Dschungeljahre - 9783865915856

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Doris Kuegler Dschungeljahre Mein Leben bei den Ureinwohnern West-Papuas. Die Mutter des „Dschungelkinds“ erzählt.


Über die Autorin Doris Kuegler ging nach einer Krankenpflege- und Bibelschulausbildung mit ihrem Mann Klaus-Peter und der ältesten Tochter Judith zunächst nach Nepal, wo sie als Sprachforscher und Missionare tätig waren. Dort wurden Sabine und Christian geboren. 1980 wanderte die Familie nach West-Papua aus und lebte dort bis 2003 beim Stamm der Fayu.


Doris Kuegler

Dschungeljahre Mein Leben bei den Ureinwohnern West-Papuas. Die Mutter des „Dschungelkinds“ erzählt.


kapitel 3

Aufbruch in eine neue Welt

L

angsam kreiste der Hubschrauber über dem Landeplatz. Der Pilot schaute aufmerksam nach unten. Kein Kind, kein Wildschwein, kein Hund im Weg. Der Landeplatz war leer, das Gras geschnitten. Keine Äste lagen herum. Er wäre auch überrascht gewesen. Denn da unten stand ein weißer Mann, und die waren als zuverlässig und pünktlich bekannt. Der da unten war ein Deutscher, und er, der Hubschrauberpilot, war gerade im Begriff, dessen Familie in dieser Einöde abzusetzen. Er war zwei Stunden über undurchdringlichen Urwald geflogen. Ich hätte nicht den Mut, meine Familie hierherzubringen und hier zu leben, dachte er. Ganz schön wild und blutrünstig sollten diese „Orang hutans“ – Waldmenschen – sein, die hier lebten. Zum Teil sollten sie sogar noch Kannibalen sein, die ihre Feinde tatsächlich aufaßen! Man hatte sie erst vor einigen Monaten entdeckt. Ein Sprachwissenschaftler hatte sie zufällig aufgestöbert, als er ein abgelegenes Dorf im Dschungel besuchte, in dem seit vielen Jahren amerikanische Missionare arbeiteten. Plötzlich standen ein paar völlig nackte, wild aussehende Menschen am Waldrand. Alle Augen wandten sich ihnen zu, und alle Gespräche versiegten. Sogar das Bellen der Hunde verstummte. Die Männer dort am Waldrand wirkten sehr nervös. Bogen und Pfeile hatten sie abschussbereit in ihren Händen. 31


Eigentlich hatten die Urwaldmenschen in dieser Gegend kurzes, krauses Haar. Aber diese Männer hatten merkwürdig glattes Haar. Später erkannte der Sprachforscher, dass das gar keine Haare waren, sondern zurechtgeschnittene Vogelfedern. Über den Mund verlief ein langer, dünner Knochen. Wie sie den wohl befestigt hatten? Als sie später vor ihm saßen, sah er, dass sie sich ein Loch durch den unteren Teil der Nase gebohrt hatten. Bemerkenswert waren die Löcher in den Ohrläppchen der Männer. Was da nicht alles dranhing! Kein Wunder, dass die Löcher so groß und ausgefranst waren. Langsam stand John, der Sprachforscher, auf und ging auf die Männer zu. Sein Herz klopfte wie wild. Der Psalm 91 kam ihm in den Sinn: Er wird seinen Engeln befehlen, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen. „Lieber Gott“, dachte er, „schick mir mal lieber mehr als nur ein paar Engel!“ Eigentlich war er kein ängstlicher Mensch, aber so einer Situation war er noch nie begegnet. Was, wenn diese Wilden jetzt plötzlich ihre Bögen aufrichten und ihre Pfeile auf ihn abschießen würden? Er hätte keine Chance gehabt. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. „Ungläubiger Thomas“, schalt er sich. Er hatte immer daran geglaubt, dass Gott ihn auf seinen Rundreisen zu den verschiedenen Missionsstationen bewahren würde. Die Männer standen unbeweglich da und sahen ihm abwartend entgegen. Fast freundlich wirkten sie. Etwas unsicher, aber nicht hasserfüllt. John lächelte sie an, und die Gesichter der Männer entspannten sich. Er gab ihnen mit der Hand ein Zeichen, ihm zu folgen. Sie taten es tatsächlich, immer noch sichtlich nervös, aber sie gingen mit. John setzte sich auf einen Baumstamm. Die Männer schauten sich vorsichtig um und ließen sich schließlich vor ihm auf dem Grasboden nieder. John kannte verschiedene Dialekte der umliegenden Eingeborenenstämme und sprach sie an. Doch die Männer schienen keine der Sprachen zu kennen. Er nahm ein Blatt Papier und einen Stift zur Hand. Dann zeigte er auf verschiedene 32


