9783865913616 Glaube ist kein Kochrezept

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Nancy Ortberg

Glaube ist kein Kochrezept Ăœberraschende Begegnungen mit Gott in ganz alltäglichen Momenten


Über die Autorin Nancy Ortberg war acht Jahre lang Pastorin in der Willow Creek-Gemeinde in der Nähe von Chicago. In dieser Zeit war sie im Leitungsteam der Dienstbereiche „D.I.E.N.S.T“ und „Axis“. Nancy ist ebenfalls als Rednerin tätig und hilft Christen dabei, ihren Glauben mit ihrem Alltag zu verbinden. Sie lebt mit ihrem Ehemann John in der Nähe von San Francisco und hat drei Kinder.


Nancy Ortberg

Glaube ist kein Kochrezept Überraschende Begegnungen mit Gott in ganz alltäglichen Momenten

Aus dem Englischen übersetzt von Maike Grabowski


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Die amerikanische Originalausgabe erschien im Verlag Tyndale House Publishers, Inc., Carol Stream, Ill., 60188, USA, unter dem Titel „Looking for God“.  2008 by Nancy Ortberg  2009 der deutschen Ausgabe by Gerth Medien GmbH, Asslar, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München Die Bibelzitate wurden folgender Bibelübersetzung entnommen: Gute Nachricht Bibel, revidierte Fassung, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung, © 2000 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart 1. Auflage 2009 Bestell-Nr. 816 361 ISBN 978-3-86591-361-6 Umschlaggestaltung: Hanni Plato Lektorat und Satz: Nicole Schol Druck und Verarbeitung: CPI Moravia


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Inhalt Anmerkung der Autorin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Das Dilemma mit der „Stillen Zeit“ . . . . . . . . Das auch noch? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wackelpudding . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pronomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gewöhnlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das B-Wort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schuhe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Können wir bitte mit diesem Gerede aufhören? . . . . . . . . . . . . . Jesus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Hätte ich doch nur …“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vergiss nicht, dich zu erinnern . . . . . . . . . . . . Vorbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Helden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Offen oder geschlossen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sehnsucht, Kummer und Schmerz . . . . . . . . . Alles, was ich brauche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17.

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18. Heilig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 19. Real . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 20. Anfang und Ende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204


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Anmerkung der Autorin Jede Lebensgeschichte steht in einem bestimmten Kontext und meine bildet da keine Ausnahme. In diesem Buch wird beispielsweise hin und wieder eine Gruppe namens Axis erwähnt. Von 1998 bis 2003 leitete ich diesen Dienstbereich in der Willow Creek Community Church in Barrington, im amerikanischen Illinois, und habe es als ein besonderes Privileg empfunden. Diese Arbeit war auf die „Generation der Achtzehn- bis Zwanzigplusjährigen“ ausgerichtet. Und die Zeit im Leitungsteam mit Steve, Heather, Daniel, Doug, Matt und Jarrett gehört zu den prägendsten Abschnitten meines Lebens.

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Vorwort Ich glaube, ich habe mein gesamtes bisheriges Leben damit verbracht, immer wieder neu zu begreifen, wer Gott wirklich ist. Oft habe ich ein falsches Bild von ihm. Wie sollte es auch anders sein, wo Gott doch so gewaltig und noch vieles mehr ist? Vielleicht brauchen wir dazu die Ewigkeit; ein normales Menschenleben reicht einfach nicht aus. Wahrscheinlich brauchen wir sogar eine Ewigkeit, um das Ausmaß unseres Gottes zu verstehen. Ich denke nicht, dass ich etwas Besonderes bin, na ja, schon, aber nicht in dieser Hinsicht. Unabhängig davon, ob wir tolle Eltern haben oder intensiv grübeln oder fühlen, unabhängig davon, wie viel wir lesen oder hören, wir werden es einfach nicht richtig erfassen. Wie sollte uns das auch gelingen? Er ist schließlich Gott, nicht ich. Deshalb wird das Erforschen und Entdecken auch kein Ende nehmen. Aber es ist auch spannend gewesen. Zu meiner großen Überraschung ist Gott nämlich viel guter, als ich dachte. Ja, ja, ich weiß, die Rechtschreibkontrolle meines Computers markiert sofort das Wort guter als un9


