EIN, DIE ALS SEIN MEISTERWERK GILT: NACH SEINEN VORSTELLUNGEN SOLLTE DIESES WERK, DAS DAS GESAMTE DOLOMITENGEBIET MIT BOZEN VERBINDEN SOLLTE, DER BIS DAHIN IN ARMUT LEBENDEN LOKALEN BEVÖLKERUNG TOURISTISCHEN WOHLSTAND BRINGEN (WAS AUCH TATSÄCHLICH GESCHAH). DARÜBER HINAUS ENGAGIERTE SICH CHRISTOMANNOS FÜR DEN BAU DER VINSCHGER BAHN, DIE NACH SEINEN

9


VORSTELLUNGEN BIS INS ENGADIN ODER NACH LANDECK FÜHREN SOLLTE (STATTDESSEN HIELT ER IN MALS), UND LIESS SICH SOGAR IN DEN DÖAV (DEUTSCH-ÖSTERREICHISCHE BERGSTEIGERVEREINIGUNG) UND ANSCHLIESSEND IN DEN TIROLER LANDTAG WÄHLEN, UM DIE ENTWICKLUNG DES TOURISMUS DURCH DIE POLITIK ZU FÖRDERN. ES MUSS GESAGT WERDEN, DASS CHRISTOMANNOS‘ AKTIVITÄTEN NICHT IMMER AUF GEGENLIEBE STIESSEN; INSBESONDERE IM KATHOLISCHEN UND KONSERVATIVEN SÜDTIROL STIESSEN DIE PLÄNE EINES GRIECHISCH-ORTHODOXEN, EINE GROSSE ZAHL WOHLHABENDER UND MEIST


AUSLÄNDISCHER TOURISTEN UNTERSCHIEDLICHER SITTEN UND RELIGIONEN IN DIE PROVINZ ZU LOCKEN, AUF EINIGEN WIDERSTAND. ER STARB AM 30. JANUAR 1911 IM ALTER VON NUR 56 JAHREN AN DEN FOLGEN EINER GRIPPE, DIE DURCH EINE RIPPENFELLENTZÜNDUNG VERSCHLIMMERT WURDE. DIE BEERDIGUNG WURDE MIT GROSSEM POMP GEFEIERT, UND DEM SARG FOLGTEN DREI MIT BLUMENKRÄNZEN BELADENE KUTSCHEN. ER IST AUF DEM FRIEDHOF VON MERAN BEGRABEN.

11


MEHR ALS EIN JAHRHUNDERT NACH CHRISTOMANNOS TOD, ZWEI WELTKRIEGEN, DER ABTRETUNG SÜDTIROLS AN ITALIEN, DER ENTSTEHUNG DES RESCHENSEES, DER GLOBALISIERUNG UND DEM AUFKOMMEN DES INTERNETS KANN MAN SAGEN, DASS DER VINSCHGAU (ABER AUCH GANZ ALLGEMEIN SÜDTIROL) AUCH HEUTE NOCH DEN WEG GEHT, DEN DER VISIONÄR VORGEZEICHNET HAT. IN DIESEM BUCH GEBEN WIR IHNEN DIE MÖGLICHKEIT, IN DEN VINSCHGAU DES JAHRES 1906 „EINZUTAUCHEN“. DANN IST ES AN IHNEN, SICH IN DIESES HERRLICHE TAL ZU BEGEBEN, DAS REICH AN GESCHICHTE UND NATURSCHÖNHEITEN IST, UND ZU ENTDECKEN, WIE ES SICH VERÄNDERT HAT.


13


14


VERZEICHNIS DER ORIGINALBILDER SEITE

Bozen, Obstplatz. Photogr. Gebr. Bӓhrendt, Meran

20

Meran, Vegetation in der Gilf. Photogr. Gebr. Bӓhrendt, Meran

23

Schloß Tirol bei Meran. Photogr. B. Peter, Meran

27

Schloß Hochnaturns. Photogr. B. Johannes, Meran

28

Schloß Juval. Photogr. Gebr. Bӓhrend, Meran

31

Schloß Castellbell. Photogr. B. Johannes, Meran

34

Marteller Alpe mit Zufallspitzen. Photogr. B. Johannes, Meran

37

Markt Schalnders, Photogr. B. Johannes, Meran

41

Laas, Marmorwerke. Photogr. Wilh. Müller, Bozen

42

Sulden, der Ortler. Photogr. Dr. Fritz Benesch, Wien

45

Trafoi mit der Eiswand. Photogr. Gebr. Bӓhrendt, Meran

49

Schluderns, alte Kirche. Photogr. B. Johannes, Meran

50

Stadt Glurns. Photogr. Wilh. Müller, Bozen

53

Markt Mals. Photogr. B. Johannes, Meran

57

St. Valentin auf der Heide, See. Photogr. Würthle u. Sohn, Salzburg

58

Fahrplan Meran-Mals, 1906.

61

15


16

V


V

Die Vinschgaubahn*, die Lokalbahn Meran-Mals, wie sie offiziell genannt wird, ist die erste Teilstrecke der Vollbahn Meran-Landeck; normalspurig und zum Vollbahn Betriebe geeignet, bereitet sie den Ausbau dieser für Tirol hochwichtigen zweiten Verbindung zwischen dem Norden und dem Süden des Landes vor. An ihrem derzeitigen Endpunkte der Station Mals soll sie durch eine Bahn über den Ofenpass nach Zernetz ins Engadin eine aller kürzeste direkte Verbindung zwischen Tirol und der Albulabahn, zwischen den großen Fremden Nationen Südtirols Bozen und Meran und den vielbesuchten Kurorten des Engadins erhalten; in ihrem weiteren verlaufe aber über Nauders nach dem Oberinntale hinaus den rhätischen Bahnen Gelegenheit bieten, einen Anschluss in der Richtung nach Pfunds und Innsbruck suchen: überaus bedeutsame Verbindungen zwischen Tirol und der Ostschweiz, die den wirtschaftlichen Wechselbeziehungen und insbesondere dem Fremdenverkehre beider Länder in ganz hervorragender Weise zu Gute kommen werden. Diele planmäßige Entwicklung und Ausarbeitung eines einheitlichen Projektes ist allein imstande, der ersten Teilstrecke Meran-Mals ein finanzielles Gedeihen auf die Dauer zu sickern. Vorläufig dient die Sackbahn Meran-Mals hauptsächlich Touristen Wecken. Sulden und Trafoi, die berühmten Fremden Stationen der Ortsgruppe mit ihren großartigen Gletscher Szenerien, erreidit man nun von Meran aus in wenigen Stunden; mit einem Zeitaufwands von nur zwei Tagen Kann man nicht nur von Bozen oder Meran nach Trafoi und zurück.

WARUM DIE BAHN MERANMALS GEBAUT WURDE

WARUM DIE BAHN MERANMALS GEBAUT WURDE

*Wir haben in diesem Büchlein die Schreibioeife “Vintschgau” für den Gau der alten rhäschen Venosten beibehalten, da sie nicht nur feit alters die ortsübliche ist, fondern auch in die Generalstabskarten überging und von dem genauen Kenner des Vinschgaues Beda Weber gebraucht wird. Warum die Bahnverwaltung plötzlich auf die biss von Staffier gebrauchte und Zweifellos falsche, durch nichts gerechtfertigte Schreibweise „Vinschgau” Zurückgriff, ist unerfindlich. Professor Cölestin Stampfer, ebenfalls ein Marienberger, sprach sich für „Vintschgau” aus.