Dinge wie seine Haare, Nase, Hand, Baum, Gras, Hund und so weiter. Die Männer verstanden schnell, sagten ihm die Namen der verschiedenen Dinge, und John schrieb alles auf, so wie er es verstand. Je mehr er schrieb, umso aufgeregter wurde er. Als Sprachwissenschaftler erkannte er schnell, dass es sich hier wohl um eine Tonsprache handelte, und noch interessanter: Es war eine unbekannte Sprache, die fast nichts mit den anderen Stammesdialekten der Gegend zu tun hatte. Was wiederum bedeutete: Er hatte einen bisher unbekannten Stamm entdeckt, mitten im Dschungel von West-Papua! Diese Entdeckung war eine kleine Sensation, die sich wie ein Lauffeuer herumsprach. Wir lebten zu diesem Zeitpunkt bereits auf der kleinen Dschungelbasis Danau Bira ganz in der Nähe. Eine amerikanische Missionsgesellschaft fragte an, ob wir dort mit einer Arbeit anfangen würden, um die Sprache zu lernen und den Menschen das Evangelium zu erklären. Die Missionsgesellschaft war darauf bedacht, diesen neu entdeckten Stamm nicht wieder an den Dschungel zu verlieren. Sie hatten nicht genug Mitarbeiter vor Ort, und wir waren gerade erst im Land angekommen und noch in der Orientierungsphase. Natürlich waren wir interessiert. Jeder sprach über die Ereignisse dort im Dschungel. Ein bislang unentdeckter Stamm war etwas Außergewöhnliches. Man wusste nichts über sie, außer dass sie noch so lebten wie in der Steinzeit und sehr kriegerisch waren. Ziau, ein gefährlicher Krieger, war einer der ersten Fayu, denen Klaus begegnete. Eine kleine Gruppe von Männern, darunter Klaus, Herbert, ein amerikanischer Missionar, zwei Bibelschüler vom Stamm der Dani, ein Mann vom Stamm der Dau und unser späterer Sprachhelfer Nakire, hatten sich aufgemacht, um diesen unbekannten Stamm zu finden, den die Dau „Fayu“ nannten. Nakire lebte bei den Dau. Er war als kleiner Junge gemeinsam mit seiner Mutter von einigen Dau-Kriegern aus einem 33


Fayu-Dorf geraubt worden. Daher beherrschte er die DauSprache und auch die Fayu-Sprache. Das war natürlich eine enorme Hilfe. Trotzdem musste „über drei Ecken“ übersetzt werden: Klaus sprach mit dem Amerikaner Englisch. Dieser arbeitete unter dem Bergstamm der Dani, der schon seit den 1940er-Jahren in Kontakt mit Missionaren war. Einer der DaniBibelschüler sprach die Dau-Sprache und übersetzte alles, was Klaus und der Amerikaner sagten, für Nakire. Nakire war dann das letzte Glied zur Verständigung mit den Fayu. Dumm war nur, dass Nakire schreckliche Angst vor den Fayu hatte. Als sie mit dem Kanu ins Fayu-Gebiet kamen, duckte sich Nakire ins Boot und legte sich ein Tuch über den Kopf. Als er dann aussteigen sollte, geriet er beinahe in Panik. So entschied Klaus, dass Nakire im Boot bleiben durfte. Als dann alle Männer ausgestiegen waren und alle Kisten auf einer Lichtung lagen, gefiel es Nakire auch nicht mehr so ganz allein im Kanu. Also schlich er sich auf die Lichtung und versteckte sich hinter den Kisten. Woher sollte er auch wissen, wie sehr sich Kologwoi, der Häuptling der Iyarike, der am nächsten Morgen plötzlich auftauchte, freuen würde, wenn er hörte, wer Nakire war – nämlich sein seit Jahren verschwundener Vetter! Die Männer bereiteten alles für die Nacht vor, aber sie fühlten sich absolut nicht wohl in ihrer Haut. Rings um das Lager brannten Feuer, und die ganze Nacht wechselten sie sich mit Wachen ab. Bevor sie sich hinlegten, hielten sie noch eine Abendandacht, und Klaus las den Bibeltext für diesen Tag. Es war Psalm 91: Gott wird dich mit seinen Fittichen decken, und Zuflucht wirst du haben unter seinen Flügeln. Du musst nicht erschrecken vor den Pfeilen, die des Tages fliegen. Es wird dir kein Böses begegnen . . . Denn Gott hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen . . . Alle Sorgen und Ängste fielen von den verantwortlichen Männern ab. Gott war bei ihnen. Die Nacht war ruhig, das heißt so ruhig, wie es eben im Dschungel sein kann. Aber es gab keine besonderen Vor34


