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Jeanne Dennis und Sheila Seifert

Elisabeth – Aufbruch ins Land der Zarin Roman


Über die Autorinnen Jeanne Dennis ist Autorin und Herausgeberin der Onlinemagazine Barefoot Path und Barefoot Kids. Sheila Seifert ist Autorin bzw. Koautorin von insgesamt 15 Büchern. Darüber hinaus unterrichtet sie kreatives Schreiben und Literatur an Schulen und Universitäten.


Jeanne Dennis und Sheila Seifert

Elisabeth Aufbruch ins Land der Zarin Roman


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Die amerikanische Originalausgabe erschien im Verlag Kregel Publications ������������������ unter dem Titel „Marta’s Promise“. © 2006 by Jeanne Dennis und Sheila Seifert © der deutschen Ausgabe 2009 by Gerth Medien GmbH, Asslar, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München Aus dem Englischen übersetzt von Marianne Magnus. Die Bibelzitate wurden, sofern nicht anders angegeben, der folgenden Bibelübersetzung entnommen: Gute Nachricht Bibel, revidierte Fassung, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung, © 2000 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart (GN) ������������

1. Auflage 2009 Bestell-Nr. 816 292 ��������������������������������������� ISBN 978-3-86591-292-3 �������������������������������������������������������������������� ��������������������������������������������

Covergestaltung: Hanni Plato Coverfoto: Getty Images, Farhad J Parsa/ Getty Images, Claude Joseph Vernet Satz: Mirjam Kocherscheidt; Gerth Medien GmbH Druck und Verarbeitung: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany


Für Axel und Beverly Johnson, die mir deutlich gemacht haben, wie wichtig die eigene Familie und Geschichte ist. – Sheila Seifert –

Für meinen Mann Steve, den Helden meines Herzens. – Jeanne Dennis –



Historischer Hintergrund

iI 1765 besaß der deutsche König Friedrich II. noch keine nennenswerte Macht. Der deutsche Staat bestand damals aus mehr als dreihundert eigenständigen Kleinstaaten, Königreichen, Ländereien und Provinzen, die jeweils von ihrem eigenen Reichsfürsten regiert wurden. Die Söhne der Bauern mussten auf Geheiß ihrer Fürsten in die Schlacht ziehen und deren Kriege austragen, so zum Beispiel den Hundertjährigen Krieg, den Ersten Schlesischen Krieg (1740-42), den Zweiten Schlesischen Krieg (1744/45) und den Dritten Schlesischen Krieg bzw. Siebenjährigen Krieg (1756-63). Die Kriege waren so zahlreich und es verloren so viele junge Männer ihr Leben, dass es den Fürsten schon bald an körperlich tüchtigen Arbeitskräften für die Landwirtschaft mangelte. Ebenfalls in diese Zeitepoche hinein fielen die zahlreichen Kämpfe zwischen den papsttreuen Katholiken und den Anhängern Luthers. Diese lösten eine verheerende Welle der Gewalt aus. Viele Fürsten versuchten dem Blutvergießen ein Ende zu setzen, indem sie ihre Untertanen dazu zwangen, ihren jeweils eigenen Glauben anzunehmen. Diejenigen, die nicht konvertierten, wurden entweder verfolgt oder mussten ihre Heimat verlassen. Die Papsttreuen lebten vornehmlich in den südlichen Gebieten Deutschlands, die Lutheraner mehrheitlich im Norden. Daher waren die Lutheraner eher im Süden Schikanen ausgesetzt, während die Anhänger des Papstes eher im Norden unter Verfolgung zu leiden hatten. Inmitten dieser Zeit der Umwälzungen gelangte Katharina II. (1729-1796), die einem deutschen Fürstenhaus entstammte und die später als Katharina die Große in die Geschichte eingehen sollte, nach der Ermordung ihres Gatten auf den russischen Zarenthron. Sie rief ihre deutschen Landsleute dazu auf, nach Russland zu kommen und dort die weiten und unwirtlichen 7


Steppengebiete an der Wolga zu besiedeln. Die neuen Siedler sollten nicht nur das Land bewirtschaften, sondern auch als Schutzschild fungieren zwischen dem russischen Volk und den wilden Nomadenstämmen, die die russischen Grenzen bedrohten. In den deutschen Staaten warb Russland mit Privilegien, darunter die Befreiung vom Militärdienst, kostenlose Landzuteilung, die Zuteilung von Häusern und Übernahme der Reisekosten für alle, die emigrieren wollten. Sogar ledige Frauen konnten diese Privilegien in Anspruch nehmen. Doch auch der deutsche Adel hatte dringenden Bedarf an Bauern für die Arbeit in der Landwirtschaft. Daher setzte der Kaiser für Menschen, die auswandern wollten, schwere Strafen aus. Einige deutsche Fürsten leisteten dem Erlass Folge, andere wiederum taten es nicht. Trotz des gesetzlichen Verbotes und der Aussicht, eventuell aufgrund von dessen Missachtung getötet zu werden, siedelten in den Jahren 1765–1768 schätzungsweise 30 000Männer, Frauen und Kinder, d.h. ungefähr 8 000Familien, nach Russland um. Die deutsche Einwanderung nach Russland wurde von russischen Beamten organisiert, die Werber (zumeist Franzosen) anheuerten, die die Sippen auf der Reise über die Ostsee nach Kronstadt, einer Stadt auf einer russischen Insel im Golf von Finnland, begleiteten. Um ihr Stück Land und ein Haus zu erhalten, mussten sich die Immigranten in Kronstadt registrieren lassen, ungeachtet dessen, wo sie sich anschließend niederließen. Einige Siedler mussten monatelang in notdürftigen Behausungen aus Sträuchern und Ästen ausharren, bis man ihnen endlich gestattete, nach Russland einzureisen. Viele der Reisenden erhielten jedoch nach ihrer Registrierung keineswegs die versprochene Unterkunft, Werkzeug und Vieh. Auch allein reisende Frauen erhielten nichts, es sei denn, sie waren verheiratet. Mittlerweile waren jedoch die meisten so weit von zu Hause entfernt, dass sie entweder nicht die Mittel oder die Kraft zur Umkehr hatten. Russland schickte Soldaten aus, die diesen Gruppen Geleit geben sollten, um sie angeblich 8