17


Der Besuch der andern Seitentäler des Vintschgaues, die bisher als Übergänge in die Ortlergruppe oder als Einbruchstellen in die Ötztaler Berge dienten, wird durch die neue Bahn wesentlich erleichtert werden, und diesen viel begangenen Tourstenwegen noch mehr Besucher zuführen. Bas ein Carne Hochland der Malferheide mit feinen schönen Seen und herrlichen Ausblicken wird aber durch die Fortsetzung der Bahn erst zu dem werden, wozu es feinen landfhaftlihen Heizen und feiner fonnigen Höhenlage nah bestimmt ist, zum „Engadin Tirols“, von seinen Bewunderern im Sommer und Winter gleich begehrt. Vor allem ist aber durch den Bahnbau die Fahrt durch das Bintfhgau selbst zu einem ganz außergewöhnlichen Venuste geworden. Eine ununterbrochene Reihe überaus reizender Eandfhaftsbilder entzückt das Rüge und bietet den Reifenden von Meran bis Mals immer und immer wieder

Sondern auch die höchste und schönste Fahrftra|e Europas, die Stilfserjochstrasse bequem besuchen und eine kleine Bleifdrerbur an, derselben unternehmen; oder in der gleichen Zeit nach Sulden und zurück gelangen und eine oder mehrere jener berühmten Schutzhütten des Alpenvereins besuchen, die Sul den zu einem Lieblingsorte der Hochtouristen gemacht haben; ja sogar die Besteigung des Ortlers kann man fidi von nun an von Bozen oder Meran aus in zwei lagen leisten.


NUR 80 KILOMETER LANG in mannigfaltiger Abwehstung neue herrliche Schaustücke: von den üppigen füchtihen Gärten Merans bis zum melanckolischen Hochlande und den bletscher-Szenerien des oberen Vintschgaues, eine kurze aber herrliche Bahnfahrt, die bald zu den allerfhönften des ganzen Kontinents gerechnet werden wird und die gewiß Niemand vergißt, der sie an einem jener unvergleichlich schönen, klaren und sonnigglänzenden Morgen unternommen hat, wie sie nur an den Südhängen der Alpen zu erleben sind. In wirtschaftlicher Beziehung dürfte die neueröffnete Bahn der im Vintschgau seit einigen Dezennien aufblühenden reihen Obstzucht sehr zu statten kommen, obwohl deren nachhaltige Förderung erst durch den Ausbau der ganzen Strecke, samt ihren Schweizer-Anschlüssen, zu erwarten ist. Die reihen Wasserkräfte des Tales und der schöne weiße Tiroler Marmor, der Cafer Marmor, der an Schönheit des Materials seinem altberühmten Rivalen von Carrara nicht nachsteht, ihn an Wetterfestigkeit aber bei weitem übertrifft, harren noch einer großzügigen und dadurch ergiebigen Verwertung. Jede dieser natürlihen Quellen wirtfhaftlicken Reihtums könnte für tick allein, von fachkundiger und kapitalskräftiger Hand ausgebeutet, eine große und segensreiche Industrie ins Leben rufen, die das fhöne Tal einem ungeahnten Wohlstände zuführen müßte.

19



N

Nur 80 Kilometer lang, überwindet die Bahn von Meran bis Mals einen Höhenunterschied von 726 Meter, ist aber trotz ihres Charakters als Bergbahn nicht allzureich an großen technischen Kunstbauten. An der Haltestelle Algund bei Meran übersetzt sie die Etsch auf einer 62 Meter langen Eifenbrücke mit zwei Seitenöffnungen. In ihrer Entwicklung von dort zur Höhe der Talstufe der Töll erreicht Sie langsam aufsteigend die Station Marling und durchschneidet an drei Stellen die Berglehne des Marlinger Berges durch Tunnels in der Länge von beiläufig je 600 Metern. Der erste dieser Tunnels bei Marling ist ein Kehrtunnel, der längste derselben, der Tölt-tunnel 683 Meter lang. Ruf eben diefer Strecke, beim Antike Josefsberg, befindet sich auch ein Viadukt mit vier Oeffnungen in der Gesamtlängevon 46 Metern. Weitere größere Objekte befinden sich an der zweiten Taiftufe in der Nähe der Station Schlanders, wo die Bahn gegen Göflan ansteigend auf hohen Dämmen den massigen Schuttkegel der Gadriamur in einer langen S förmigen Doppelkrümmung überklettert und bei Göflan abermals die Etsch überbrückt. Die Göflaner Etschbrücke besteht aus einer Eisenkonstruktion von 35 Meter Lichtweite mit fünf gewölbten Öffnungen und hat eine Gesamtlänge von 127 Metern; sie ist ein schöner, eleganter Bau, der sich mit dem hochgelegenen malerischen Dorfe Göflan und seinen alten,

21


offenen Terrain an der Lehne des Tartfiherbühels. Nicht unerwähnt dürfen auch die Hochbauten der Strecke bleiben, da sie mit ihren weißen Mauern und freundlichen, grün und rot bemalten Holzkonstruktionen einen überaus freundlichen Eindruck machen und, von der gewohnten Eifenbahnfihablone abweichend, gut in die Landschaft passen. Erbaut wurde die Bahn in nickt ganz 2lh Jahren, unter der Oberleitung des Murales Konstantin Ritter v. Chabert, einem Ingenieur des k, k. Eisenbahnministeriums in Wien, von zwei Wiener Baufirmen: der allgemeinen österreichischen Baugesellschaft(Oberingenieur Rlois Schnabl) und der UnionBaugesellschaft (Oberingenieur Konstantin Steinkeiler) die sich bestens bewährten.

hochinteressanten Kirchen äußerst vorteilhaft darstellt und entschieden der schönste Kunstbau der ganzen Strecke. Zwei weitere Viadukte nähe des Dorfes Kortsch bei Schlanders und zwei 25 Meter lange Brücken über die ßadriaßhluht und das Gadriagerinne, deren überaus mächtige Schüttaufhäufungen man an dieser Stelle im Querschnitte anstaunen kann, vollenden die bemerkenswerten technischen Objekte dieser Talstufe. Die letzte größere Steigung zwischen den Stationen Schluderns und Mals überwindet die Bahn im