kommnisse, außer dass der Dani, der eigentlich Wache halten sollte, auch bald einschlief. Die Männer wollten am Morgen gerade ihre Sachen wieder in die Kisten verstauen, da standen plötzlich vier wild aussehende Männer vor ihnen – die ersten Fayu. Sie schauten grimmig drein und musterten die fremden Männer eingehend. Besonders mit den weißen Männern wussten sie nichts anzufangen. Einer von ihnen hatte sogar weißes Haar. Waren das überhaupt Menschen? Vielleicht kamen sie ja aus dem Reich ihrer Vorfahren. Jahre später, als Klaus die Fayu-Sprache gut beherrschte, erzählte Kologwoi ihm von dieser ersten Begegnung. In diesem Augenblick empfanden Kologwoi und seine Begleiter keine Sympathie für diese seltsamen Besucher. Ohne eine Miene zu verziehen ging Kologwoi zu den Kisten, öffnete eine nach der anderen und durchwühlte sie. Einige aus dem Team wollten Kologwoi davon abhalten, aber Klaus bedeutete ihnen mit einem Wink, nichts zu tun und nur abzuwarten. Nachdem Kologwoi alle Kisten durchwühlt hatte, drehte er sich wortlos um, gab den anderen Fayu ein Zeichen, und sie verschwanden genauso lautlos, wie sie gekommen waren. Alle atmeten erleichtert auf. „Was war denn das?“, fragte der amerikanische Missionar. Klaus zuckte mit den Schultern. „Sie haben nichts mitgehen lassen“, meinte er nur. Aber wo war Nakire? Sie schauten überall nach. Kein Nakire war zu finden, bis jemand zum Kanu ging. „Hier ist er!“, rief jemand von den Dani und lachte schallend. Nakire hatte sich flach auf den Boden des Kanus gelegt und sich mit Tüchern und Hängematten zugedeckt. Die andern lachten auch. Klaus wunderte sich nur, dass Nakire solche Angst hatte. Es musste ein schreckliches Erlebnis für Nakire gewesen sein, als die Dau-Leute damals nachts in seine Hütte eindrangen und ihn und seine Mutter mit Gewalt wegschleppten. Und wer wusste, was er als Kind noch alles bei den Dau erlebt hatte. Es musste ja einen Grund geben, 35


warum er jetzt solche Angst vor seinem eigenen Stamm hatte. Man erzählte in den umliegenden Stämmen viel Schreckliches über die Grausamkeit der Fayu. Da diese erste Begegnung mit den Fayu ziemlich friedlich verlaufen war, entschieden die Männer sich dazu, noch weiter flussaufwärts zu fahren. An den Ufern war weit und breit kein Mensch zu sehen, was allerdings nicht bedeutete, dass da niemand war. Nakire bemerkte durchaus die glühenden Augen im Gebüsch, die sie beobachteten, aber er sagte kein Wort darüber. Manchmal sahen sie ein Kanu am Ufer oder eine verfallene Hütte. Nach etwa einer Stunde erreichten sie eine Lichtung am Flussufer. Klaus entschied sich, eine längere Pause zu machen, vielleicht sogar an dieser Stelle zu übernachten. Die Dani-Helfer entluden das Kanu und bauten ein Lager auf. Es gab genug Bäume zum Aufhängen der Moskitohängematten. Obwohl es noch sehr heiß war, bereiteten sie schon das Lagerfeuer vor. Die Nacht brach hier im Dschungel so schnell herein, dass es besser war, schon früh alles vorbereitet zu haben. Sie waren noch nicht ganz fertig, als sie wieder Besuch bekamen. Kologwoi war auch dabei, aber diesmal mit ein paar anderen Männern. Wie wild sie aussahen! Ihre Bogen waren doppelt so groß wie sie. Ein dickes Bündel mit mindestens 20 Pfeilen hatte jeder von ihnen dabei. Durch die Nase hatten sie quer und längs spitze Knochen gezogen. Wie kann man so wohl essen?, dachte Klaus. Plötzlich entwickelte sich zwischen Nakire und einem der Besucher ein lebhaftes Gespräch. Klaus schaute erstaunt auf Nakire, der plötzlich überhaupt keine Angst mehr zu haben schien. Und dann nahm der groß gewachsene Fayu Nakire in den Arm, rieb seine Stirn als Begrüßungsgeste mit ihm und konnte sich vor Freude kaum fassen. Nakire hatte ihn gleich erkannt, als er auf die Lichtung kam: Es war sein Bruder Atara. Nach über 30 Jahren hatten sie sich wiedergefunden! 36