vor den einfallenden Nomadenstämmen zu beschützen; in Wirklichkeit aber wollte man sie davon abhalten, wieder in die deutsche Heimat zurückzukehren. Die Immigranten sahen sich den Widrigkeiten des rauen Klimas ausgesetzt, mussten Armut erdulden und standen der fremden Kultur mit Argwohn gegenüber, die ihnen barbarisch und primitiv erschien und die auf sie herabsah. Auch wenn die folgende Geschichte und die darin vorkommenden Figuren rein fiktiv sind, so wird doch der Mut und die Entschlossenheit der deutschen Pioniere deutlich, die sich ein neues Leben an der südlichen Wolgaregion aufzubauen versuchten. Die russischen Personen- und Ortsnamen variieren je nach Quelle. Der Name „Kronstadt“ findet sich zum Beispiel auch als „Cronstadt“ oder „Krohnstadt“. Wir haben lediglich die Schreibweise gewählt, die wir bevorzugen.

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1 iI 1766 Der frostige Aprilwind peitschte eine Strähne ihres braunen, seidigen Haars über Elisabeth Ebels Wange, als wolle er sie dafür strafen, dass sie ihr Heimatland im Stich gelassen hatte. Äußerlich unterschied sie sich mit ihrem handgesponnenem braunen Gewand, der weißen Schürze, der weißen Haube und dem Mantel aus Wolle in nichts von den vielen anderen deutschen Frauen, die sich am Lübecker Pier zusammen drängten. Sie jedoch hatte keine Verwandten mehr, die ihr dabei hätten helfen können, ihre Habseligkeiten nach Russland zu bringen. Elisabeth tastete vorsichtig mit ihrer Hand nach den Dokumenten, die sie in den Bund ihres Rocks gesteckt hatte, und streckte ihr Kinn vor. Auch wenn sie die Buchstaben auf diesem Papier, das ihr ein neues Leben verhieß, nicht entziffern konnte, wusste sie, dass Russland unverheirateten Frauen eine ansehnliche Zukunft bot. In den einzelnen deutschen Fürstentümern hingegen genossen Frauen ohne Familie keinerlei Schutz und hatten nur ein elendes Leben in Knechtschaft oder Schande zu erwarten. Warum sollte es Verrat sein, ein besseres Leben zu erstreben?, fragte sich Elisabeth, während sie auf den kleinen Hans Schulze hinabblickte, dessen kindliche dicke Fingerchen ihren Handrücken berührten. Sein blondes Haar wehte in der Brise und erinnerte sie an Wilhelm, ihren Bruder, als er noch ein Kind gewesen war. Wilhelm war von dem Landesfürsten ihrer Heimat entführt worden, damit er in einer seiner zahlreichen Schlachten für ihn kämpfte. Seitdem hatte sie ihren jüngsten Bruder nie wieder gesehen. Hans blickte sie strahlend an. Anscheinend ahnte er weder etwas von dem schmutzigen Fleck auf seiner Wange noch von den Gefahren der bevorstehenden Reise. „Schauen Sie, Fräulein Ebel!“, sagte der Fünfjährige. Die freudige Erregung in seinen hellen, blauen Augen spiegelte die 11


Hoffnung in ihrem eigenen Herzen wider. Er deutete in Richtung Hafen, wo die turbulenten Wellen die Schiffe hin- und herschaukeln ließen. „Heute werden wir auf einem sooo großen Schiff segeln! Hoffentlich geht es bald an Bord!“ „Ja, das hoffe ich auch“, stimmte Elisabeth zu. Sie blickten vom Pier hinab auf das Ruderboot, das sie zur Maria Sophia bringen sollte. Es knarrte verdächtig, als ein weiterer Passagier sich auf den hölzernen Planken niederließ. „In deinen stattlichen Stiefeln und deiner Jacke siehst du aus wie dein Vater!“, sagte sie zu Hans. Hans unterdrückte ein Lächeln und wischte mit einer Hand über seine weißen Manschetten. Er machte einen kleinen Schritt auf die Kante der Mole zu. Elisabeth war ungeduldig. Für sie stand viel auf dem Spiel, und es fiel ihr schwer, vom Landungssteg aus zuzuschauen, wie die anderen Auswanderer einer nach dem anderen umständlich in das Ruderboot hinabstiegen. Ihr Blick glitt forschend über den Kai und die erwachenden Straßen Lübecks hinweg. Mit jedem Augenblick, der verstrich, schien ihre innere Anspannung größer zu werden. „Na, wird’s bald!“, wollte sie fast schon rufen, als sich ein Mann umständlich in das schaukelnde Boot hinabließ. Doch sie schwieg. Endlich warf Herr Schulze, unter dessen schwarzen, abgewetzten Hut helles Haar hervorguckte, sein Bündel ins Boot und machte Platz, damit seine Frau ebenfalls die Leiter hinabsteigen konnte. „Zuerst deine Mutter und dann du, Hans!“, befahl er. Frau Schulze schickte sich gerade an hinabzuklettern, hielt dann aber plötzlich inne. Es schien, als werde ihr erst jetzt bewusst, dass dies ihre letzte Berührung mit deutschem Boden sein würde. Sie war eine einfache Frau, deren große, einfühlsame Augen immer nur das Beste in einem Menschen zu sehen schienen. Wenn ihre Lippen sich zu einem Lächeln formten, was sie häufig taten, steckte sie andere mit ihrer Freude an. Sie ließ ihren 12


