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1 iI 1766 Der frostige Aprilwind peitschte eine Strähne ihres braunen, seidigen Haars über Elisabeth Ebels Wange, als wolle er sie dafür strafen, dass sie ihr Heimatland im Stich gelassen hatte. Äußerlich unterschied sie sich mit ihrem handgesponnenem braunen Gewand, der weißen Schürze, der weißen Haube und dem Mantel aus Wolle in nichts von den vielen anderen deutschen Frauen, die sich am Lübecker Pier zusammen drängten. Sie jedoch hatte keine Verwandten mehr, die ihr dabei hätten helfen können, ihre Habseligkeiten nach Russland zu bringen. Elisabeth tastete vorsichtig mit ihrer Hand nach den Dokumenten, die sie in den Bund ihres Rocks gesteckt hatte, und streckte ihr Kinn vor. Auch wenn sie die Buchstaben auf diesem Papier, das ihr ein neues Leben verhieß, nicht entziffern konnte, wusste sie, dass Russland unverheirateten Frauen eine ansehnliche Zukunft bot. In den einzelnen deutschen Fürstentümern hingegen genossen Frauen ohne Familie keinerlei Schutz und hatten nur ein elendes Leben in Knechtschaft oder Schande zu erwarten. Warum sollte es Verrat sein, ein besseres Leben zu erstreben?, fragte sich Elisabeth, während sie auf den kleinen Hans Schulze hinabblickte, dessen kindliche dicke Fingerchen ihren Handrücken berührten. Sein blondes Haar wehte in der Brise und erinnerte sie an Wilhelm, ihren Bruder, als er noch ein Kind gewesen war. Wilhelm war von dem Landesfürsten ihrer Heimat entführt worden, damit er in einer seiner zahlreichen Schlachten für ihn kämpfte. Seitdem hatte sie ihren jüngsten Bruder nie wieder gesehen. Hans blickte sie strahlend an. Anscheinend ahnte er weder etwas von dem schmutzigen Fleck auf seiner Wange noch von den Gefahren der bevorstehenden Reise. „Schauen Sie, Fräulein Ebel!“, sagte der Fünfjährige. Die freudige Erregung in seinen hellen, blauen Augen spiegelte die 11


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