korrekten Sprachgebrauch, aber ich will das bewusst so sagen. In meiner Vorstellung galt Gott lange Zeit als griesgrämig, verärgert, distanziert, einer, der uns nichts gönnt. Aber da er nun mal Gott ist, entschied ich mich, es mit Fassung zu tragen. Und welch eine Freude war es, dann festzustellen: Ich lag falsch! In erinnere mich an einen Film aus den 1970ern: „Jahr 2022 … die überleben wollen“. Der amerikanische Schauspieler Charlton Heston spielte eine der Hauptrollen in diesem bedrohlichen Science-Fiction-Streifen. Der Film beschreibt in einem Zukunftsszenario, wie das Leben nach Jahrzehnten der Überbevölkerung und Umweltverschmutzung auf der Erde aussieht. Die Menschen leben eingeengt in heruntergekommenen Hochhäusern und ernähren sich von einem künstlich hergestellten Nahrungsmittel namens Soylent Green. Ackerbau wird schon lange nicht mehr betrieben. Für die dramatische Wendung am Ende hätte Heston eigentlich eine Oscar-Nominierung verdient; mich allerdings begeistert immer eine ganz besondere Szene kurz vor dem Ende. Edward G. Robinson spielt in dem Film Sol Roth, einen alten Mann, der seine winzige Wohnung mit Robert Thorn, der von Heston dargestellten Figur, teilt. Sol Roth ist ein belesener Literat und seine Büchersammlung ist seine einzige Erinnerung an eine bessere, freundlichere Welt. Um der gefährlichen und fortschreitenden Überbevölkerung des Planeten entgegenzutreten, bietet 10


die Regierung älteren Menschen einen besonderen Anreiz, damit diese sich freiwillig einschläfern lassen – ein ganz besonderes Abschlusserlebnis! Bevor ihnen die tödliche Injektion verabreicht wird, werden sie auf eine Krankentrage gelegt und in einen Raum mit einer großen Bühne gebracht. Im Austausch für ihr Leben dürfen sie visuelle und klangtechnische Erinnerungen von früher noch einmal erleben. Als Robert Thorn erfährt, dass Sol seinem Leben auf diese Weise ein Ende setzen will, rast er zu dem Regierungsgebäude, in dem Sol dieses letzte Erlebnis ermöglicht wird. Robert stürmt genau in dem Augenblick in den Raum, als auf den Leinwänden herrliche Sequenzen einer harmonischen, friedlichen Welt erscheinen. Robert kannte bisher nur die graue Welt, ohne jegliche Schönheit. Gemeinsam mit Sol schaut er verzückt, wie Blumen auf einer saftig grünen Wiese ihre Farbenpracht entfalten und Wild im Wald aus einem Bach trinkt. Er sieht schneebedeckte Berge und Meereswogen, die sich an der Küste brechen, alles untermalt von Vivaldis „Vier Jahreszeiten“. Beiden Männern laufen Tränen übers Gesicht. Robert Thorn schüttelt ungläubig seinen Kopf. Ihm wird bewusst, dass er keine Ahnung hatte. Woher hätte er es auch wissen sollen? Ich liebe dieses Staunen in seiner Stimme. So möchte ich auch reagieren, wenn ich über Gott nachdenke. Ich glaubte immer, eine ausgedehnte Stille Zeit würde mir dabei helfen. Hat sie aber nicht. 11


