4 minute read

Kulinarische Nachlese

Johannes Mohr und Swen Kernemann-Mohr, v.re.

„Trotz Internet und Fernsehküche – Kochbücher werden immer ein Kulturgut bleiben“, davon sind Johannes Mohr und Swen Kernemann-Mohr überzeugt. Die beiden Männer zogen im Januar 2010 aus dem Ruhrpott nach Berlin und betreiben seitdem in einem restaurierten Altbau-Souterrain in Berlin-Mitte, in der Nähe des Rosenthaler Platzes, Deutschlands vermutlich größtes, auf jeden Fall aber Berlins einziges Kochbuchantiquariat.

Advertisement

Rund 60.000 Titel aus zweieinhalb Jahrhunderten umfasst ihre Bibliotheca Culinaria. Neben bibliophilen Ausgaben, etwa von Auguste Escoffier, stehen büttengedruckte Originale, handgeschriebene Unikate, kulinarische Enzyklopädien, Magazine und Zeitschriften, Promikochbücher von Sophia Loren bis Vico Torriani, Kriegs- und Nachkriegskochbücher. „Das Stöbern in diesem Fundus ist immer auch eine Art besonderer Geschichtsstunde“, sagen die Antiquare.

Nun stöbern Johannes Mohr und Swen Kernemann-Mohr sozusagen auch öffentlich. Für Garcon blättern sie in Kochbüchern aus vergangenen Zeiten und notieren, was sie dabei bewegt.

IN ALTEN KOCHBÜCHERN GEBLÄTTERT

VON JOHANNES MOHR UND SWEN KERNEMANN-MOHR

Nicht nur Maccaroni! Italienische Nationalspeisen in den verschiedenen Landesteilen Piemont, Ligurien, Lombardei, Venedig, Reggio, Emilia, Romagna, Toskana, Rom, Neapel, Sizilien, Sardinien Herausgegeben von Dr. Vittorio Agnetti Druck und Verlag Art. Institut Orell Füßli Zürich 1916 183 Seiten Preis (antiquarisch): 220,00 Euro

Keine Frage, dieses Buch wirkt auf den ersten Blick ziemlich unscheinbar. Ein schlichter Pappeinband, grobes Papier, weder Fotos noch Illustrationen, lediglich auf dem Cover eine Farblithografie des neapolitanischen Künstlers Gaetano Dura (1805–1878).

Dass es dennoch eine bibliophile Kostbarkeit darstellt, liegt also nicht an seiner Ausstattung, sondern vor allem daran, dass von ihm weltweit nur noch wenige Exemplare existieren. Wir entdeckten das superseltene Werk in einer Kramkiste auf dem Flohmarkt am Rathaus Schöneberg – ein Glücksfund, der auch professionellen Bücher-Jägern nicht allzu oft widerfährt.

Der Titel lässt es vermuten: „Nicht nur Maccaroni“ (die italienische Originalausgabe wurde übrigens 1910 von Vittorio Agnetti herausgegeben) ist eine Sammlung von Fisch-, Fleisch- und Gemüserezepten – insgesamt 142 aus elf Regionen Italiens – von denen die meisten heute noch so oder zumindest so ähnlich zubereitet werden wie vor 104 Jahren in diesem Kochbuch beschrieben. Lediglich Cieche alla Pisana, das sind geschmorte Glasaale, gibt es nicht mehr – ihr Fang ist gesetzlich verboten. Und auch Singvögel sind inzwischen von den offiziellen Speisekarten verschwunden. Allerdings machen Wilderer mit illegalem Cieche- und Vogelfang trotz drastischer Strafandrohungen in Italien immer noch lukrative Geschäfte. Die Tierschutz-Organisation Caccia il Cacciatore (Jagt den Jäger) beispielsweise nennt Schwarzmarktpreise von bis zu 100 Euro für ein gefangenes und getötetes Braun- oder Rotkehlchen. Mit kleinen Vögeln und jungen Aalen – vor über 100 Jahren noch Spezialitäten vor allem der norditalienischen Küche – riskieren Gastronomen also heute ihre Lizenz, aber Bistecca alla Fiorentina, Cacciucco alla Livornese, Ossobucco alla Milanese, Saltimbocca, Stoccafisso oder Stufatino werden zwischen Mailand und Rom noch serviert – und das selbst in Spitzenrestaurants – ohne dass Gastrokritiker die Nase rümpfen und die mangelnde Kreativität des Küchenchefs bemängeln würden. Das ist nicht weiter

Berlin 1917: Anstehen nach Lebensmitteln.

verwunderlich, denn in Italien gelten kulinarische Traditionen auch unter Berufsessern weit mehr als hierzulande.

Erstaunlich ist das Erscheinungsjahr der deutschsprachigen Ausgabe des Nicht-nur-Maccaroni!-Kochbuches: 1916!

Der Erste Weltkrieg, die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, ging in sein drittes Jahr, auf den Schlachtfeldern bei Verdun, am Isonzo, in der Bukowina starben täglich tausende Soldaten, und in den meisten Ländern Europas hatte der Krieg längst den Alltag der Menschen zerstört, der taumeligen Kriegseuphorie von 1914 war rasch die Last der Entbehrungen gefolgt.

Bereits Mitte 1915 wurden in den meisten deutschen Städten Lebensmittelkarten für Fleisch eingeführt, einige Monate später Brot, Butter, Eier, Kartoffeln und Zucker rationiert. Auch in Frankreich, Österreich und Italien (das Land trat am 23. Mai 1915 in den Krieg ein) gab es Lebensmittel nur noch auf Bezugskarten oder zu Wucherpreisen auf Schwarzmärkten. Wir fragten uns, wie damals die Situation in der Schweiz war, wo 1916 der Band „Nicht nur Maccaroni“ erschien. Antworten fanden wir bei Georg Kreis, emeritierter Professor für Neuere Geschichte an der Universität Basel. „Insel der unsicheren Geborgenheit“ nannte der Historiker sein Standardwerk über das Land in den Kriegsjahren 1914 bis 1918.

Militärisch blieb die Schweiz vom Ersten Weltkrieg zwar verschont, der Alltag der Eidgenossen wurde allerdings durchaus vom Krieg geprägt. Versorgungskrise, Preisexplosion, Rationierung von Lebensmitteln – Stichworte, die belegen, dass auch die neutrale Schweiz unter den Auswirkungen des Krieges litt.

Umso erstaunlicher ist es, dass hier 1916 noch ein Kochbuch wie dieses herausgegeben wurde. In Deutschland übrigens erschienen im gleichen Jahr lediglich sogenannte Kriegskochbücher – Rezeptsammlungen, die Sparsamkeit als oberstes Gebot propagierten.

www.bibliotheca-culinaria.de