23


Die Sehenswürdigkeiten und schönen Ausblicke der Fahrt von Meran nach Mals sind, wie wir bereits erwähnten, überaus zahlreich und bemerkenswert. Schon unmittelbar außerhalb des Bahnhofes von Meran auf der Strecke bis zur Haltestelle Algund (3 km von Meran) und der Etschbrücke gewährt die Fahrt durch die Obstanger von Algund einen prächtigen Blick auf die gewaltigen Mauern der Tschigattspitze und der Muth, an deren Hängen das altehrwürdige Stammschloß Tirol, das neuerstandene Schloss Brunnenburg und weiter westlich das Schloß Thurnstein die Aufmerksamkeit auf sich lenken, während sanft aufsteigende Weingelände die Ortschaften Gratsch und Algund lieblich umfangen und sich das Dorf Tirol an dem Vorberge der Muth, dem Küchelberge, lang hinstreckt. Jenseits der Etsch gegen die Station Marling in einer langen Kehre nach Süden aufsteigend, eröffnet die Bahn einen prächtigen Rückblick auf die alte Landeshauptstadt und den ganzen Kurort Meran, der zu den schönsten gehört, die man selbst in diesem gottgesegneten Erdenwinkel bewundern kann. Zwischen mächtigen Kastanien und Weingeländen langsam dahinrollend, erweitert sich der Ausblick immer mehr und mehr, bis man bei der Station Marling (4 km von Meran) das ganze untere Etschtal bis zum steilen Absturz der Mendel überschaut, ein herrliches Bild mit der alten Marlinger Kirche und den weißen Gehöften des Dorfes im Vordergrund. Gegen die Toll zurückkehrend, steht unweit der Öffnung des ersten Tunnels , umgeben von dunkeln Edelkastanien das romantische Kirchlein St. Felix; in den Zwischenräumen, zwischen dem ersten, zweiten und dritten Tunnel, sieht man tief unter sick an den Ufern der Etsch, die sich in schäumenden Kaskaden von den Höhen der Töll in den Meraner Kessel herabstürzt, zuerst das schöne Schloss Vorst, in dem der Minnesänger Oswald von Wolkenstein gefangen saß, und unweit davon die ausgedehnte Brauerei Vorst und das große Elektrizitätswerk der Städte Bozen und Meran, das beide Städte mit elektrischer Kraft und Licht versieht. Darüber hinaus die üppigen Gelände von Algund und Plars, über die der Tschigatt und die anderen Berge der Texelgruppe in einer absoluten Höhe von beinahe 3000 Metern zum Himmel ragen.

WAS MAN AUF

DER

FAHRT VON

MERAN WAS MAN AUF DER FAHRT VON MERAN NACH MALS SIEHT

NACH

MALS

SIEHT


Aus dem dritten Tunnel auf die obere Talstufe, der sogenannten Toll, herauskommend, erreichen wir, 10 km von Meran, die Station Toll (ladinisch: Toal, Tobel) und damit den obern Teil des Etschtals, den Beginn des Vintschgaues, der sich von hier bis an die Wasserscheide am ReschenScheideck hinauferstreckt, wo die Etsch entspringt. Bei dieser Station führt nach Wetten, oberhalb des Partschinser Schuttkegels ein unbewohntes Hochtal in die Texelgruppe hinauf, wo die Sektion Meran des Alpenvereins eine Schutzhütte errichtet hat, von der aus man die überaus ausfidrtsreidren Gipfel dieser Gruppe besteigt und im Abstiege nach Hinterpasseier oder in das Pfoffental, einem Seitentale des Schnalstales, gelangen kann; oder auch über die Stettinerhütte am Eisjöchl zur Karlsruherhütte am großen Gurgl-ferner hinüberwechselt.

25


Zunächst der Station liegt das alte Tiroler Badl „Bad Egard“, jetzt ein Sommerfrischort der Meraner. Ihm schräg gegenüber, am linken Ufer der Etsch, ein großes Ferrofylicium-Werh und ein großer Kalkofen, in dem schöner weißer Marmor zu Kalk gebrannt wird. Am Eingänge des Zieltales stürzt ein prächtiger Wasserfall oberhalb der Ortschaft Partschins über eine hohe Felswand zu Tal. Von der Töll aufwärts verändert sich der Charakter der Landschaft vollkommen. Im Westen, scheinbar am Abschlusse des Tales, stehen die schneebedeckten Gipfel der Laaserberge; die dominierende Taaserspitze und die marmorreiche Jennwand. Am linken Etschufer ziehen sich die sonnenverbrannten Hänge und braunen Felsen des Naturnser Sonnenberges hin; am reckten Ufer dehnen sich die gut bewaldeten Abhänge des schattigen Nörderberges, wie im ganzen Vintschgau die nach Norden gelegene Talseite heißt. Im Tale erblickt man die Ortschaften Rabland und Plaus in den sumpfigen Auen und Mösern der Etsch halb versteckt; kurz vor der Station Naturns (17 km von Meran) das wohlerhaltene Schloss Dornsberg oder Tarantzberg und ober dem Orte selbst die Feste Hoch-naturns. Naturns ist ein beliebter Ausflugsort der Meraner. Schloss Dornsberg birgt ein interessantes Archiv und manch alten, sehenswerten Kram; auf Hochnaturns genießt man eine schöne Aussicht: talauf und talab bis zurück gegen die Meraner Berge, die silberglänzende graue Felspyramide des Ifinger und die langen Kämme der Plattenspitze und des Hirzer. Nur wenige Kilometer oberhalb dem lieblich gelegenen Orte Naturns erreicht man die Station Schnalstal (20 km von Meran), an der Mündung des gleichnamigen Tales. Am linken Uber der Etsch grüßt der freundliche Bau eines modernen Hotels und über der gähnenden Felsschlucht thront auf hoch aufgeschichteten dunklen Felsen die Ruine Juval.

26


SCHLOSS TIROL BEI MERAN.

27


28


ETSCH

S Noch vor wenigen Dezennien konnte man in dieser stolzen Burg schönes altes Getäfel und Fresken bewundern; jetzt ist alles von beutegierigen Trödlern verschleppt und die Fresken verblassen im Sturme und Regen, der durch die verfallenen Dächer und offenen Fenster hereinströmt. Am Fuße des Juvaler Felsens liegt der Ort Staben; ein altes, schmales Gäßchen mit einem alten Kirchlein, zu dem eine gedeckte alte Holzbrücke über die Etsch führt. Etwas talabwärts, ebenfalls am linken Ufer, in saftig grünen Edelkastanien und Nußbäumen versteckt, die malerische Ortschaft Tschars; am rechten Etschufer, im Grün der Ruen glänzen die roten neuen Ziegeldächer der Ortfdiaft Tabland, die erst vor wenigen Jahren durch eine große Feuersbrunst zerstört wurde.

29


Durch das Schnalstal wandern im Sommer die Hochtouristen, die aus dem Ößtale über das Hochoder Niederjoch kommend nach dem Vintschgau und zum Ortler wollen. In langen Reihen sieht man sie oft an schönen Tagen über diese vergletscherten aber leichten Übergänge durch den Schnee dampfen und zu Zeiten hatte sogar einmal ein unternehmender Ößtalerköpf ein Pferd und einen großen Schlitten auf das Hochjoch geschafft, um den vielfach Ungeübten diese „gefahrvolle Hochtour“ zu erleichtern und sie mit Pferdekraft über den Gletscher zu schaffen. Zu oberst im Schnalstale, auf den Finailhöfen, hielt sich auch einst Herzog Friedrich mit der leeren Tasche, in gleicher Weise wie auf den Rofenhöfen im Ötztale, bei den ihm ergebenen Bauern und Hirten versteckt, als ihn seine Widersacher, die streitbaren Ritter vom Elefantenbunde, zur Flucht gezwungen hatten. Ein weiterer beliebter Übergang führt durch das Schnalstal zur Weißkugel, der Königin der Ötztaler Berge und von ihr herab in das Matschertal und nach Schluderns oder Mals, den letzten Stationen der Bahn. ln gerader Linie läuft die Bahn nun auf den rechtsseitigen Dämmen der erst gleichzeitig mit dem Bahnbau regulierten Etsch schnurgerade dahin um bei der HaItestelle Castellbell (25 km von Meran) am Fuße des gewaltigen Sckuttkegels der Tarschermur, gegenüber der Ruine des prächtigen Schlosses Castellbell (castellum bellum) Halt zu machen. Das Schloß ist Eigentum der Grafen Hendel, deren Ahnherr, der Hendel-Müller in Obermais, der Sage nach Ende des 14. Jahrhunderts seinem Landesherrn, dem Friedl mit der leeren Tasche, dadurch das Leben rettete, dass er ihn vor seinen verfolgern unter einer Mistpenne (kleiner Korbwagen) verbarg. Das Schloss wurde im vorigen Jahrhundert durch Feuer zerstört und da die Hendels mittlerweile verarmt sind, wurde es leider nicht mehr aufgebaut. Ein einfacher Bauer, der die Weingüter bebaut und die Kastanienernte einbringt, bewohnt als Mieter das Schloss, das seiner herrlichen Lage nach gewiß seinen Namen verdient. Ein altes Bauernhaus mit vorspringenden Holzgiebeln am Fuße des Schlosses und mehrere alte Wohnhäuser in der Nähe der Station erwecken das Interesse des Freundes ursprünglicher alttirolischer Bauart. 30