Blick ein letztes Mal über Lübeck streifen, bevor er auf ihrem Sohn und ihrem Mann haften blieb. „Nur zu, Mutter!“, rief Hans. Frau Schulze stieß ein kleines nervöses Lachen aus und setzte vorsichtig zuerst den einen, dann den anderen Fuß in das Boot. In diesem Moment schrie der Steuermann laut: „Ruder klar machen!“ Ein hölzernes Ruder schlug gegen den Pier und versetzte dem Boot einen so plötzlichen Ruck, dass Frau Schulze das Gleichgewicht verlor und auf dem Schoß einer Mitreisenden landete. Elisabeth schaute nach unten auf das kleine Boot und blickte sich dann hastig nach den anderen Menschen auf dem Hafendamm um, die hinter ihr warteten. Die Ruderbewegungen der Seeleute waren sehr unregelmäßig. „Auf! Zum Schiff!“, rief der erste Steuermann. Sobald Frau Schulze ihr Gleichgewicht wiedererlangt hatte, rief sie: „Kehren Sie um! Sie haben meinen Mann und meinen Sohn zurückgelassen!“ Doch die Ruder tauchten in einförmigen und klatschenden Bewegungen in das Wasser ein und hoben sich wieder hinaus. Da die Männer keine Anstalten machten, auf sie zu hören, lehnte sich Frau Schulze vornüber, so als wolle sie gleich ins Wasser springen und zurück an den Pier schwimmen. Herr Schulze schrie ihr zu: „Nein, Greta, bleib, wo du bist! Wir kommen zu dir.“ „Mutter!“, schrie nun auch Hans. Ein Mann mit grauem Haar und mit einem glasigen Blick – anscheinend war er betrunken – stieß Elisabeth zur Seite, sprang ins eiskalte Wasser und schwamm auf das Boot zu. Hans wandte sich an seinen Vater. „Warum schwimmen wir nicht auch zu Mutter?“ Aber sein Vater hielt ihn zurück. „Es ist zu kalt“, erklärte Elisabeth. „Ihr würdet das Schiff nicht erreichen.“ Kaum hatte sie ausgesprochen, hörte sie die Leute hinter sich flüstern: „Soldaten! Da kommen Soldaten.“ In diesem Moment hörte sie das Platschen, als Frau Schulze ins Wasser sprang. 13


Herr Schulze schob Hans zu Elisabeth hinüber. „Pass auf Hans auf. Ich komme ihn später holen.“ Noch bevor sie zustimmen konnte, sprang auch er ins Wasser, um zu seiner Frau zu gelangen. „Vater!“, schrie Hans. „Mutter!“ Die anderen Auswanderer ergriffen ihre Habseligkeiten und stoben in alle Richtungen in die kopfsteingepflasterten Straßen Lübecks auseinander. In Elisabeths Kopf schwirrten die Gedanken wild durcheinander. Sie nahm alles auf einmal wahr: den schreienden Hans, polternde Schritte auf dem knarrenden hölzernen Pier, Flüchtende überall. Es war ihr, als ob sie die schrillen Angstschreie ihrer Mutter wieder hörte. Schlimmer noch: Sie sah das Bild ihres Vaters vor sich, der sich still in alle Ungerechtigkeiten fügte. Sie presste ihre Hand auf das Dokument in ihrem Rockbund, das ihr freies Land garantierte. Sie würde nicht aufgeben, wie ihre Mutter und ihr Vater es getan hatten. Sie würde durchhalten. „Mutter ist in Sicherheit“, erklärte ihr Hans. Die Matrosen hatten Frau Schulzes Rock aus der Riemendolle befreit und sie in das Boot zurückgehievt. Als Herr Schulze sah, dass seine Frau wieder im Boot war, machte er kehrt, um den betrunkenen Mann zu retten, der nun seinerseits um Hilfe rief. Herr Schulzes Stimme war halb durch das Wasser erstickt, als er ihr zurief: „Elisabeth! Flieh! Versteck dich!“ Eilig schlang sich Elisabeth ihre Segeltuchtasche über die Schulter und packte den Rest der Taschen mit einer Hand, während sie Hans’ Arm mit der anderen ergriff. „Schnell!“ Hans umklammerte sein Bündel. „Aber Vater –“ Es blieb keine Zeit für lange Erklärungen. Sie hasteten über die morschen Holzbohlen, wobei sie versuchten, nichts zu verlieren. Ihr Gepäck war alles, was sie besaßen. Am Rande des Stegs sah Elisabeth bereits die ersten roten Jacken und schwarzen, dreieckigen Hüte näher kommen. Hans schnappte erschrocken nach Luft. „Soldaten!“ Der Tross bewegte sich entlang des Flussufers auf sie zu. Elisabeth lockerte 14


ihren Griff und ließ dann ihre Bündel fallen – die letzte Verbindung zu ihrer Vergangenheit und der Beweis dafür, dass sie eine Auswanderin war. Die Taschen glitten mit einem dumpfen Geräusch auf den Boden. Sie entriss Hans seine Siebensachen und warf sie weg. Hand in Hand eilten sie auf die engen Gässchen Lübecks zu und verschwanden darin.

