Im Gegensatz dazu hatte Esther nie, nicht ein einziges Mal versucht, sich als Ellen auszugeben. Es war ihr schon schwer genug gefallen, sie selbst zu sein. Schon als Kind war sie durch ihre Ängstlichkeit aufgefallen. Sie hatte lange, viel länger als ihre Zwillingsschwester gebraucht, um ihren eigenen Beinen zu vertrauen und laufen zu lernen. Immer war sie übervorsichtig gewesen, niemals draufgängerisch. Sie hatte es auch nie gewagt, sich gegen ihre Eltern aufzulehnen, hatte nie den Mut gehabt, den Bereich des Erlaubten zu verlassen. So war sie ein ausgesprochen braves Kind gewesen, eine freundliche und höfliche Erscheinung, eine fleißige und gute Schülerin. All das hatte ihr den Respekt der Erwachsenen, nicht aber den der Gleichaltrigen eingebracht. Sie war oft gehänselt worden und hatte sich dadurch noch mehr in sich selbst zurückgezogen. Über weite Strecken ihrer Kindheit war Ellen ihr einziger engerer Kontakt gewesen. Aber diese Beziehung hätte man nie als gleichberechtigt bezeichnen können. Ellen hatte Esther in ihrem Dunstkreis geduldet, aber auch nach Strich und Faden ausgenutzt. Sie hatte Esthers Taschengeld konfisziert, ihre Hausaufgaben abgeschrieben und sich nachts von ihr aus dem Fenster abseilen lassen. In allem war Esther die treuste Schwester gewesen, die man sich hätte wünschen können. Nie hatte sie Ellen verraten, nie einen Gefallen verweigert. Und warum? Sie wusste es selbst nicht.Vielleicht lag es daran, dass sie Ellen auf irgendeine seltsame Weise bewunderte und fürchtete.Vielleicht lag es auch einfach in ihrer Natur. Fest stand nur, dass sie nun schon seit vielen Jahren versuchte, dieses Muster zu durchbrechen. Sie hasste die Selbstverständlichkeit, mit der Ellen alles forderte und auch bekam. Sie hasste Ellens Mut, ihre Überlegenheit, ihre Sorglosigkeit, ihre Selbstgerechtigkeit. Sie hasste das überhebliche Lächeln, das mit Ellens Gesicht verwachsen zu sein schien. Im Grunde genommen, das hatte sie sich inzwischen eingestanden, hasste sie Ellen. 18