31


Von Castellbell talabwärts durchschneidet die Bahn die mächtigen Abstürze der über zwei Kilometer breiten Tarschermur, an deren Fuß sich auh die Etsch in schäumenden Stromengen einen Weg gebahnt hat, die Schlucht der sogenannten „Latschander“. Jenseits derselben weitet sich der Gesichtskreis und erblickt man am rechten Etschufer, freundlich gelegen, den Ort Latsch mit mehreren alten Kirchen, von denen die eine, auf einem Hügel gelegene, vom Papst Johann XXlll. gegründet wurde, zur Zeit, als er durch das Vintschgau zum verhängnisvollem Konzile nah Konstanz fuhr. Die Station Latsch (29 km von Meran) ist der Ausgangspunkt zum Besuche des Martelltales, in dessen Hintergründe die gewaltigen Eisströme des Langenund Zufall-Ferners, überragt von den Zufallspitzen (Monte Cevedale), einen großartigen Talabschluss bilden.

32


Vom Martelltale aus führen zwei vielbegangene und berühmte Übergänge nach dem Suldental hinüber. Der eine von der Zufallhütte der Sektion Dresden über das Madritschjoch, der andere über den Eisleepaß und die Hallesche Hütte. Da das Tal lang ist, beabsichtigen die Marteller und Latscher eine Straße von Latsch über Schloß Montan bis nach Gand, dem Hauptorte des Tales, zu bauen. Von Martell und von Latsch aus führen ebenfalls schöne Übergänge ins Ultental; mit dem einen derselben, dem Übergänge über die Kuppelwiesalpe, lässt sich die Besteigung des Hasenohres verbinden, der vergletscherten herrlichsten Aussichtswarte des unteren Vintschgaus; da im hintersten Ultentale in der sog. „Neuen Welt“ am kleinen Grünsee, in dem sich die Firnfelder des Zufritt spiegeln, die „Höchster“ eine Hütte erbauen wollen, so dürfte sich der Wechselverkehr von Latsch und Martell nach Ulten bald lebhafter gestalten. Eine Hütte am Hasenohre selbst würde gewiß auch regen Besuch finden.

33


34

H


H J U VA L

Außer den alten Kirchen in Latsch mit ihren vielen kunsthistorischen Sehenswürdigkeiten, find es vor allem auch die Ruine Annaberg hoch oben am Sonnenberge und die beiden Ruinen Ober- und Unter-Montan am Eingange ins Martelltal, die unsere Aufmerksamkeit verdienen. Annaberg war der Besitz eines kunstsinnigen Geschlechtes, das bis zum 15. und 16. Jahrhunderte daselbst einen reichen Bergbau betrieb. Die Bibliothek der Annaberger dürfte später nach Ober-Montan gekommen sein, wo Beda Weber, der gelehrte Marienberger Mönch, aus ihren Resten manchen kostbaren Fund schöpfte; unter anderem auch die Berliner Handschrift des Nibelungenliedes. Die kleine Kapelle St. Stephan


nächst Ober-Montan birgt hochinteressante Fresken aus dem Anfange des 15. Jahrhunderts; die Latschburg in Latsch selbst ist noch wohlerhalten, beherbergt aber nichts Sehenswertes. Zu oberst am Sonnenberge, noch eine gute Stunde höher als Annaberg, liegt ein kleines Kirchlein „St. Martin am Kofel“, zu dem alljährlich die Postillone der ganzen Umgebung zu wallfahren pflegten; St. Martin ist der Schutzpatron des Hausgetiers, und der Wallfahrtsort gilt viel bei den Vintschgauern. Nun ist die Romantik der Postillone auch für diese Gegend geschwunden und das Kirchlein wird wohl blos mehr bäuerlichen Besuch erhalten. Unweit vom Eingange in das Martelltal und nur wenige Kilometer von Latsch entfernt liegt die Haltestelle Goldrain (32 km von Meran); nahe bei der Station erblickt man den Weiler Schanz mit den zwei halbverfallenen und von Bauern bewohnten Ansitzen Moosburg und Schanz, Schloss Goldrain mit dem darüber liegenden Annaberg zur Linken und Schanz überragt von den Burgen Montan und dem schneebedeckten gewaltigen Hasenohr zur Rechten, sind überaus anziehende Landschaftsbilder. Zwischen Latsch und Goldrain sieht man einen Moment lang von der Bahn aus die oberste Spitze des Cevedale aus dem Martelltale herauslugen ; die schneebedeckte Spitze neben dem Hasenohr ist die Soyspitze. An eben dieser Strecke überbrückt die Bahn auch das wilde Geröllbett des Plimabaches; anfangs der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts brachte die Plima wiederholt ungeheure Wassermassen aus den gefürchteten Ausbrüchen des Marteller Stausees ins Tal. Einmal sogar fegten dieselben einen ganzen Weiler von zwölf Häusern glatt vom Boden hinweg. Die Ausbrüdie des Stausees, der sich zwischen der vorgelagerten Gletscherzunge des Zufallferners und den Abflüssen des Langenferners gebildet hatte, sind nun durch ein großes, künstliches Stauwerk am oberen Zufallboden unschädlich gemacht. Das nächste schöne Bild bietet die schon vorerwähnte prächtige Etschbrücke bei Göflan mit diesem malerischen Dorfe, zunächst der Station Schlanders.