Nakire redete ununterbrochen und strahlte übers ganze Gesicht. Auch die andern Fayu-Besucher begrüßten Nakire jetzt voller Freude. Sie nahmen seine Hand und bissen vorsichtig in jeden Finger, immer und immer wieder, was bei den Fayu bedeutete, dass sie beste Freunde waren und bleiben würden, selbst wenn sie ihr Leben für den andern geben mussten. Schließlich unterbrach Klaus die Begrüßung und ließ Nakire wissen, dass er übersetzen solle. Nakire war sofort bereit dazu, und über vier Sprachen teilte Klaus den Fayu mit, warum er gekommen war. Es war Atara, der antwortete. Die Fayu hatten Klaus ganz gut verstanden: Ein weißer Mann wollte eine Weile bei ihnen, den Fayu, leben, um ihre Sprache zu lernen und ihnen eine gute Nachricht zu überbringen. Er wollte auch seine Familie mitbringen. Atara war begeistert. Dieser weiße Mann hatte viele Dinge, die Atara auch gern gehabt hätte. Und so ließ er Klaus sagen: „Weißer Mann, komm in einem Mond wieder (mit Mond meinte er Monat). Bis dahin werde ich die andern Fayu fragen, was sie darüber denken, und dann werden wir über alles sprechen!“ Klaus war damit einverstanden. Er freute sich, dass diese Expedition so erfolgreich verlaufen war. Sie hatten ja nicht einmal gewusst, wo dieser Fayu-Stamm sich genau aufhielt, da die Fayu Nomaden waren und oft ihren Standort wechselten. Man hatte ihm nur eine ungefähre Richtung angegeben, wo sie suchen konnten. Und nun hatte er bereits eine Einladung wiederzukommen! Alle im Team waren glücklich. Jahre später erzählten Kologwoi, Atara und Ziau uns von den Ängsten, die sie ausgestanden hatten, als sie Klaus und Herbert zum ersten Mal begegnet waren. Sie waren sich gar nicht sicher gewesen, ob diese beiden weißen Männer wirklich Menschen waren! Vielleicht waren sie ja nur gekommen, um die Fayu zu töten und zu essen? „Unsere Knie haben gezittert“, erzählte Ziau. „Aber das haben wir euch nicht gezeigt“, sagte er stolz. 37


Klaus lachte. „Du hast recht, wir hatten keine Ahnung, dass ihr solche Angst hattet. Aber wir waren uns auch nicht so sicher, ob ihr uns essen würdet.“ Jetzt mussten alle Fayu lachen, und Klaus stimmte ein. „Nein“, sagte er, „ganz so schlimm war es nicht. Aber euer Aussehen und die riesengroßen Bogen und die vielen Pfeile haben uns schon ein bisschen Angst gemacht.“ „Wirklich?“, fragten die Fayu erstaunt. Klaus nickte. „Ja. Wir konnten ja nicht wissen, was ihr über unsere weiße Haut denken würdet.“ „Ja“, antwortete Kologwoi. „Die Haut, das ging ja noch. Aber dieser Mann mit seinen farblosen Haaren – die fanden wir sehr hässlich.“ Klaus lachte wieder. „Jetzt habt ihr euch ja sicher dran gewöhnt, denn unsere Kinder haben ja alle helle Haare, besonders Judith.“ „Wir finden sie sehr schön“, riefen die jungen Männer, und alle lachten. „Aber ihr dürft sie nicht stehlen!“, sagte Klaus mit plötzlich sehr entschlossener Stimme. Der Gedanke, dass ein Fayu sich eine unserer Töchter als zukünftige Ehefrau aussuchen könnte, hatte uns große Sorgen gemacht. Bei den Fayu war es üblich, dass ein Mann sich ein Mädchen, das ihm gefiel, einfach stahl und mit in den Urwald nahm, wo er dann mit ihr schlief. Damit galt die Ehe zwischen den beiden dann als besiegelt. Kologwoi wurde ganz ernst. „Klausu, mach dir keine Sorgen. Ich habe allen schon gesagt, dass die weiße Haut nicht für immer hier im Dschungel leben kann. Das passt nicht zusammen.“ Klaus war erstaunt. Sogar darüber hatte Kologwoi sich also Gedanken gemacht. Als Mutter war ich heilfroh, dass sie meine Töchter damit als zukünftige Ehefrauen kategorisch ausgeschlossen hatten. Eine Sorge weniger! Eine Frage lag Klaus schon lange auf dem Herzen. „Kologwoi, kannst du dich noch erinnern, als wir uns das erste Mal 38


