ABSTRAKT - 3 Generationen zwischen Informel und Konstruktion

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Dem Abstrakten in der Kunst auf der Spur – Versuch einer Selbstverständigung von Marie Christine Kremers, 2015 I Die Grundlagen „Abstrakt“ meint im allgemeinen Sprachgebrauch meist „gedanklich“ bzw.“ begrifflich“ im Gegensatz zur unmittelbaren Anschauung, zum Erleben und Fühlen; dies oft auch im abwertenden Sinne: Abstraktes ist blutleer und ohne Leben. Der Philosoph Hegel drehte dies um: Das Unmittelbare, in der Wahrnehmung gegebene ist das Abstrakte, weil es eben noch nicht begriffen wurde, erst im Denken wird es konkret. Dort ist es als Ergebnis eines Vermittlungs- und Reflexionsprozesses zuallererst wirklich geworden. Hier ist nicht der Ort, den Streit um die Frage, ob Begriffe real sind oder nur das in der Wahrnehmung gegebene, nachzuverfolgen. Aber es entstehen auf diesem Felde doch einige interessante Fragestellungen, die für das Verständnis dafür, was abstrakte Kunst bzw. was das Abstrakte in der Kunst denn eigentlich sein könnte, von Bedeutung sind: 1) Ist in der äußeren Natur etwas Gegenständliches in der Wahrnehmung enthalten, was durch gedankliche oder andere Vermittlungstätigkeit begreifbar gemacht werden kann? 2) Kann man diese Vermittlungstätigkeit als Abstraktionsvorgang auffassen, in dem das Wesentliche aus der Wahrnehmung „herausextrahiert“ wird? 3) Ist das Produkt dieses Vorgangs immer noch gegenständlicher Natur und hat es einen Bezug zum Raum oder existiert es außerhalb von Raum und Zeit? 4) Was befähigt und treibt uns zu, die äußere Natur in dieser Weise zu „übersetzen“? Diese ausgesprochen trockenen, metaphysischen und erkenntnistheoretischen Fragen erscheinen interessanterweise ungleich lebendiger, stellt man sie im Bereich der Theorie und Praxis der Kunst. Vielleicht ist das Abstrakte in der Kunst nicht nur Resultat eines Denkvorgangs, sondern begegnet uns auf einer viel elementareren Ebene: Wie sich gleich zeigen wird, stößt man hier tatsächlich auf Gefühle und elementare psychologischen Grundbedürfnisse.

Fühlbare Abstraktion? Abstraktion vermittelt als Technik der Kunst äußere und innere Natur – Der Seismograph für das Gelingen ist das Gefühl Einer der Pioniere der abstrakten Malerei, Wassily Kandinsky beschreibt in seiner Schrift „Über das Geistige in der Kunst“ die Loslösung vom Gegenstand in der Malerei als Fortschritt. Dieser Prozess ist aber kein beliebiger, sondern folgt einer inneren Notwendigkeit, in der der Künstler mittels bestimmter Formprinzipien die ungeordnet erscheinende äußere Natur so zur Darstellung bringt, dass die innere Natur des Menschen davon angesprochen wird. Das Abstrakte erscheint laut Kandinsky so als eigene Sprache, die erst erlernt werden muss. Der Künstler hat die Rolle eines Stellvertreters der Natur: dadurch, dass er die Formensprache beherrscht – das Wirken von Farbe und Form des Gegenstandes und sein von Form und Farbe unabhängiges Wirken -, kann er die inneren Gesetze der äußeren Natur sichtbar machen. Dabei kann er so weit gehen, das Gegenständliche ganz in abstrakte Formen zu übersetzen. Diese Übersetzung funktioniert allerdings nur dann, wenn das Gefühl angesprochen wird. Es zeigt dann das Zusammenstimmen von äußerer und innerer Natur an 1. 1. Wassily Kandinsky: Das Geistige in der Kunst, Insbesondere in der Malerei, München 1912.


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