36


37


An den Vorbergen der Laaserspitze oberhalb Göflan und bis gegen Laas hinauf liegen an der rechten Talseite die berühmten Laaser Marmorbrüche; gar beschwerlich ist der Transport der Steinkolosse von den hochgelegenen Brühen ins Tal herab und nur eine rationelle Verbilligung dieser Talfahrt durch eine eigene Seilbahn wird der Laafer Marmorindustrie zur wohlverdienten Blüte verhelfen können. ln Göflan wurde vor wenigen Jahren die Riesenstatue Moltkes für Berlin punktiert und in Laas die Kolossalgruppe Eberhard des Greiners für Stuttgart aus dem Groben gearbeitet. Manch großes Denkmal ging auch jetzt schon nach England und Amerika. Die Station Schlanders (38 km von Meran und 9 km von Latsch) liegt schon an der Abdachung der gewaltigen Gadriamur, des größten Schuttkegels des Tales. Die Gadria verursachte in früheren Zeiten mannigfachen Schaden und bedrohte sogar die Ortschaft Laas. Nun ist sie durch eine sachgemäße Verbauung in unschädliche Bahnen gelenkt und der Zug rollt auf eisernen Brücken über ihre tief eingeschnittenen Gerinne. Der Markt Schlanders ist der Hauptort des Tales und hat längst die kleine Stadt Glurns im oberen Vintschgau überflügelt; er ist der Sitz der Bezirkshauptmannschaft, eines Bezirksgerichtes und einer Garnison, ebenso die Zentralstelle des Obstexportes. Als „Kornkammer Tirols“, als welche das Mittel-Vintschgau in früheren Zeiten gepriesen wurde, spielt es seit der Überflutung Tirols durch ungarisches Getreide keine Rolle mehr. Ein überaus spitzer gotischer Kirchturm überragt den Ort, der, von der Station aus gesehen, den Eindruck einer hübschen und wohlhabenden Ansiedlung macht. Ende des 15. Jahrhunderts durch die Engadiner eingeäschert, erhielt die Kirche damals ihre jetzige Gestalt. Sonnig und geschützt gelegen, besitzt Schlanders noch Weinbau, und ein prächtiger Hain alter herrlicher Edelkastanien zieht von Schlanders bis gegen Kortsch hinauf. Auf das alte Kirchlein und den poesievollen Friedhof von Kortsch grüßen schon die blauen Abstürze der Laaserferner und die glänzende Firnwand des Hohen Angelus herab. Alte Wohnstätten und ein buntbemalter großer Bauernhof schmücken den Ort. 38


ÖTZTAL

Von der Station Schlanders gegen Laas an der Gadriamur hinauffahrend, genießt man schöne Nahblicke auf alle diese anziehenden Details und einen prachtvollen Weitblick auf Latsch und die anderen Orte des Mittelvintschgaus, die in einem Meere wogender Saaten und reicher Obstkulturen verstreut liegen, überragt von der breiten, weißen Schneepyramide des Hasenohres oder Vlatschberges (ladin. Vallatsch). Nördlich von Schlandersberges öffnet sich das Schlandernauntal, dessen Felsschlucht die Burg Schlandersberg beschirmt, das einstige Eigentum der mächtigen Schlandersberger, der eifrigen Widersacher Friedrichs mit der leeren Tasche, der Anführer der Ritter vom Elefantenbunde.

39


Durch das Schlandernauntal aufsteigend gelangt man über das Tascheljoch nach dem hintersten Schnalstale, eine Abkürzungstour, die häufig unternommen wird, wenn man vom Ötztaler Hochjoch direkt über Schlanders und die Laaserferner in die Ortlergruppe gelangen will. Von Schlanders besteigt man ebenso wie von Laas unschwer die Laaserspitze, die einen prächtigen Doppelblick auf die nahen Berge der Ortler- und Ötztalergruppe gestattet und gleich dem Ortler das ganze Etschtal von der Töll bis zur Malserheide beherrscht. Auf der Höhe der Gadria angelangt und diese durchschneidend rückt die Bahn ganz nahe an die Mündung des Laasertales heran, so daß man völlig die Klüfte und Risse im Eise der Gletscher erkennen kann, die tief in das Tal herabhängen. Eine auf hohen Pfeilern geführte Wasserleitung überbrückt unweit der Station die Ortschaft Laas (43 km von Meran), an einen römischen Aquädukt erinnernd, und in blendender Weiße schimmern allenthalben die Steinvorräte der Marmorwerke. An der linken Seite des Laasertales, an einer kleinen Kapelle vorüber, sieht man einen Weg aufsteigen, der in 2 1/2, Stunden zur Troppauerhütte hinaufführt. Von dieser besucht man die Laaserspitze oder einen anderen Gipfel des Tales, oder man wandert über die Angelusscharte oder das Zayjoch zur Düsseldorferhütte im Zaytale, um von ihr nach Sulden abzusteigen: verhältnismäßig kurze und äußerst genussreiche Bergwanderungen. Außerhalb Laas am linken Ufer der Etsch liegt auf einem einsamen Hügel von einer Mauer umfriedet ein uraltes Kirchlein, dem heiligen Sisinius geweiht; augenscheinlich auf einer alten Opferstätte errichtet, stammt es aus den Zeiten, als 5. Jahrhundert nach Christi der hl. Valentin im Vintschgau das Christentum verbreitete und sein Nachfolger, der hl. Florinus, ein aus Matsch gebürtiger Vintschgauer, daselbst Wunder wirkte. Von Laas bis zur Haltestelle Eyrs sind es nur 4 Kilometer und von dort nach der Station SpondinigPrad (51 km. von Meran) nur 2 Kilometer. Die Bahn läuft am Fuße der Tschenglser Hochwand dahin und noch eines Berges, der den wenig poetischen Namen „Saurüssel“ trägt. 40


41


LAAS, MARMORWERKE.

42


MAR TEL LER ALP E

A An der linken Seite des Tales, am Fuße des Schuttkegels eines wilden Murbruches, liegt Eyrs, bisher der Ausgangspunkt der Postfahrten nach dem Stilfferjoh und nach dem Münstertale. Zur Rechten des Tales das Schwefelbad Schgums, dessen heilkräftige Quellen in Tirol schon von altersher einen guten Ruf genossen und die besonders gegen Gicht und „Gliedersucht“, wie die Tiroler den Gelenkrheumatismus nennen, wirksam sind, Unfern von Schgums am Ausgange des Tschengelfertales steht die unglückliche Ortschaft Tschengls, die wiederholt durch wilde Murbrüche verwüstet und wiederholt durch Brände vollkommen eingeäschert wurde, doch immer wieder an derselben Stelle neu erstanden ist, gleichsam als seien die wilden Elementargewalten den armen Bauern gewohnte und liebe Gefährten geworden, von denen sie sich nicht zu trennen vermögen. Auch das arme Tschengls hat in seiner Nähe zwei Burgen, das Schloss Fuchsberg und die Tschenglsburg, die jedodt an gesicherter Stelle von der Wut der Elemente nichts zu fürchten haben. Am Eingange des Dorfes Eyrs sind ebenso zwei Edelsitze zu verzeichnen von denen der


Station der oberen Strecke werden, indem die beiden höchsten Berge der Ostalpen: der Ortler und seine schlanke Gefährtin, die Königsspitze, auf alle Bergfreunde und Bergfexen eine unwiderstehliche Anziehungskraft ausüben; besitzt doch der allein zehn verschiedene Aufstiegsrouten und die Königsspitze deren sieben, von denen die meisten nur für die Elite der Bergsteiger gangbar sind. Zahllose Touristenwagen, Fiaker und Mailcoaches harren an der Station, um den Reisenden Gelegenheit zu geben, sofort an die berühmten Höhenstationen Sulden und Trafoi am Fuße des Ortlers zu gelangen, trotzdem ein gutes kleines Hotel in Spondinig selbst den Wanderer zur willkommenen Rast einladet. Von der Station Spondinig nach Trafoi gelangt man mit Wagen in 2 1/2 Stunden, nach Sulden in 3 1/2 Stunden. Auf der Fußgeher benötigt hiezu kaum mehr

eine einstens den bayerischen Grafen von Moosburg gehörte. Ein schönes gotisches Getäfel, das sich in dem andern Ansitze befand, wurde auch erst vor wenigen Jahren durch Antiquitätenhändler in die Fremde verschachert. Der direkte Anstieg von Eyrs oder von Tschengls über die felsigen Nordabstürze der Tschenglser Hochwand auf deren Gipfel ist eine Hochtour, die bisher nur zweimal gemacht wurde und für erstklassige Touristen gewiss “nicht reizlos” ist. Bei der Station Spondinig-Prad zweigt die Stilfserjochstrasse nach der Ortlergruppe ab; sie dürfte wohl die vielbesuchteste