 Karl Müller stand vor einer Hufschmiede und biss genüsslich in ein noch warmes Brötchen, als er die flüchtenden Auswanderer bemerkte, die durch den Torbogen zum Hafen an ihm vorbei in die Stadt stürmten. Karl fuhr mit der Hand durch sein schwarzes Haar und kaute andächtig. Herr Schmidt hatte die Leute, die Emigranten anheuerten, mit bösen Namen belegt. Wenn Schmidt die Auswanderer erst einmal so weit hatte, dass sie die Verträge unterzeichnet hatten, scherte er sich nicht mehr um sie. Karl nahm einen weiteren Bissen von seinem Brötchen und fegte die Krümel von seiner braunen Seidenweste. Er konnte jetzt für keinen von ihnen mehr etwas tun. Außerdem hatte er mit sich selbst genug zu tun. „Wir werden alle sterben!“, schrie eine Frau, als sie an ihm vorbeieilte. „Nein!“, murmelte Karl vor sich hin. „Ihr werdet nicht sterben. Aber vielleicht werdet ihr bald noch wünschen, ihr würdet sterben.“ Es war grauenvoll, im Gefängnis eines Fürsten zu verschmachten und elendig zu Grunde zu gehen. Aus den Falten seines Hemdes zog er eine kleine goldene Schatulle, die er am Abend zuvor in einer Wette mit einem Offizier gewonnen hatte. Der Soldat hatte so getan, als ob er das Schmuckkästchen mit dem kunstvoll eingravierten S heiß und innig liebte. Karl dachte, dass er vielleicht seinen Nachnamen wieder ändern könnte, sodass er mit einem S begann. In Spanien hatte er sich schließlich Hernández und in England Moore genannt, während er in den deutschen Staaten Müller hieß. Sein eigentlicher Familienname war zwar französisch, doch seit seiner Kindheit hatte er ihn 15


nicht mehr benutzt. Er würde sich Gedanken über einen russischen Nachnamen machen, der mit einem S anfing. Der Geruch von Fisch wehte vom Eingang des Fischgeschäftes neben der Schmiede herüber und schien einen weißen Storch von einem nahe gelegenen Dach herbeizulocken. Eine junge Frau mit geröteten Wangen bog um die Ecke und hielt mitten auf der Straße mit dem roten Kopfsteinpflaster an. Karl ließ das goldene Schmuckstück in seine Hemdtasche zurückgleiten und hob die Augenbrauen. Ihre Haare waren braun und so fein, dass es einem Mann sicher Spaß machen würde, ihr mit den Händen durchs Haar zu fahren. Bis auf ein paar wenige, lose herabhängende Strähnen war es streng zurückgekämmt und unter einer weißen Haube versteckt. Ihre Kleidung war schlicht; sie trug eine Schürze und einen wollenen Mantel von der Art, wie ihn die Auswanderer trugen, die aus den süddeutschen Staaten kamen. Sie war nicht sehr viel größer als das Kind, dessen Hand sie umklammert hielt. Mit einem nervösen Rundumblick trat sie vor und sprach Karl mit sanfter, ruhiger Stimme an: „Ich brauche Ihr Fass. Was wollen Sie dafür haben?“ Karl schaute sich um. „Das neben der Kiste?“ Ausrangierte Taurollen hingen über den Rand des Fasses, was dazu führte, dass es etwas wackelig da stand. „Ja.“ „Die Taue sind aber nichts wert!“, entgegnete er. „Das tut nichts zur Sache“, antwortete sie. „Ich brauche nur das Fass.“ Karl fand ihre Bitte töricht, bis ihm klar wurde, was sie eigentlich wollte. Er warf den Rest seines Brötchens auf den Boden und griff nach dem Tauwerk. Während andere panikartig schrien und ziellos in Sackgassen rannten, hatte diese Frau einen Plan. Er ergriff noch einen Arm voller Taue und warf sie obenauf. Ohne um Erlaubnis zu fragen fasste er die Frau um die Hüfte und hob sie in das Fass hinein. Sie schenkte ihm ein flüchtiges Lächeln, bevor sie in dem großen Fass versank. 16


Flugs hob Karl das Kind ebenfalls hoch und setzte es auf den Schoß seiner Mutter. „Bleibt mit euren Gesichtern dicht am Spundloch, damit ihr atmen könnt.“ Er warf ein wettergegerbtes Stück Segeltuch über das Fass und legte einige der Trosse zurück an ihren angestammten Platz. „Was treibst du denn da?“, rief der Hufschmied und lugte aus seinem geöffneten Fenster heraus. „Ich warte darauf, dass mein Pferd beschlagen wird“, gab Karl zur Antwort. „Bist du’s, Müller?“ Der Hufschmied streckte seinen Kopf noch ein wenig weiter aus der kleinen Fensterluke heraus. „Dachte schon, es wär einer von diesen verräterischen Auswanderern. Kann ich nicht hier brauchen. Werd meine Schmiede nicht von den Soldaten in Beschlag nehmen lassen für das Gesindel!“ „Ja, das wäre ein schlechtes Geschäft!“, bekräftigte Karl. Unten an der Straße fielen die Türen zu den Häusern und Läden ins Schloss und schienen den fliehenden Auswanderern sagen zu wollen: „Ihr seid verraten und verloren!“ Karl fuhr fort: „Steht mein Pferd schon bereit?“ Der Hufschmied murmelte eine unverständliche Antwort und verschwand vom Fenster. Karl lehnte sich gegen das Fass. Auch wenn es aussah, als ob es sich gefährlich zur Seite neigte, stand es doch fest zwischen einer mit Altmetall gefüllten Kiste und einem Ballen Stroh. Das Versteck war genial. Eine Frau, die unter Druck so klar denken konnte, und ein Junge, der so klug war, seine Angst zu unterdrücken und nicht viele Fragen zu stellen, mochten sich für ihn womöglich noch als sehr nützlich erweisen. Außerdem war die Frau . . . nun, sie war hübsch. Ihre großen blauen Augen hatten bereits seine Aufmerksamkeit erregt, noch bevor sie ihre Findigkeit unter Beweis gestellt hatte. Er hatte nach einer Möglichkeit Ausschau gehalten, wie er selbst möglichst gefahrlos nach Russland gelangen konnte. Und nun war er auf eine fertige Familie gestoßen. Er lächelte. Der stramme Marschschritt der Soldaten hallte zwischen den Gebäuden wider. Das Hochgefühl des Risikos ließ seine 17