Ich habe hart gekämpft, um diesen Glauben zu bekommen, nach dem ich mich so sehnte, und diesen Gott zu entdecken, wie ich ihn in meiner Fantasie sah. Dabei habe ich ihn an völlig unerwarteten Orten erlebt. Diese Überraschungen haben mir mehr und mehr verdeutlicht, wer Gott ist. Ich fand heraus, dass der Gott der Bibel sich mir eigentlich erst gezeigt hat, als ich begann, das Gängige, das immerzu Gepredigte, zu hinterfragen. Mit meinem zunehmenden Verständnis von Gott wuchs auch mein Glaube – und manchmal beeinträchtigte das meinen geliebten Alltag. Nervig, ja – aber auch wunderbar. Vor Kurzem traf ich mich mit einem Mann aus unserer Gemeinde zum Mittagessen. Er war mit seiner Frau gerade aus Großbritannien in die USA gezogen, um eine Organisation zu gründen, die Gemeinden mit Produkten aus der Dritten Welt vertraut macht. Damit wollen sie den Teufelskreis der Armut durchbrechen. Ich fragte ihn nach seinen bisherigen Glaubenserfahrungen, und er berichtete, dass er zwar in einem christlichen Umfeld aufwuchs, in seiner Jugend aber zunehmend frustriert war. Dann leuchtete sein Gesicht vor Begeisterung, und er beschrieb, wie er den Weg zurück fand. Er berichtete von seiner Entdeckung dieses tollen, guten Gottes, der ihm vorher irgendwie entgangen war. Er nannte dies seine „neue Erkenntnis“. Ich wusste genau, was er meinte. 12


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Das Dilemma mit der „Stillen Zeit“ Als ich jünger war, betonten die Menschen immer wieder, wie wichtig die tägliche sogenannte „Stille Zeit“ sei. Diese sei die Basis des christlichen Glaubens und es ginge dabei darum, am Morgen intensiv Zeit mit Gott zu verbringen und sich ausgiebig mit einem Bibelabschnitt auseinanderzusetzen (30 Minuten waren dabei das Mindestmaß!). Ebenfalls hinzu kam noch eine Zeit des Gebets und möglichst das Notieren der Eindrücke und Gedanken in ein Gebetstagebuch. Hat man diese Stille Zeit gehabt – die Leute sagen das genau so: Sie „hatten“ ihre Stille Zeit –, erwähnt man dies beiläufig in einem Gespräch. Bescheiden, aber doch wertend, lässt man fallen, wie intensiv diese Stille Zeit mit Gott gewesen sei, was er sagte, welche Erkenntnisse über einen bestimmten Bibeltext man ganz neu gewonnen hat und welche wichtigen Inhalte detailliert notiert wurden. Man konnte auch sicher sein, dass andere Christen fast kontrollierend nachfragen würden: „Wie ist 13


es um deine Stille Zeit bestellt? Hat er durch sein Wort zu dir gesprochen?“ Die Stille Zeit war immer eine Messlatte der persönlichen Hingabe und geistlichen Reife, fast so, als hinge die Beziehung zu Gott allein von dieser morgendlichen Erfahrung ab. Aus diesem Grund hielt ich viele Jahre treu meine Stille Zeit. Nicht unbedingt jeden Tag, aber zumindest fast. Und immer, wenn ich sie mal einen Tag nicht hielt, war ich frustriert und bekam ein schlechtes Gewissen. Während meiner Stillen Zeit erwartete ich jeden Tag, dass etwas Tiefgreifendes geschehen würde, allerdings war dem meist nicht so. Und wenn ich mich mit anderen über ihre Stille Zeit austauschte, entsprach meine Erfahrung nie der ihren. Dann änderte sich mein Leben, und es folgten Jahre, in denen es keinen Raum für diese „Stille Zeit“ gab. Sie heißen diese letzte Aussage vielleicht nicht gut, aber das hier ist schließlich mein Buch, und ich muss eben ehrlich zugeben, dass ich während dieser besagten Jahre meine Stille Zeit nicht einmal hätte machen können, wenn mir jemand eine Pistole auf die Brust gesetzt hätte. Meine Tochter Laura war drei Jahre und Mallory gerade mal 18 Monate alt, als ich mit Johnny schwanger war. An stille Zeiten war nicht im Entferntesten zu denken! Schon der Gang alleine zur Toilette war eine Herausforderung, und wenn ich es tatsächlich mal dorthin geschafft hatte, dann zap14


