Kulturmagazin 2018

Page 40

Die Welt in Wien – Wien in der Welt

Rio de Janeiro, Radierung von Thomas Ender, © Österreichische Nationalbibliothek »Austria und Augusta«, den Hafen von Triest. Sie erreichten Rio de Janeiro, ihr Hauptquartier, am 15. Juli bzw. am 1. September 1817. Die österreichischen Forscher bereisten zunächst die Umgebung von Rio und einige Gebirgs- und Küstenregionen. Voller Begeisterung schrieb der Leiter der Expedition nach Wien: »Aber wie ungemein anziehend sind doch diese wildschönen Gegenden für den Naturforscher, welch eine Lust für den Freund der Pflanzenkunde, wo ihm blühende Hilikonien, Bromelien, Maranten aus dem Gebüsch entgegen nicken.« Die Mitglieder der Expedition waren allerdings immer größeren Strapazen ausgesetzt. Wegen der schlecht ausgebauten Straßen und Wege in die entlegenen Gebiete war die Versorgung extrem schwierig. Große Mengen an Ausrüstung, wissenschaftlichem Material, Vorräten und Ochsenhäuten als Regenschutz für die gesammelten Objekte mussten auf Trageseln, unterstützt von Sklaven und Trägern, mitgeführt werden. Termiten und Ameisen bildeten eine ständige Bedrohung für die Sammlungen. Nach drei Monaten trafen sie wieder in Rio ein. Dort hatte der kaiserliche Hofgärtner Wilhelm Schott eine Akklimatisationsstation für lebende Tiere und Pflanzen eingerichtet, um diese auf die Reise und das Klima in Österreich vorzubereiten. Auch Erzherzogin Leopoldine wurde von der Sammelwut angeregt. Ihr Bibliothekar Rochus Schüch hatte nach ihren Weisungen im kaiserlichen Palast von São Cristóvão eine kleine naturhistorisch und kulturell interessante Sammlung angelegt, die zum Kernstück des brasilianischen Nationalmuseums werden sollte.

40

Die ersten Sammlungen gingen im Juni 1818 nach Wien ab, als sich nebst Professor Mikan der Landschaftsmaler Thomas Ender mit etwa 782 Aquarellen und Zeichnungen und der Naturforscher Giuseppe Raddi zur Heimreise einschifften. Im Gepäck hatten sie 49 Vögel, drei Säugetiere, sechzehn Fische, 3 000 Insekten, vier Eingeweidewürmer, 171 Samenproben, 2 400 Pflanzen und einen jungen, in Branntwein eingelegten Kaiman, der auf der Reise verendete. Ein Jahr später kam die nächste, ähnlich zusammengestellte Sendung mit einem kostbaren Geschenk Leopoldines für ihren Vater: zwei Jaguare für den Tiergarten Schönbrunn. Die ankommenden Sendungen erregten in Wien großes Aufsehen. Bald wurden aber die Räumlichkeiten im k. k. Naturalienkabinett zu klein, und so wurde im ehemaligen Harrach’schen Palais in der Wiener Johannesgasse 972 (heute Nummer 7) ein brasilianisches Museum eröffnet, das »Brasilianum«. Diese Sammlungen bildeten später den Grundstock für das heutige Naturhistorische Museum. Nachdem Mikan nach Österreich zurückgekehrt war, begann Pohl seine großen abenteuerlichen Reisen in das Landesinnere. Nach fast vier Jahren kehrte er nach Rio zurück. Seine naturwissenschaftlichen und linguistisch-ethnologischen Studien über die Bewohner des Landes hielt der Forscher in seinem Werk »Reisen ins Innere von Brasilien« fest. Als Pohl 1821 nach Wien zurückkehrte, wurde er von einem mit Lippentellern geschmückten Paar aus dem Stamm der BotokudenIndianer begleitet. Kaiser Franz I. ließ das Paar – Francisca und Juan – im Volksgarten zu Gärtnern ausbilden. 1823 starb die

junge Frau und Juan kehrte in seine Heimat zurück. Nach und nach kamen alle Forscher nach Österreich zurück. Nur Johann Natterer blieb insgesamt 18 Jahre in Brasilien. Er verschwand einfach in der unendlichen Wildnis des fast unbewohnten Landes und konnte bis zum Amazonas vordringen. Unermüdlich schickte er Sammlungen nach Wien. »Johann Natterer war der eifrigste und fruchtbarste Sammler, der südamerikanischen Boden betrat. Er machte große Forschungsreisen nach Brasilien und sammelte allein 12 293 Vögel und 32 825 Insekten«, berichtet die Archivarin im Naturhistorischen Museum, Dr. Christl Riedl-Dorn. »Er ging dabei so weit, dass schließlich auch ein im Darm eines Menschen lebender Spulwurm in das Wiener Museum gelangte, der die Aufschrift trägt: ‚Ascaris lumbricoides von Natterer erbrochen‘.« Trotz Krankheit und persönlicher Leiden konnte Natterer unzählige neue Arten dokumentieren. Er machte völkerkundliche Studien und erstellte Wortlisten indianischer Sprachen. Viele Gegenstände, die er von den indigenen Stämmen des Amazonas im Tausch erhalten hatte, kamen nach Wien. Nach der Rückkehr Natterers 1836 war das »Brasilianum« bereits wieder geschlossen und die Sammlungen dem k. k. Hofnaturalienkabinett einverleibt worden. Die persönlichen Exponate und Aufzeichnungen Natterers gelangten so in den Augustinertrakt, wo sie im Revolutionsjahr 1848 bei einem Brand zerstört wurden. Natterer starb schon 1843 im Alter von 56 Jahren. Sein Erbe ist beeindruckend, seine Sammlungen werden im Naturhistorischen Museum und im Weltmuseum Wien, dem ehemaligen Völkerkundemuseum, aufbewahrt. Schott hatte eine Auswahl lebender Pflanzen aus Brasilien mitgebracht. Sie wurden in Schönbrunn und im neuen Glashaus im privaten Kaisergarten (Burggarten) weitergezogen. Einige exotische Pflanzen wurden sogar auf den Desserttellern der kaiserlichen Hoftafel verewigt. Mehr als hundert von Thomas Ender geschaffene Werke werden im Kupferstichkabinett der Akademie der bildenden Künste Wien aufbewahrt. Bei dieser außergewöhnlichen Expedition wurden zahlreiche tropische Pflanzen und exotische Tiere gesammelt, viele davon sind heute ausgestorben. Für die österreichische naturwissenschaftliche und ethnologische Forschung dieser Zeit war die Brasilienexpedition wohl eine der erfolgreichsten!

Kulturmagazin der Wiener Fremdenführer 2018


Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.