Stimmung steigen. Karl stand allein auf der menschenleeren Straße. Obwohl ihm klar war, dass er verschwinden sollte, blieb er stehen. Der Fischhändler schloss schließlich seine Pforten. Mit Sicherheit würde er erst wieder Verkäufe tätigen, wenn alle Auswanderer gefasst waren. In der Ferne hörte Karl eine Frau weinend schreien: „Meine Babys! Gott schütze meine Babys!“ „Dreckige Verräter!“, grölte eine Stimme aus einem Fenster im oberen Stockwerk. „Den Vögeln sollte man euch zum Fraß geben!“ Soldaten drängten in die schmalen Gässchen hinein. Eine Zeit lang schaute Karl zu, wie sie die Auswanderer grob auf Holzkarren zerrten, die eigentlich dafür bestimmt waren, Tiere zu befördern. Er presste die Lippen aufeinander. Russland würde Herrn Schmidt zwar für die paar armen Seelen bezahlen, die er aus dieser schlimmen Situation rettete, aber Karl würde man für all die Einreisenden, die er sicher nach Russland transportiert hatte, nichts geben. Er hielt die Nase schnuppernd in die Luft. Die Luft roch noch immer nach Fisch. „Sie da!“, rief ein junger Soldat, der sich ihm näherte. „Verlassen Sie sofort die Straße!“ Karl reckte seinen langen Körper, sodass der Brokat und die feine Wolle seiner eleganten Kleidung dem jungen Mann, der ihn von oben herab anschaute, nicht entgehen konnten. „Halt!“ Der Soldat sah sich um. „Wie kann ich sicher sein, dass Sie kein Auswanderer sind?“ Der Gesichtsausdruck des Soldaten hatte sich nicht verändert, aber er stand nun viel strammer da. „Ich verhafte Sie im Namen des Fürsten!“ „Mich verhaften? Lübeck wird vom Hanseatischen Bund regiert, nicht von einem Fürsten.“ Karl wischte sich einen imaginären Fleck vom Ärmel seiner Jacke und ließ seinen Blick über den schlanken Körper des jungen Kadetten wandern, als ob er keinerlei Bedeutung hätte. Mit einem herablassenden Seufzer holte er die kleine goldene Schatulle aus den Falten seines Hemdes heraus. „Bringen Sie mich unverzüglich zu einem Offizier Ihres Regimentes!“ 18


„Lübeck entließ meinen Fürsten nach . . .“ Der Blick des Soldaten richtete sich auf die Schmuckkassette in Karls Hand. „Wo haben Sie das her?“ Karl warf dem jungen Burschen einen abfälligen Blick zu und wedelte zum Zeichen seiner Ungeduld mit der Hand in der Luft herum. „Ich bin ein Bürger Lübecks und ein enger Freund Ihres vorgesetzten Offiziers. Ich wünsche ihn umgehend zu sprechen.“ Der junge Kavallerist fuhr sich mit der Hand über die Lippen, als wolle er sein weiteres Vorgehen überdenken. Karl hatte fast schon Mitleid mit dem armen Jungen, aber er sah zu wohlgenährt und zu aufgeplustert aus ob seiner eigenen Wichtigkeit, als dass er viel Sympathie hätte erwecken können. In den vielen Jahren, in denen Karl sich allein, ohne Familie oder Freunde, hatte durchbringen müssen, hatte er gelernt, die Gesichter von Menschen zu lesen. Auch wenn der junge Mann als Zeichen seines Ranges eine Uniform trug, konnte er deutlich die Unsicherheit in den Augen des Soldaten sehen. Karl wandte seinen Blick ab. Eine stämmige Frau mit einer großen Narbe auf der linken Wange wurde an ihm vorbei zu den hölzernen Fuhrwerken geschleppt. Sie ließ sich nicht, wie viele andere, widerspruchslos von den Soldaten abführen. Sie schlug um sich, spuckte ihre Entführer an und und überhäufte sie den ganzen Weg lang mit Schimpfnamen. Sie war eine Kämpfernatur mit dem Willen zum Überleben. „Nehmen Sie mich fest und bringen Sie mich zu Ihrem Hauptmann!“, befahl Karl, als er seine Augen zu den dunklen Wolken emporrichtete, die über ihm dahintrieben, „oder kümmern Sie sich um Ihre eigenen Angelegenheiten!“ Der junge Bursche rührte sich nicht, noch ließ er seine Waffe sinken. „Ich dachte, Sie seien ein Auswanderer.“ „Ergreife ich etwa die Flucht?“ „Nein.“ „Trage ich etwa die Kleidung eines Kolonisten?“ Karl streckte seine Arme aus, um dem immer unsicherer werdenden jungen 19


Mann die goldene Taschenuhr und seine exquisiten, bestickten Manschetten zu zeigen. „Nein.“ „Also?“ Karl verschloss die Goldschatulle und steckte sie zurück in die Falten seiner Kleider. „Es ist Zeit, dass Sie weiterziehen. Es gibt noch Auswanderer einzufangen. Und ich wünsche, meine Geschäfte mit dem Hufschmied zu beenden.“ Mit einem flüchtigen Nicken, das fsst schon eine Verbeugung war, eilte der Rekrut davon. Karl versuchte, sein Lächeln zu verbergen. Der Bursche war vermutlich erleichtert, dass er so einfach davongekommen war. Als niemand mehr in Hörweite war, sagte Karl leise: „Bleibt hier. Bewegt euch nicht, bis ich wiederkomme. Ich errege nur Aufmerksamkeit, wenn ich hier neben dem Fass stehen bleibe.“ Er glaubte, ein leises „Vielen Dank“ vernommen zu haben, war jedoch nicht sicher, ob es die Stimme der Frau oder nur ein Windhauch war. Er rief durch das Fenster: „Hufschmied, ich werde wegen meines Pferdes wiederkommen, sobald die Straßen von den Verrätern gesäubert sind.“ Dann dachte er: Vielleicht könnte ich mein Pferd jetzt, wo ich endlich eine Gelegenheit habe, nach Russland einzureisen, für einen guten Preis verkaufen. Beim Weggehen ließ Elisabeths Retter ein Pfeifen ertönen. Es schien Elisabeth, als wolle er ihr damit ein Gefühl der Sicherheit geben. Der feste Ton in seiner Stimme und seine Geistesgegenwart erinnerten sie an den Prinzen aus einem Märchen, das ihre Mutter ihr früher erzählt hatte. Vielleicht hatte sie ihm deshalb vertraut. Sie lehnte den Kopf gegen die Wand des Fasses. Aber was, wenn sie sich in ihm getäuscht hatte? Würde er sie gegen eine Belohnung verraten? Wie konnte sie einem völlig Fremden Vertrauen schenken? Ihr Kopf neigte sich nach vorne. Im Grunde aber wusste sie, warum sie ihm vertraut hatte. Es war sein Gesicht – sein kantiges, entschlossenes Kinn und seine einfühlsamen braunen Augen. „Werden wir sterben?“, flüsterte Hans. 20