pelten die Kinder vor der Tür, hämmerten dagegen und bettelten lautstark: „Mami, können wir reinkommen?“ „Nein.“ „Mami, wann kommst du wieder raus?“ „In einer Minute.“ „Mami, wann ist eine Minute vorbei?“ Bis zu diesem Zeitpunkt war mir auch nicht bewusst gewesen, was es heißt, gerädert aufzuwachen. Ständig wurde die Nachtruhe unterbrochen, weil die Kinder zahnten oder ihre Ohren wehtaten. Die Nächte bestanden aus kurzen Schlafintervallen – an Durchschlafen war nicht einmal zu denken. Immer wieder wurde ich durch das Weinen der Kinder geweckt, entweder weil sie vor Hunger jammerten oder weil sie irgendwelche Dummheiten planten, die mit Toilettenpapier und unserer Katze zu tun hatten. Tage und Wochen vergingen. Ich hatte weder Zeit für mich noch dafür, mich mit meiner Bibel zurückzuziehen. Wenn es tatsächlich mal einen Moment zum Durchatmen gab, konnte ich mich nicht auf einen Gedanken konzentrieren oder ich schlief einfach ein! Da nur mit einer entsprechenden Stillen Zeit eine tiefe Beziehung zu Gott möglich ist – so hatte man es mir ja immer eingeimpft –, geriet ich in Panik. Ich war in dieser Zeit als junge Mutter dringend auf Gott angewiesen, aber der Zugang zu Gott war mir wohl verwehrt, da 15


ich diese Art der Verbindung nicht so praktizieren konnte, wie sie angeblich gefordert wurde. Für mich stand fest, dass ich meine Gottesbeziehung wahrscheinlich erst wieder in sechs Jahren aufbauen konnte, wenn alle drei Kinder in der Schule waren. Oder ich musste eine andere Möglichkeit finden, mit ihm in Kontakt zu bleiben. Leider fiel mir keine ein. Aber Gott hatte einen Plan. Ich stand gerade in unserer Küche und plante unentschlossen das Abendessen. Laura und Mallory spielten auf dem Fußboden, wurden aber zum Ende des langen Tages zunehmend knatschiger und aufgedrehter. Meine fortgeschrittene Schwangerschaft machte mir ebenfalls zu schaffen und ich war total erschöpft. Da kam mir eine Idee: Bis zum Abendessen blieb noch etwas Zeit. Also setzte ich die Mädchen im Auto in ihre Kindersitze und fuhr mit ihnen zum Park. Dort konnten die beiden sich vor dem Abendessen noch ein wenig austoben. (Außerdem erhoffte ich mir etwas Zeit für mich, in der ich darüber nachdenken konnte, was ich später überhaupt kochen würde.) Ich setzte mich also auf eine Parkbank, während die Mädchen spielten. Mittlerweile war ich bereits so rund und behäbig, dass ich mich fragte, ob ich wohl schnell genug aufspringen könnte, wenn eines von ihnen in Not war. Ich hatte ursprünglich einfach 16


nur eine halbe Stunde Spielen eingeplant, aber Gott hatte einen anderen Plan. Er zeigte mir ein Fenster. Ich beobachtete, wie meine Mädchen im Sand spielten, ausgelassen herumhüpften und versuchten, Enten zu fangen. Die Sonne ging bereits langsam unter, sodass ich nur die Silhouetten meiner kleinen rothaarigen Töchter wahrnehmen konnte. Ich saß da und genoss dieses Bild. Plötzlich spürte ich, wie ich im tiefsten Inneren berührt wurde. Mir wurde bewusst, wie sehr ich doch meine Kinder liebte. Doch ich hatte nicht nur diese Erkenntnis, sondern erlebte auch eine ganz tiefgehende Reaktion. Hatte ich bis zu diesem Zeitpunkt eher angespannt auf der Bank gesessen, meinen Mädchen beim Spielen zugeschaut und wie sie vergnüglich rumalberten, hatte ich plötzlich das Gefühl, mein Herz müsste zerbersten, weil es dermaßen von Liebe für diese beiden Mädchen erfüllt wurde! Ich kämpfte mit den Tränen und hatte einen dicken Kloß im Hals. Es war ein überwältigendes Gefühl von inniger Liebe für meine Kinder. Als meine Emotionen mich so übermannten, sandte Gott einen Impuls, der mich völlig unvorbereitet traf, wie ein Schlag aus heiterem Himmel. Er machte mir deutlich: „Das, was du jetzt fühlst, ist nur ein Bruchteil der Liebe, die ich für dich empfinde.“ Die meisten Menschen wären bestimmt sehr dankbar, jemals eine solche Erfahrung machen zu dürfen. Dessen bin ich mir bewusst. Und sie würden 17