45


Zeit, vorausgesetzt, dass er nicht in Prad, Gomagoi oder an anderen Orten, wo ihm gute Gasthöfe winken, seine Zeit verbockt. Die Etsch, die hart an der Station vorbeifließt, ist hier oben nur mehr ein kleines Flüsschen, das sich kaum mit den wilden Gletscherbächen von Sulden und Trafoi messen kann, die, bei Gomagoi vereint, ungeheure Schuttmassen in das Etschtal vorgeschoben und es in weitem Umfange von Prad bis Spondinig hin versandet haben. Schon in Spondinig zeigen sich, aus dem Taleinschnitte des Trafoitales herausblickend, als erste Gletscher der Ortlergruppe der Ebene Ferner und die Große Naglerspitze, zu oberst an der Stilfserjochstraße. Weiter nordwärts an der Strecke, gegen die Station Schluderns zu, tauchen in demselben Einschnitte die breiten Eismassen des Madatschferners und die kühnen Fels- und Eisgipfel der drei Madatschspitzen auf, um bald wieder der Trafoier Eiswand und dem Thurwieser und schließlich dem Ortler selbst Platz zu machen, dessen höchster Gipfel und oberstes wuchtiges Gletscherplateau vor Schluderns im vollen Umfange sichtbar wird. Von Laas und Eyrs aufwärts haben die fruchtbaren Felder und üppigen Obstkulturen des mittleren Vintschgaues aufgehört und spärliche Felder und die ausgedehnten Auen, Wiesen und Weidegründe des oberen Tates lassen erkennen, daß wir aus dem wohlhabenden „Edelvintschgau“ in das Reich der „Staudevintschger“, wie die reichen Unterländer die armen Oberländer geringschätzig nennen, gelangt sind. Doch sind die Leute im oberen Vintschgau auch arm, und war es ihnen nicht gegönnt, im harten Kampfe ums Dasein ihrem kümmerlichen Boden Reichtümer abzuringen, so ist doch die Landschaft dieser obersten Talstufe reich an herrlichen Bildern. In vornehmen großen Linien zeichnen sich die Berge, mächtige Gletscher schauen auf die altersgrauen Orte und Burgen herab und vermischt mit historischen Reminiszenzen und den Spuren vergessener Vorzeit lassen sie das melancholische Hochland reizvoller erscheinen, als manche prunkende Gegend des unteren Etschtales. Schluderns mit seiner stolzen Churburg, das alte Städtchen Glurns, umschlossen von seinen noch wohlerhaltenen alten Mauern und 46


GENERAL LOUDON Türmen, die es Ende des 15. Jahrhunderts erhielt, und das stattliche Mals mit seinen vielen alten Kirchen und Türmen erwecken bleibende Eindrücke und mahnen an die Zeiten, da Karl der Große, Friedrich Barbarossa und mancher andere deutsche Held seinen Weg über die Heide genommen und die benachbarten Engadiner sengend und brennend in das Vintschgau einbrachen. Auf der Churburg über Schluderns wohnt noch derzeit im Sommer Graf Trapp, der Nachfolger der bösen Vögte von Matsch, von denen die Trappen bereits im Jahre 1440 das Schloß ererbt. Kostbare Rüstungen und Waffen, schöne Täfelungen und manches Interessante sind auf dem Schlosse zu sehen, dessen Archiv zu den reichsten des Landes zählt. Von der Station SchludernsGlurns (56 km von Meran) nach Glurns führt eine wohlgepflegte Straße, die ihre Fortsetzung nach Täufers und dem schweizerischen Münstertal nimmt.

47


An der rechten Talseite liegt die große Ruine Lichtenberg oberhalb des gleichnamigen Ortes, und interessante alte Fresken, die leider dem verfalle anheimgegeben sind, lohnen einen Ausflug dahin. Über das Städtchen Glurns hinaus sieht man am Eingange ins Münstertal eine grüne sanft ansteigende Fläche, das Schlachtfeld an der Calva, auf welchem im Jahre 1499 die Bündner die Tiroler aufs Haupt schlugen und die Blüte des Tiroler Adels vernichteten. Kaiser Max I., der einige Tage nach der Schlacht mit frischen Hilfstruppen eintraf, sah noch die zahlreichen Leichen seiner Freunde am Felde liegen; er vergoß Tränen bei ihrem Anblicke und rächte sie durch einen Einfall ins Engadin, anläßlich dessen die Orte Samedan und Pontresina eingeäschert wurden. Au derselben Stelle kämpften gerade 300 Jahre später, im Jahre 1799, die Franzosen gegen die Österreiher unter General Loudon; auch diesmal war das Kriegsglück den Österreichern nicht hold und Loudon mußte sich vollständig geschlagen über das unwirtliche Gebirge ins Oberinntal flüchten, und da der unglückliche General kein „wohltrainierter Hochtourist“ war mußte ihn bei dieser Flucht Passeirer Schützen auf den Schultern über die schneebedeckten „Jöcher“ tragen. Am selben Tage wurde auch bei Martinsbruck eine österreichische Abteilung von den Franzosen geschlagen und gefangen genommen. Graf Bellegarde, der sich mit der osterreichischen Hauptmacht im Mittelvintschgau im Mittelvintschgau verspätet hatte, besiegte zwar die Franzosen einige tage später in einer zweiten Schlacht im Tauferertale und eroberte sogar das Engadin, immerhin aber zu spät, um den armen Bewohnern von Glurns, Mals und Schluderns helfen zu können; denn in gleicher Weise wie seinerzeit die Schweizer, hatten diesmal die Franzosen diese Orte mit Mord, Brand und Plünderung heimgesucht. Auch in neuerer Zeit machte die Kriegsgefahr die armen Vitschgauer um ihre geringe Habe und ihr Leben erzittern: in den Jahren 1848, 1859 und 1866 wurde hoch oben am Stilfserjoch gekämpft, wo die Italiener nach Tirol einzubrechen drohten, und selbst auf den Gletschern wurde Blut vergossen. 48


SULDEN, ORTLER.