„Nein!“, zischelte sie zurück. „Sei still, sonst hören sie uns noch.“ Aber wieder beschlichen sie Zweifel. Auch wenn es so aussah, als ob dieser Mensch die einzige Person in Lübeck war, der es nicht gleichgültig schien, ob sie lebte oder starb – war es wirklich klug, diesem Fremden zu vertrauen? Nein. Es war ein zu großes Risiko. Sie musste ihr Versteck unverzüglich verlassen, bevor er zurückkehrte. Sie würde versuchen, Herrn Schulze zu finden. Er würde sicher wissen, was zu tun war. Elisabeth hörte die gedämpften Schreie anderer Auswanderer, die gefangen genommen und auf hölzerne Wagen gezerrt wurden. Ihr Klagen und Jammern hallte durch die Straßen und beschwor vor Elisabeths geistigem Auge Bilder von sich windenden Körpern herauf, die in die Hölle geworfen wurden. Sie fröstelte und lugte aus dem Spundloch auf das Durcheinander und Getümmel draußen. Vielleicht sollten sie und Hans doch noch ein bisschen länger warten, bevor sie sich auf die Suche nach einem neuen Versteck machte. Einige Lübecker, die an den Fenstern der oberen Stockwerke ihrer Häuser das Treiben mitverfolgten, fingen nun an, sich einzumischen. Ihre höhnischen Kommentare und ihr beißendes Gelächter waren so laut, dass sie sogar die Rufe der Soldaten übertönten. Elisabeth und Hans, die in dem faulig riechenden Fass eingesperrt waren, erging es besser als denen im Freien. Als sie sich ein wenig drehte, bekam Elisabeth eine bessere Sicht durch das Loch. Es sah ganz so aus, als sei mindestens die Hälfte der 200 Leute, mit denen sie in den Baracken außerhalb Lübecks überwintert hatte, gefangen genommen worden. Die Luft im Inneren des Fasses war Ekel erregend. Es roch nach Dung und Moder. Wenn sie doch nur wieder frische Luft atmen könnte! Ihre Beine fingen an zu kribbeln. Sie atmete tief durch das Astloch ein und verschluckte dabei fast eine Fliege, die davor herumschwirrte. Trotz der grauenvollen Ereignisse war sie wie gebannt und konnte den Blick nicht abwenden. Sie musste hilflos zusehen, wie ihre Mitauswanderer in die Wagen gepfercht wurden. Beim An21


blick ihrer entsetzten Gesichter wurde Elisabeth von einem tiefen Mitgefühl erfasst. Bei diesen Männern, Frauen und Kindern hatte sich Hoffnung in Verzweiflung verkehrt. Plötzlich lenkte ein lautes Klappern die Aufmerksamkeit der Soldaten auf die gegenüberliegende Seite des Platzes. Im gleichen Augenblick sah Elisabeth ein Gerangel unterhalb eines der Karren und eine Gestalt tauchte aus dem Schatten auf. Als Licht auf das Gesicht fiel, erkannte sie Herrn Schulze. Er band gerade einige Gefangene in seiner Nähe los und bedeutete ihnen zu fliehen. Elisabeth erkannte in der stämmigen Frau mit der Narbe Frau Dönhof. Sie lief schneller, als Elisabeth sie je hatte laufen sehen, als sie mit den anderen losgebundenden Gefangenen in eine der Seitenstraßen einbog. Aus voller Kehle schrien die Offiziere den Soldaten Befehle zu, aber als das Regiment sich anschickte, die Wagen vorwärtszuschieben, lenkte erneut ein Aufschrei mitten im Tumult und Lärm ihre Aufmerksamkeit ab. Wieder sah Elisabeth Herrn Schulze aus dem Schatten treten. Er wollte sich gerade zurück zu den Karren schleichen, als eine raue Stimme aus einem Fenster brüllte: „Da ist er! Der elende Verräter!“ Die Häftlinge in den Karren begannen laut zu rufen in dem Versuch, die Warnung zu übertönen, aber es war zu spät. Ein Soldat richtete seine Muskete auf Herrn Schulze und befahl ihm, stehen zu bleiben. Aber statt zu gehorchen lief er davon, aus Elisabeths Blickfeld hinaus. Der Kapitän rief: „Volker! Erich! Schnappt ihn euch!“ Sofort eilten die beiden Männer Herrn Schulze nach. Der Befehlshaber schrie: „Vorwärts!“, und die Wagen setzten sich langsam in Bewegung. Ihr Ziel war höchstwahrscheinlich der Kerker des Landesfürsten. „Was ist denn da draußen los?“, flüsterte Hans. „Was sehen Sie?“ „Psst!“, fuhr Elisabeth ihn schroff an. „Kein Wort mehr!“ Nachdem die Wagen verschwunden waren, wurde es bis auf gelegentliche Schreie und Rufe, wenn gerade ein verirrter Emigrant aufgespürt wurde, wieder ruhig auf der Straße. Hans’ Kör22