gesehen haben? Du kamst mit ein paar andern Männern auf die Lichtung, wo wir unsere Hängematten und unsere ganze Ausrüstung hingelegt hatten. Dann bist du an die Kisten gegangen und hast sie alle durchwühlt. Was hast du gesucht? Warum wolltest du wissen, was in den Kisten war?“, fragte er. Kologwoi schwieg eine Weile und sah sehr ernst aus, als er antwortete: „Klausu, damals wart ihr in großer Gefahr. Einige Tage vor euch waren Männer gekommen und hatten Krokodile gejagt. Es waren Männer mit dunkler Haut, aber sie sprachen nicht unsere Sprache. Einer der Sefeudi-Männer war gerade in unserer Gegend. Nachts schlich er sich in das Lager der Krokodiljäger und stahl ein Paragu und andere Sachen. Du kannst dir vorstellen, wie wütend die Männer waren, als sie morgens den Diebstahl bemerkten. Wir hatten inzwischen davon erfahren und machten einen weiten Umweg um das Lager der Jäger. Wir konnten doch nicht wissen, dass eine Gruppe befreundeter Tigeri auf dem Weg zu uns war. Noch bevor sie das Lager der Jäger erreichten, wurden sie von einem der Männer gesehen. Als sie das Lager nichts ahnend erreichten, nahmen die Fremden ihre Gewehre und schossen einfach los. Vier von unseren Freunden starben, einer konnte sich verletzt verstecken, und die andern entkamen den Kugeln. Jetzt kommt also ihr ein paar Tage später. Da haben wir uns gesagt: Die Krokodiljäger haben auch nicht gefragt, ob die Tigeri schuldig waren oder nicht. So haben wir Iyarike uns gedacht, solltet ihr in den Kisten Gewehre haben, müsst ihr alle sterben. Du weißt gar nicht, dass sich hinter mir im Wald viele Männer versteckt hielten, die nur darauf warteten, dass ich ihnen ein Zeichen gab, um mit Pfeilen auf euch zu schießen.“ Es war totenstill auf dem Platz. Dann erzählte Klaus den Iyarike, dass Gott ihnen gesagt hatte, dass sie keine Angst haben müssten „vor den Pfeilen, die des Tages fliegen“. Wir waren alle tief bewegt. Klaus sagte noch, dass sie nie irgendeine Waffe mitgenommen hätten auf dieser Expedition. Da Metallmesser bei den Fayu unbekannt waren, sahen sie diese nicht als Waffe an. 39