49



B T R AFOI

Bei diesen Kämpfen brachten die tapfern Schützen des Dorfes Prad bei Spondinig im Jahre 1848 unter ihrem Hauptmanne Karner, dem Postmeister von Prad, sogar eine Haubitze bis auf die 2931 m hohe Korspitze an der linken Seite der Stilfserjochstrasse und nur ein einziges Mal gelang es den Italienern bis in die Nähe von Trafoi vorzudringen, wo sie ein Wegmacherhaus in Flammen setzen und sich sofort wieder zurückgezogen. Vom Münstertale aus führte bereits im Mittelalter nach Süden ein guter Saumweg durch das Muranzatal und über das Wormserjoch nach Worms, dem heutigen Bormio; dieser Pfad, der bei der 4. Cantoniera an der südlichen Abdachung der StiIfserjochstraße in diese einmündet, wurde vor wenigen Jahren von den Schweizern in eine gute Fahrstraße umgebaut und vermittelt nun von Mals und Glurns auf eine schöne Rundfahrt über das Wormser- und Stilfserjoch nach Trafoi. An der linken, nördlichen Seite des Münstertales führt das Scarl- oder Charljoch nach Schuls ins Unterengadin; schon Karl der Große soll dasselbe einmal benützt haben und auf seinem Durchzüge nach Italien ein Fraeuenkloster im Münstertale gegründet und durch einige Zeit „zur Kurzweil” - wie der Chronist berichtet - sich in Mals aufgehalten haben.

51


Östlich von Schluderns, am Fuße der Churburg, mündet das große Matschertal als wilde Felsklamm; ein steiler Fußpfad führt an der rechten Lehne desselben zum Hauptorte des Tales, der Ortschaft Matsch hinan. Von diesem hochgelegenen Dorfe (1513 m) genießt man einen herrlichen Ausblick auf die gegenüberliegende Ortlergruppe; man einen leider ist das alte Dörfchen, das einen prächtigen, stilvollen Vordergrund zu diesem Bilde abgab, vor wenigen Jahren vollständig abgebrannt und weniger schön wiedererstanden. Im Hintergründe des Matschertales, am Fuße der Weißkugel, steht die Karlsbaderhütte des Alpenvereins, von der aus man diesen berühmten Berg ersteigt oder auch über Gletscher nach dem Schnalstale, Ötztale oder dem Langtauferertale hinüberwandern kann. Bei letzterer Tour bietet der steile Absturz der Weißkugel - gegen Langtaufers und die Frankfurterhütte - einen besonders imponierenden Anblick.

52


STADT GLURNS.

53


Von Mals aus führt ein etwas bequemerer, sanft aufsteigender Weg nach Matsch, den Freunde der Bequemlichkeit dem Aufstiege von Schluderns aus vorziehen. Zwischen Schluderns und Mals schneidet die Bahn die Lehne des Tartscherbühels an, eines kahlen, mitten in das Tal vorgeschobenen Hügels, von dessen Höhe man einen ausgedehnten Rundblick über das ganze obere Vintschgau genießt, das talabwärts von dem hohen Zuge der Tschenglser Hochwand und der Laafer Berge scheinbar abgeschossen wird. Gegen Südwest ragen die Königspitze und der Ortler empor, während im Nordwesten über Mals hin die Gipfel der Sesvennagruppe durch das Schlinigtal herabblicken und über Glurns die breiten Kuppen des Glurnferhöpfels und des Chavalatsch aufragen, Berge, in denen sich noch bis in die letzten Jahre als edles Raubwild der kleine braune Bär herumtrieb, der von den Münstertaler und Engadiner Bergen ab und zu zum Besuche herüberkam. Leider werden diese verhältnismäßig harmlosen Tiere, die blos die Schafherden schrecken und den viel gefährlicheren Menschen gerne aus dem Wege gehen, immer mehr und mehr vertilgt, so daß sie bald ganz ausgerottet sein werden. Am Tartscherbühel wurden prähistorische Funde gemacht und wohl oft dürfte er den alten Venosten als Sammelplatz für ihre Volks-Dinge gedient haben. Oft auch dürften Rhätier und Römer und andere längst verschollene Völker auf dem Bühel gelagert, ihren Göttern daselbst geopfert und von ihm aus nah den Feinden ausgespäht haben. Heute wird am Tartscherbühel nur mehr jährlich am 15. Juni ein friedlicher Vieh- und Pferdemarkt abgehalten, der größte des ganzen Gaues, zu dem selbst viele Engadiner herüberkommen. Ein altes eingefriedetes Kirchlein am Plateau des Hügels trägt ein paar kleine Glocken, deren alte Inschriften bisher noch nicht entziffert wurden. An dem Dorfe Tarsch am Nordostfuße des Hügels vorbeifahrend, erreicht man schließlich bei km 60.6 die Endstation Mals, den bedeutendsten Ort des oberen Vintschgaues. 54


EL BÜH HER TSC TAR

Ansehnlich breitet sich der Marktflecken am Fuße der letzten Stufe des Etschtales aus; seine alten Türme sollen ihr Entstehen zum Teil noch bis auf die Zeiten zurückführen, da die Römer von Meran, dem castrum majense, über Mals nach Augsburg (Augusta vindelicorum) und Bregenz (Brigantinum) zogen; Römerfunde bei Mals bestätigen die Besiedelung. An einem Knotenpunkte dieser alten Handelswege gegen den Arlberg im Norden und gegen die Schweiz im Westen gelegen, gelangten die Orte Mals und Glurns schon frühzeitig zur Blüte; so wurde Mals bereits unter der Erzherzogin Claudia zum Markte erhoben und Glurns wird bereits in einer Urkunde des Jahres 1304 als Stadt erwähnt. Ein Denkzeichen uralter Kultur ist auch das Kloster Marienberg; im 11. Jahrhunderte in Tarasp gestiftet, verließen seine Angehörigen bereits im Jahre 1146 das unsichere Engadin, um an ihren jetzigen Aufenthaltsort zu übersiedeln.


Auf steiler Berglehne an der rechten Seite des Tales erbaut, thront das große, weiße Gebäude hoch über Mals und der Heide. Seit jeher haben sich die frommen Mönche mit der Pflege der Wissenschaft befaßt und seit 1723 versorgen sie das Gymnasium zu Meran mit Lehrkräften. Zu Füßen des Klosters liegt die Ortschaft Burgeis und auf einem Felsknot vor derselben die düstere Fürstenburg, kaum eine halbe Stunde nördlich von Mals; 1274 von Bischof Konrad von Chur erbaut, blieb die Fürstenburg bis zu ihrer Säkularisation beinahe durch sechs Jahrhunderte Eigentum der Churer Bischöfe, die sie oft bewohnten. Wie groß der Einfluss der Churer in Tirol gewesen, beweist der Umstand, daß ihre Untertanen, die „Gotteshausleute“, bis weit hinunter in das Etschtal und selbst in der Meraner Gegend ansässig waren; ein großes Andreaskreuz, das man vielen Käufern noch derzeit angemalt sieht, soll das äußere Abzeichen der Wohnsitze der Gotteshausleute gebildet haben. Auf der Heide, oben am See in St. Valentin, gründete ein Wohltäter, Ulrich Primele von Burgeis, auch schon im Jahre 1140 ein Hospiz, eine Rettungsanstalt. ln den Statuten dieser Anstalt, die noch in rätoromanischer, der damals dort ortsüblichen Sprache abgefaßt waren, trug der Stifter dem jeweiligen Maier des Hauses auf, an jedem Abende im Winter mit Fackeln und Stangen gegen Graun und Burgeis auszuziehen, um Verirrten oder im Schneesturme Bedrängten zu Hilfe zu kommen; da die Menschenfreunde damals glücklicherweise noch keine Antialkoholisten waren, empfahl er seinen Leuten auch hiebei Brot und Wein mitzunehmen. Den Alpinisten lockt aber in Mals nicht nur der Besuch der Heide und ihrer Nebentäler, sowie das bereits vorgenannte Matscher- und das Münstertal mit dem Wormser- und Scarl-Joch, sondern vor allem auch die Sesvennagruppe, in die man durch das Schlinigtal bei Marienberg eindringt. Die Pforzheimer haben sich in diesem Tale, vier Stunden oberhalb Mals, niedergelassen und von ihrer Hütte aus kann man den Piz Sesvenna (3207 m), den vergletscherten Hauptgipfel der Gruppe, und den Piz Lischianna (3109 m), einen altberühmten Unterengadiner 56