per war schwer wie Blei und sein Schweiß benetzte Elisabeths Hals. Er war eingeschlafen. Schweißperlen tropften herab auf ihre Brust. Als sie versuchte, sich im Fass in eine bequemere Stellung zu bringen, hörte sie in der Nähe Schritte. Waren sie entdeckt worden? Kam der Fremde zurück? Die Seile über ihr fingen an sich zu bewegen; jemand versuchte hektisch, die Planen zur Seite zu schieben. Furcht ergriff Elisabeths Herz. Das war das Ende! Sie konnte nirgends hinflüchten. Sie entzog Hans ihren Arm und machte sich bereit. Sie würde ihrem Angreifer die Augen auskratzen, wenn es sein musste. Er mochte den Kampf gewinnen, aber sie würde schon dafür sorgen, dass er den Tag nie vergessen würde, an dem er Elisabeth Ebel gefangen nahm. In dem Augenblick, in dem das Segeltuch abgedeckt wurde, schoss ihre Hand blitzschnell heraus. Sie erkannte Herrn Schulze, der gerade noch rechtzeitig sein Gesicht wegdrehte. Ihre Hand hielt in der Luft inne. Herr Schulze sah Hans, schenkte Elisabeth ein flüchtiges Lächeln, legte das Tuch sofort wieder zurück an seinen Platz und schichtete die Taue wieder darüber. Sie beobachtete durch das Loch, wie er auf die andere Straßenseite eilte. „Da ist er!“, rief eine sonore Stimme. Schwere Stiefeltritte waren zu hören, die an dem Fass vorbeieilten. Sämtliche Muskeln in Elisabeths Körper waren angespannt. Herr Schulze hatte fast die Straßenecke erreicht. Er war beinahe in Sicherheit. Da hallte das Dröhnen eines Schusses durch die Straßen. Dann knickte Herrn Schulzes Körper nach vorne ein und er fiel mit dem Gesicht zuerst auf das Kopfsteinpflaster. Elisabeth unterdrückte einen Aufschrei. Das konnte doch nicht wahr sein! Sie schloss die Augen. Im Geiste sah sie Herrn Schulzes freundliche blaue Augen und seine ausgestreckte starke Hand, die die faltige Hand ihres Vaters festhielt. Der Gedanke an sein fröhliches Lächeln war für Elisabeth fast unerträglich. Sie wollte ihm helfen, ihm irgendwie zur Seite stehen. 23


Doch sie wusste, dass sie sich nicht bewegen durfte, wenn sie nicht seinen Sohn und sich selbst in Gefahr bringen wollte. Als sie schließlich die Augen wieder öffnete, lag Herr Schulze reglos auf dem Boden. Sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen schossen und sich ein Kloß in ihrem Hals bildete, aber sie gestattete es sich nicht zu weinen. Auch damals hatte sie nicht geweint, als ihre Brüder einer nach dem anderen in die Schlacht abgeführt wurden. Sie hatte auch nicht geweint, als ihre Mutter im fernen Rheinland an gebrochenem Herzen starb oder bei der Beerdigung ihres Vaters vor den Toren Lübecks. Und sie würde auch jetzt nicht weinen. Elisabeth war sich nicht sicher, wie spät am Nachmittag es war, als sie die Stiefel der Lübecker Bürger wieder die Kopfsteinpflasterstraße hinabmarschieren sah. Sie beobachtete, wie ein Soldat Herrn Schulze am Kragen packte und seinen leblosen Körper in Richtung Hafen zog. Ihre Arme umschlossen instinktiv Hans. Sie waren nun allein, und der Junge brauchte sie jetzt, wie sie selbst Hans’ Eltern gebraucht hatte, als ihr eigener Vater im Sterben gelegen hatte. Sie erinnerte sich daran, wie fürsorglich und einfühlsam Frau Schulze ihren Vater während seiner Krankheit umsorgt hatte, als niemand sonst sich ihm nähern wollte aus Angst, sich bei ihm anzustecken. Die Fürsorge der Schulzes hatte ihr so viel bedeutet. Herr Schulze war es auch gewesen, der ein letztes Gebet über dem leblosen Körper ihres Vaters gesprochen hatte. Sie fröstelte. Und nun war Herr Schulze tot – getötet, als er sie und seinen Sohn hatte beschützen wollen. Sie wünschte, sie könnte jetzt ein Gebet für ihn sprechen, aber sie wusste nicht, wie. Herr Schulze betete anders als die anderen Lutheraner, die sie kannte. Elisabeth konnte deutlich Gottes Liebe in seinen Worten spüren. Traurig, wie sie war, plagten Elisabeth viele Fragen. Sie war immer schon eine gute Lutheranerin gewesen und hatte ihrer Mutter geholfen, sich um ortsansässige Witwen und Waisen zu kümmern, aber bei Herrn und Frau Schulze schien es noch anders zu sein. Sie hatte vorgehabt, die beiden auf dem Schiff nach ihrem Glauben 24