sicherlich entsprechend darauf reagieren. Aber aus irgendeinem Grund war in meinem Herzen wohl nicht genug Raum, um das Ausmaß dessen aufzunehmen, was Gott mir zeigen wollte. Es überstieg meinen Verstand. Diese Aussage beinhaltete mehr Güte und Gnade, als ich aufzunehmen vermochte. Es war mir einfach zu gewaltig. Laut rief ich: „Halt!“ Ich bin mir sicher, dass sich vorübergehende Spaziergänger über die hochschwangere Frau wunderten, die im Park Selbstgespräche führte. Jetzt konnte ich auch meine Tränen nicht länger zurückhalten. Ich rief die Mädchen, verfrachtete sie ins Auto und fuhr wieder heim. Ich wusste immer noch nicht, was ich zum Abendbrot kochen würde, geschweige denn, wie ich das Erlebnis mit Gott einordnen sollte. In seinem Brief an die Gemeinde in Ephesus schreibt Paulus, dass er für sie betet, damit sie begreifen lernen, wie unermesslich die Länge und die Breite, die Höhe und die Tiefe des geschenkten Heils und Gottes Liebe ist (Epheser 3,18). Ich finde es faszinierend, dass er nicht nur dafür betet, dass sie die Unermesslichkeit von Gottes Liebe verstehen würden, sondern auch dafür, dass Gott ihnen die erforderliche Kraft gibt, es zu verstehen. In den darauffolgenden Tagen beschäftigte mich immer wieder dieser Moment auf der Parkbank und meine Gedanken kreisten um das Erlebte. Mit der Zeit wurde mir bewusst, dass sich ein Teil meines 18


Herzens wohl eine Teflon-Beschichtung zugelegt hatte. Damit schützte es sich vor Verletzungen. Aber mit der Zeit wurde es damit auch unempfindlich für das, was es wirklich brauchte! Gott hatte einen Augenblick, in dem ich völlig offen war, dazu genutzt, diese Schutzschicht zu durchbrechen und meinem Herzen das zu geben, wonach es verlangte. Gott wusste, dass ich ein tiefgehendes Verständnis und Bewusstsein seiner Liebe für mich brauchte. Aber für mich war das alles so ungewohnt, überraschend und fremd, dass meine spontane Reaktion aus einem lauten „Halt!“ bestand. Ist es nicht absurd, dass wir oftmals genau das ablehnen, wonach wir uns am meisten sehnen? Ich war innerhalb der Mauern meines eigenen begrenzten Verständnisses von Liebe regelrecht gefangen. Aber Gott durchbrach diese Mauern – er schuf ein Fenster – und gewährte mir einen kurzen Eindruck seiner überwältigenden Liebe. Dann machte er mir deutlich, dass es genau das war: ein kurzer Eindruck, der nur einen klitzekleinen Bruchteil seiner Liebe zeigte. Mich überforderte jedoch schon allein dieser kurze Blick, zumindest am Anfang. Manchmal ist es bei Fenstern eben so – wir schauen auf Dinge, die wir nicht wahrhaben wollen, wenden schnell unseren Blick wieder ab, um dann später doch noch mal hinzusehen. Ich wusste, dass ich nicht wirklich in der Lage war, das Ausmaß dessen, was Gott mir an die19


