Der Fluss, der mich trägt - 978-3-86591-609-9

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Kapitel 1

D

er Richter hatte immer das letzte Wort. Er legte fest, was richtig und was falsch war, und seine Wahrheit war unumstößlich. Für mich war er Gott. Als ich noch klein war, sagte ich „Papa“ zu ihm. Es gab in meiner Kindheit unbeschwerte Zeiten. Im Sommer lag ich im kühlen Gras und stellte mir vor, die Wolken wären Dinosaurier. So unendlich wie der Himmel, so grenzenlos erschienen mir die Möglichkeiten meines Lebens. Meine damalige Welt war ein fünf Hektar großes Stück Land, das in östlicher Richtung von einem Bach, zum Süden hin von einem Fluss mit dem beinahe unaussprechlichen Namen Stillaguamish begrenzt wurde, im Westen säumte eine Pappelreihe unsere Einfahrt, und zum Norden hin stieß unser Grundstück an die Hartles-Straße. Der Fluss erschien mir wie ein Zug, der aus einem fernen Land kam. Er verlangsamte seine Fahrt, wenn er um die Ecke unseres Grundstücks bog, und rollte weiter, einem unbekannten Ziel, einem fernen Ozean entgegen. Das vermutete ich jedenfalls. Und wie Kinder nun einmal sind, so nahm ich an, dass auch mein Dasein die Biegungen meines Lebensweges mit genau der gleichen Selbstverständlichkeit nehmen würde, mit der unser Fluss tagein, tagaus an unserem Grundstück vorüberströmte. Mit dem Tod kam ich nur einmal in Berührung, als mein Urgroßvater starb. Er war bis zu dem letzten Tag seines Le7


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