zu fragen, doch nun war es zu spät. Ihr Brustkorb hob und senkte sich, als sie wieder den Drang zu weinen unterdrückte. Im Brustton der Überzeugung wisperte Elisabeth: „Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um dich zu deiner Mutter zu bringen, Hans. Alles! Das verspreche ich.“ Sie lehnte ihr Gesicht gegen seine seidigen Haare. Nur durch schiere Willensanstrengung gelang es ihr, den entsetzlichen Gedanken an Herrn Schulzes Tod aus ihrem Kopf zu vertreiben. Sie musste klar denken. Sie musste sich darauf konzentrieren, Hans und sich selbst nach Russland zu bringen. Das war es, was Herr Schulze gewollt hätte. Elisabeth reckte ihr Kinn nach vorn. Nichts würde sie aufhalten können. Allmählich drangen neue Geräusche durch die Stille. Händler kehrten zurück und schoben ihre Karren die holprigen Straßen hinunter. Stimmen wurden laut. Kaufleute beantworteten Fragen. Selbst die Amseln und Spatzen zwitscherten und trillerten. Elisabeth war dankbar, dass der Hufschmied und die Passanten den Haufen Gerümpel übersahen, der neben dem Fass stand, insbesondere als Hans anfing, sich zu bewegen. Elisabeth hielt ihm den Mund zu und flüsterte: „Bleib ruhig liegen! Wir sind immer noch in unserem Versteck im Fass.“ Sie spürte, wie seine Anspannung nachließ. Kein Laut kam über seine Lippen. Der Rest des Tages zog sich dahin. Irgendwann wurden Elisabeths Beine taub. Sie wusste nicht, ob sie in der Lage sein würde, ihren Körper aus dem engen Fass herauszuhieven, wenn der Zeitpunkt dafür gekommen war. Sie fragte sich, ob der Unbekannte wirklich zu ihnen zurückkommen würde, und horchte angespannt darauf, ob sich seine Schritte näherten. Ihr Mund zog sich zusammen, als sie sich bewusst wurde, was sie da dachte. Gleichgültig, ob er nun zu ihnen zurückkehren würde oder nicht – sie konnte sich nur auf sich selbst verlassen. Was immer getan werden musste, es war ihre Aufgabe, es zu tun. Gegen Abend hörte Elisabeth das erste Donnergrollen. Sie machte sich bereit. Der Sturm polterte und brauste, kam immer 25


näher und die Dunkelheit draußen nahm zu. Durch das Spundloch sah sie schwere Regentropfen auf das Kopfsteinpflaster niederprasseln. Das war der richtige Zeitpunkt. „Hans, ich werde jetzt aufstehen.“ Sie zwang sich, ihre Beine zu bewegen. Dann richtete sie sich mit Hans in ihren Armen auf, wobei die Taue auf den Gerümpelhaufen fielen. Die Leute, die durch die hereinbrechende Dunkelheit liefen, um einen Unterschlupf zu finden, schenkten ihnen keine Beachtung. Elisabeth lehnte sich über die Kante des Fasses und hielt Hans fest, bis er in der Lage war, seine Füße auf eine nahe stehende Kiste zu setzen. Elisabeth gab ein Zeichen und Hans sprang über die Kiste hinab auf das Kopfsteinpflaster. Er fing mit der Zunge die Regentropfen auf. Während das Kribbeln in ihren Beinen ihr anzeigte, dass sich allmählich wieder ein Gefühl einstellte, sah sich Elisabeth vorsichtig um. Dann zog sie sich hoch bis zur Kante des Fasses und schwang ein Bein darüber, wodurch sich das Fass noch weiter zur Seite neigte. Da sie nicht wollte, dass es komplett umkippte, warf sie schnell das andere Bein über die Öffnung und sprang auf den Boden. Als sie mit beiden Beinen sicher auf der Straße stand, fegte sie mit der Hand das Heu aus ihren Haaren und ihrer Kleidung. „Wir müssen uns einen Unterschlupf suchen.“ Elisabeth versuchte, mit der Hand die Augen abzuschirmen, um sich vor dem Regen zu schützen. Das stetige Plätschern hatte sich in einen Platzregen verwandelt. Das Wasser war kalt, aber es tat gut nach ihrem langen Aufenthalt im Fass. Es dauerte jedoch nicht lange, bis ihre Kleider komplett durchnässt waren. Glücklicherweise schützte sie der dichte Regenschleier aber auch vor abendlichen Passanten. Der Regen würde außerdem den modrigen Geruch des Fasses aus ihren Kleidern vertreiben, dachte sich Elisabeth. Sie nahm Hans an die Hand. Als sie ihm die folgenden Worte sagte, sprach sie nicht nur zu Hans, sondern versuchte sich auch selbst Trost zuzusprechen: „Wir müssen nur in einer unserer Kirchen Zuflucht suchen. Dort sind wir in Sicherheit.“ 26


Hans nickte zustimmend. „Ich sehe schon eine.“ Er zeigte auf eine majestätische Turmspitze, die zwischen den anderen Häuserdächern herausragte. Elisabeth nahm keine Notiz von den vielen anderen prunkvollen Kirchen, die sich als Silhouette gegen den bedrohlich aussehenden Himmel abzeichneten. Allein an den Turmspitzen konnte Elisabeth nicht erkennen, welches Gotteshaus eine lutheranische Kirche war und welches eins der Katholiken. Da Hans’ Vorschlag ihr so gut wie jeder andere erschien, ging sie darauf ein. „Wir müssen schnell von hier fort.“ Als sie zur Kirche liefen, die Hans ausgemacht hatte, flüsterte Elisabeth: „Bitte, Herr, lass diese Kirche eine lutheranische sein!“ Ihr Herz war voller Furcht, weil es ihr schien, als ob ihr Leben von der richtigen Wahl der Kirche abhinge. Und im Grunde wusste sie, dass das auch so war.

2 iI Elisabeth stand am unteren Ende der Steintreppe und blickte an der Fassade der Kathedrale hoch. Dieses Bauwerk war sehr wahrscheinlich durch die Hand von Katholiken erbaut worden, aber mittlerweile konnte man nicht mehr sicher sein, welche Art Gottesdienst darin stattfand, da die Kirchen ihre Zugehörigkeit wechselten, wann immer die jeweils herrschenden Regenten ihren Glauben änderten. Sie hob den Rocksaum, um die steilen Treppenabsätze zu der gewaltigen Kirche besser hinaufsteigen zu können. Der Regen, der gegen die groben, hölzernen Tore des Gotteshauses prasselte, formte sich vor ihrem inneren Auge zu Soldaten, die – das Schwert in der Hand – die Tür zu ihrem Elternhaus einrammten. Sie hielt inne aus Angst, sie könnte auf denselben rachsüchtigen Bischof von damals stoßen, der mit 27


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