sem Tag offenbart hatte, vollständig zu erfassen. Aber noch etwas anderes wurde mir bewusst: Es war schon sehr lange her, dass ich diese enge Verbundenheit mit Gott gespürt hatte. Es gab Wochen und Monate, in denen ich treu meine Stille Zeit einhielt und niemals eine so tiefe Gotteserfahrung erlebte. Ich hatte in der Bibel gelesen, meine Gedanken dazu niedergeschrieben und sogar mit anderen Menschen über diese Bibelstellen geredet, aber niemals hatte ich die Gegenwart Gottes derart intensiv erfahren. Diese kurze Begegnung mit Gott im Park überstieg alles, was ich jemals zuvor in meiner Stillen Zeit erlebt hatte. Gott öffnete mir die Augen. Ich begriff, dass es sehr wohl viele andere Möglichkeiten gibt, meine Beziehung zu ihm zu intensivieren, so viele verschiedene Möglichkeiten, ihn zu erfahren. Und eine Parkbank zählt genauso viel wie die morgendliche Stille Zeit. Diese Erkenntnis war für mich revolutionär. Mir wurde allmählich klar, dass ich Gott all die Jahre aus einer völlig eingeschränkten Perspektive gesehen hatte. Ich hatte unsere Beziehung auf die 30-minütigen Begegnungen am Morgen reduziert. In Wahrheit hatte er jedoch gewartet, bis ich verstand, dass er in allen Phasen meines Tages präsent ist – ich muss nur aufmerksamer sein. Von nun an begann ich, überall „Stille Zeiten“ zu pflegen. Kurz darauf besuchte ich mit meinem Mann John 20


das Musical „Les Misérables“. Gegen Ende des Stückes, der Held Jean Valjean ist dem Tode nahe, singt er seiner Adoptivtochter Cosette etwas vor: „… to love another person is to see the face of God“ – die Liebe zu einem anderen Menschen lässt uns in das Antlitz Gottes schauen. Diese Szene rührte mich zu Tränen. Da ich eigentlich keine Heulsuse bin, erkundigte sich John sofort nach dem Grund. „Das ist einer der wahrsten und schönsten Sätze, die ich je gehört habe. Eigentlich gehört er in die Bibel. Schade, dass Gott ihn nicht in seinem Wort aufgeschrieben hat.“ Ein paar Wochen später kam John zu mir, schlug die Bibel auf und las mir 1. Mose 33, Vers 10 vor. Es waren die Worte Jakobs, der nach langer Zeit in der Fremde wieder auf seinen Bruder Esau traf: „Als ich dir ins Gesicht schaute, war es, als würde ich Gott selbst sehen, so freundlich bist du zu mir“ (Hfa). Ich war überglücklich zu sehen, dass Gott meinen Vorschlag, diesen Vers in die Bibel aufzunehmen, schon im Vorfeld aufgegriffen hatte. Wenn ich jetzt gute Freunde traf, dachte ich oft, dass ich damit auch in Gottes Antlitz sah. Auch eine Form der Stillen Zeit. Wann immer ich in den Genuss eines guten Essens kam, insbesondere wenn ich es nicht selbst zubereiten musste, war ich beeindruckt von der Genialität und Großzügigkeit Gottes: von all den Farben, unterschiedlichen Geschmacksrichtungen, der Kon21


sistenz von Avocado, roter Paprika oder Barsch. Alles von Gott erschaffen. Er hätte die Lebensmittel einfach nur nahrhaft machen können. Für das Funktionieren unseres Körpers wäre es durchaus ausreichend gewesen, wenn alles, was wir essen, nur den Geschmack von Brot und Milch gehabt hätte. Es gibt wirklich keine Notwendigkeit für diese unterschiedlichsten Geschmacksrichtungen und -empfindungen, die wir beim Essen genießen. Und dennoch hat Gott sich das so ausgedacht. Steve Evans, ein berühmter christlicher Philosoph, sagt, dass möglicherweise Bananentorte der beste Beweis für die Existenz Gottes sei. Da kann ich Steve nicht widersprechen! So wie ich Gott in meinen Freunden und Kindern entdeckte, stellte ich fest, dass auch eine Mahlzeit eine Stille Zeit werden kann. Durch mein geschärftes Bewusstsein und diese neue Dankbarkeit für Haferbrei mit braunem Zucker, Feigen und Orangen, einen gemischten grünen Salat mit Pilzen oder Meerrettichsoße auf einer hauchdünn geschnittenen Scheibe Lachs dachte ich intensiv über das Wesen Gottes nach. Dadurch verstand ich, was Psalm 34, Vers 8 bedeutet, wo wir aufgefordert werden, zu „schmecken und zu sehen“, dass der Herr gütig ist. Ich denke, dass wir uns in unserem Glaubensleben oft selbst unter Druck setzen. Wir bestimmen, wie die Stille Zeit für alle auszusehen hat, legen großen Wert auf die exakte Einhaltung der Regeln und 22