Klaus hatte danach noch ein ganzes Jahr immer wieder die Fayu besucht. Er hatte Messer und Fischhaken als Tauschware mitgenommen, und die Fayu hatten ihm Lebensmittel aus dem Dschungel gebracht. Auch Pfeile, Bogen und Steinäxte hatte Klaus bekommen. Er lernte verschiedene Häuptlinge kennen, darunter auch einige sehr gefährliche Krieger. Baou war einer von ihnen. Etwa nach einem Jahr kam Baou eines Tages zu Klaus und sagte: „Komm, ich zeige dir, wo du ein Haus bauen und mit deiner Familie leben kannst.“ Mit dem Kanu fuhren sie zu einer größeren Lichtung direkt am Fluss. Die Stelle gefiel Klaus auf Anhieb. Später sollten wir erfahren, dass diese Lichtung die Grenze zwischen den Gebieten zweier verfeindeter Clans war. Zuerst erschien uns das schwierig. Aber Baou war ein kluger Mann, und diesen Platz hatte er bewusst ausgesucht. Natürlich mussten wir auch einen Kaufpreis dafür bezahlen. Baou und Kologwoi handelten mit Klaus einen Preis aus. Vielleicht war es ein bisschen viel, was sie verlangten. Aber wir gaben gern diese so dringend benötigten Sachen an Baou und Kologwoi. Ihr Leben wurde durch Metalläxte, Messer, Fischhaken, Medikamente und Verbandszeug so viel einfacher. Als ich Baou zum ersten Mal traf, trug er seinen halbwüchsigen Sohn auf dem Rücken. Der Junge konnte kaum gehen; er hatte einen sogenannten Spitzfuß. Irgendwann hatte sich das Kind den Fuß gebrochen, der erstaunlich gut zusammengeheilt war. Aber da er den Fuß über Monate einfach hängen lassen hatte, hatten sich die Muskeln und Sehnen verkürzt, und nun konnte der Junge nicht mehr richtig auftreten. Ich schaute mir den Fuß genau an und erklärte Baou, dass er jeden Tag bestimmte Dehnübungen mit seinem Sohn machen müsse. Baou muss sich haargenau danach gerichtet haben, denn als ich den Jungen zwei Jahre später wieder sah, lief er genauso gut wie alle anderen seiner Freunde. Ich freute mich darüber fast so sehr wie Baou selbst. 40


Baous jüngsten Sohn Isori habe ich später in meiner Schulklasse gehabt. Er war der begabteste meiner Schüler. Er kam zwei Jahre später als die anderen und hatte keine Ahnung vom Schreiben und Rechnen. Doch in ein paar Monaten hatte er alles aufgeholt. Nun hatten wir also einen Platz, aber noch kein Haus. Auf der Dschungelbasis wohnten einige Amerikaner, die als Missionare hier waren, aber auch praktische Berufe ausübten. Unter ihnen war John. Er leitete alle Bauarbeiten auf der Basis. Klaus sprach mit ihm, und John erklärte sich einverstanden, für zwei oder drei Wochen mit einem Team nach Foida zu kommen. Vier Männer aus dem Bergstamm der Dani schlossen sich ihm an, und dann begann der Bau. Die Fayu waren sehr interessiert daran, was dieser weiße Mann da machte. Am meisten staunten sie über die Kreissäge. Schon bald begannen sie mitzuhelfen. John hatte ihnen gezeigt, welche Art Holz er brauchte. Das beste Bauholz kam vom Eisenbaum, der nicht ohne Grund so heißt – das Holz ist so hart, dass sogar eine Kreissäge es nur sehr mühsam geschnitten bekommt. Jedes Haus auf der Basis stand auf Pfählen. Sie hielten die Feuchtigkeit und Nässe vom Fußboden des Hauses fern, und Schlangen und Insekten wurde der Eintritt so auch schwerer gemacht. Sobald die Plattform auf den Pfählen errichtet war, wurde von der Unterseite her alles mit Moskitodraht abgedichtet. Der Moskitodraht war eine ganz feinmaschige Drahtfläche. Später wurde das ganze Haus noch rundherum damit eingepackt. Trotzdem hatten wir ab und zu eine Schlange im Haus, von den Insekten ganz zu schweigen. Dank der Hilfe der Fayu wurde das Haus viel schneller fertig, als John gedacht hatte. Er staunte sehr darüber, dass die Fayu jeden Tag pünktlich zum Arbeiten erschienen. Was heißt pünktlich? Überpünktlich konnte man das schon nennen! Sie waren immer mindestens eine Stunde vor John und 41


Klaus da und warteten ungeduldig auf die beiden Männer und das Dani-Team. John sagte zu Klaus, dass er noch nie erlebt hatte, dass Stammesangehörige so fleißig und ausdauernd bei der Sache waren. Klaus lachte und erzählte ihm, dass er jedem FayuMann ein Paragu (eine Machete) für seine Hilfe versprochen hatte, und den Teenagern wollte er Fischhaken geben, wenn sie jeden Tag zum Helfen kämen. Jetzt verstand John. Und trotzdem war nach seiner Erfahrung die Einstellung der Fayu sehr ungewöhnlich. Klaus sagte ihm, dass man bedenken müsse, dass die Fayu überhaupt keine Macheten besaßen und dass der Besitz eines solchen Messers sie in der Achtung der anderen Fayu-Gruppen sehr steigen ließ.

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