57


58

H


H Aussichtsberg, und die andern Gipfel dieses Gebirges, das bisher mit Unrecht vernachlässigt wurde, besteigen oder von ihr aus in wenigen Stunden nach Schuls-Tarasp absteigen. Freunde von Wagenreisen fahren von Mals in einer leichten, überaus genussreichen Tagesfahrt über die Malserheide, Nauders und Hochfinstermünz nach Landeck, wo ste beim Postmeister gut aufgehoben sind, oder zweigen in Nauders nach den berühmten Unterengadiner Kurorten Schuls und Vulpera-Tarasp ab, die sie in der gleichen Zeit erreichen. Auch nach Pontresina und Samaden fährt man von Mals über den Ofenpaß leicht in einem Tage, und wer früh aufsteht, kann jetzt sogar von Meran aus, die Eisenbahn und den Wagen benützend, in einem Tage dahin kommen. Ein weiterer aber überaus großartiger Weg führt im Anschlusse an die fahrt über das Stilfserjoch von Bormio und Tirano über den Berninapaß dahin.

59


die Stadtgräben von Glurns in freundliche Gärten und Anlagen verwandelt, in denen es sich gar sein „wie zu Urgroßvaters Zeiten“ lustwandeln läßt. ln Burgeis und in Laatsch, einem Dorfe am Eingänge ins Münstertal, in Schleiß bei Burgeis, in Tartsch und an anderen Orten der Umgebung von Mals und Glurns, gibt es manches zu sehen, was kunsthistorisch, und kulturgeschichtlich interessant ist, und wenn man sich in Mals oder Glurns auf längere Zeit niedergelassen, kann man manchen genussreichen Bummel in die Umgebung unternehmen. Kunstvolle alte Altäre, absonderliche holzgeschnitzte Heilige, bunte Fresken und reiche Täfelungen, merkwürdige alte Wohnhäuser und Kirchen, Türme, Erker und Giebeln gibt es überall im Vintschgau und auf Schritt und Tritt begegnet man Offenbarungen einfacher ursprünglicher Volkskunst, von heutiger Hausarbeit angefangen bis zurück in die ältesten Jahrhunderte.

Von Bormio nach Tirano haben aber die unternehmenden Italiener einen Automobilverkehr eingerichtet, der es leicht ermöglidit, von Trafoi aus in 1 1/2 Tagen an den Comersee und nach Mailand zu gelangen. ln Mals und Glurns laden einfache aber gute Hotels und Gasthöfe zum längeren Verbleiben ein, und der verstorbene Arzt Dr. Flora hat den sonnenverbrannten Hängen oberhalb Mals in jahrzehntelanger, unverdrossener Arbeit durch ausgedehnte planmäßige Aufforstungen, schöne schattige Anlagen abgerungen. Nun sind die der Stolz der Malser, die anfangs diese verdienstvollen arbeiten Dr. Floras belächelten und anfeindeten. Auch in Glurns hat ein Arzt, Dr. Plant,


61


Auch in Schlanders und Latsch und an andern größeren Orten des Vintschgaues ist man vortrefflich untergebracht und so kann man denn in bester Weise durch das ganze Vintschgau von Ort zu Ort, von Burg zu Burg und von einem Kirchlein zum andern ziehen. Wer bei solchen „empfindsamen Spaziergängen“ vom hohen Söller einer halbverfallenen Burg oder der Mauer eines alten Friedhofes herab sinnend in die schöne Landschaft hineinschaut, dem bevölkert sich das Tal mit den abenteuerlichsten Gestalten längst vergangener Zeiten und in nebelhaften Bildern sieht er das Leben ganzer Völker und die Kämpfe großer gewaltiger Kulturabschnitte an sich vorüberziehen; gar leicht vergißt er dabei der sportlichen Gegenwart, die von ihm in einem nahen Seitentale vielleicht die Schaffung eines neuen „hochalpinen Rekords“ oder die Lösung eines „großen hochtouristichen Problems“ erhofft. Wenn wir aber bei solchen Träumereien in die Zukunft blicken, so erscheint uns das Vintschgau in seinem unteren Teile, von Naturns bis über Schlanders hinauf, als ein einziger großer Obstgarten. Große Wasserkraftanlagen ragen an den Stellen empor, wo starke Gefälle oder die reichen Wasserkräfte der Seitentäler ihre Anlage begünstigen, und in staatlichen Ortschaften verarbeiten große Fabriken die Alpenprodukte und überreichen Obsternten. ln kurzen Zwischenräumen durchziehen rauchlos und rasch dahinrollende Züge die blühende Landschaft und lange, schwerbeladene Lastenzüge führen von der aufblühenden Stadt Schlanders weißen Marmor und die Landesprodukte in die Richtung nach Landeck und über den Ofenpaß in die Schweiz zu. In den großen Fremdenstationen des oberen Vintschgaues, in St. Valentin und in Reschen, stehen große Hotelpaläste und vornehme Villen, schöner und prächtiger, als man sie früher jemals im Lande sah, und zahlreicher, als einstens die Hütten der armen Bewohner der Heide daselbst zu finden waren. Selbst im Winter tummeln sich fröhliche Menschen auf den gefrorenen Seen und Skiläufer und Rodler bevölkern die verschneiten Hänge der Berge. Die mächtigen Stauwerke der Seen alimentieren das große Elektrizitätswerk der zu einer Stadt 62


KNOTEN PUNKT verschmolzenen Orte Mals und Glurns, welches den elektrischen Betrieb der neuen Ortlerbahn ermöglicht. Am Fuße des Ortlers, im Tale der Heiligen Drei Brunnen, gähnt das Portal des großen Tunnels dieser neuen Vollbahn, die den internationalen Verkehr von Innsbruck und Bozen an den Comersee und nach Mailand vermittelt: eine neue große Weltstraße unter dem Stilfserjoche durch. In das Schnalstal von Latsch nach Martell, nach dem Höhenkurorte Matsch und nach Langtaufers führen gute Straßen bis hart an die Gletscherregion hinan, und nach Sulden und zur Schaubachhütte eine Zahnradbahn, von der Station Gomagoi der Ortlerbahn abzweigend, und wo früher in diesen Seitentälern die Schutzhütten des Alpenvereines standen, erheben sich nun vielbesuchte Hotels. Selbst der Ertrag der Alpweiden hat sich um Vielfaches gesteigert und früher wertlose Bergwälder liefern reiches Erträgnis.Wie ein schöner, sonniger Frühling dringt höhere Kultur und intensivere Bewirtschaftung allenthalben und allmälig vom ersten Schienenstränge des Haupttales aufsteigend, bis zu den letzten Berghofen hinan, alles befruchtend und neues Leben erweckend!

63


64


Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.