prahlen anschließend damit. Wir machen strikte Vorschriften: mindestens dreißig Minuten am Morgen, Gebet, Lobpreis, Sündenbekenntnis, Danksagung und Fürbitte inklusive. Und das halten wir dann anschließend natürlich auch alles schön schriftlich in unserem Büchlein fest. Ich kann mich noch lebhaft daran erinnern, wie es war, als mir bewusst wurde, dass Jesus niemals ein solches Buch führte: Ich war im Auto unterwegs, und als mir dieser Gedanke durch den Kopf schoss, hinterfragte ich ihn sofort. Das kann doch nicht sein. Als ich es schließlich einsah – Jesus führte kein Gebetstagebuch –, fuhr ich rechts an den Straßenrand und wusste nicht, ob ich laut lachen oder weinen sollte. Ich glaube nicht, dass es falsch ist, sich Notizen zu machen. Ich meine nur, es ist nicht gut, wenn wir daraus eine geistliche Pflichtübung machen. Mein Mann schreibt konsequent alle seine Gedanken auf. Für ihn und seine Beziehung zu Gott ist das sehr hilfreich und diese Gewohnheit stärkt ihn. Bei mir ist das anders. Mir persönlich fällt das Schreiben schwer. Für mich ist es lästig – wie eine nervige Hausaufgabe, die ich machen muss, um ja keinen Eintrag zu bekommen. Außerdem rasen meine Gedanken regelrecht; meine Hand würde beim Aufschreiben hinterherhinken. Ich glaube auch nicht, dass es verkehrt ist, eine Stille Zeit zu halten. Ganz im Gegenteil! Meine Stille 23


Zeit sorgt dafür, dass meine Beziehung zu Gott intensiver ist und sie verändert meinen Charakter. Aber wenn sie einengt, zwanghaft durchgeführt und nur zur reinen Routine wird, kann die Stille Zeit auch eher eine Blockade als eine Hilfe sein. In der Bibel werden viele Vergleiche zwischen dem geistlichen Leben eines Christen und dem Training eines Profi-Sportlers angeführt. Als Nachfolger Jesu sollten wir in mehreren Disziplinen trainiert und fit sein. Leichtathleten trainieren auch nicht nur eine bestimmte Körperregion, sondern müssen im Ganzen eine Topform aufweisen. Wenn wir unsere geistliche Routine aufgeben und es wagen, Abwechslung zuzulassen, werden wir ein viel umfassenderes Verständnis unseres großartigen Gottes gewinnen. Ist der Gedanke nicht toll, dass wir von dem Augenblick an, wenn wir morgens aufwachen, über den Tag hinaus und bis zum Abend, wenn wir uns wieder ins Bett kuscheln, unzählige Möglichkeiten haben, unserem außergewöhnlichen Gott zu begegnen? Vor nicht allzu langer Zeit waren wir zum Yosemite-Nationalpark in Kalifornien unterwegs. Nachdem wir durch den Wawona-Tunnel gefahren waren, erreichten wir eine Haltebucht mit einem besonders schönen Aussichtspunkt. Es parkten bereits unzählige Autos dort, und viele Menschen nutzten die Gelegenheit, um Fotos zu machen. Auch wir stiegen aus und ich war von diesem prächtigen Ausblick überwältigt. Das Yosemite Val24


ley erstreckte sich unter uns. Linker Hand, atemberaubend und erhaben, die Steilwand El Capitan aus Granit und zur Rechten der Half Dome und die Bridal Veil-Wasserfälle. Kein Schild ermahnte die Besucher dazu, ruhig zu sein, dennoch herrschte eine ergriffene Stille. Es schien, als wären wir alle gebannt vor Bewunderung für das, was Gott hier erschaffen hatte. Als ich ins Tal blickte, wurde mir erneut bewusst, dass hier ein genialer Schöpfer am Werk war, der sich fortwährend um das Universum kümmert, während ich nur mit meinem kleinen, einfachen Leben beschäftigt bin. Die von ihm erschaffene Schönheit ist absolut überwältigend und doch eigentlich wieder nur eine klitzekleine Impression seiner Größe und Vollkommenheit. Und für mich war das Stille Zeit Und das zählt.

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