Magazin/Journal FRAGILE Suisse – 4/2016

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Interview

«Menschen mit Hirnverletzung fallen oft durch die Maschen» Zwölf Jahre lang war Paula Gisler bei FRAGILE Suisse als Sozialberaterin tätig. Im kommenden Monat wird sie pensioniert. Im Interview schaut sie auf ihre Tätigkeit zurück und erzählt, was sie tagtäglich motiviert hat. Interview: Carole Bolliger

Paula Gisler, zwölf Jahre haben Sie bei FRAGILE Suisse als Sozialarbeiterin gearbeitet. Wie genau sahen Ihre Aufgaben aus? Ich habe Betroffene, Angehörige, aber auch Fachpersonen telefonisch und persönlich beraten. Meine Beratung bezeichne ich gerne als Übersetzungsarbeit zwischen Betroffenen und Angehörigen, aber auch Arbeitgebern und Fachpersonen. Beratung am Telefon ohne direktes Gegenüber erfordert zusätzliche Aufmerksamkeit, damit auch die Zwischentöne gehört werden.

Angehörige in diesen schwierigen Zeiten und Situationen zu unterstützen. Leider ist es manchmal nicht genug. Doch auch das musste ich lernen zu akzeptieren.

Welche Fälle sind Ihnen besonders in Erinnerung geblieben? Der Fall eines jungen Vaters hat mich sehr erschüttert: Durch eine Hirnverletzung wegen eines Unfalls kämpfte er über Wochen um sein Überleben. Nebst den körperlichen Verletzungen erlitt er auch eine gravierende Wesensveränderung. Er hatte zwar überlebt, aber Familie hatte einen anderen Menschen vor sich. Wieso sind Sie zu FRAGILE Suisse gekommen? Ich habe schon vor meiner Anstellung bei FRAGILE Mit ihm zusammenzuleben hätte Frau und Kinder Suisse im Behindertenbereich gearbeitet. Dort sam- völlig überfordert, weshalb er heute in einem Heim melte ich erste Erfahrungen zum Thema Hirnverlet- lebt. Solche Entscheidungen fallen dem Partner oder zung und den möglichen Auswirkungen. Das hat mich der Partnerin meistens sehr schwer und natürlich hat sehr interessiert. dies auch schwere finanzielle Auswirkungen. Besonders beeindruckt hat mich ein Mann, der als Sie haben viele Schicksale von Betroffenen und Ange- Kleinkind eine schwere Kopfverletzung erlitten hatte und in den Jugendjahren mehrere Operationen über hörigen zum Teil hautnah miterlebt. Ihre Schicksale haben mich immer sehr berührt. sich ergehen lassen musste. Über Jahre kämpfte er sich Sehr oft habe ich deshalb von Betroffenen gehört: «Bei durchs Leben und überforderte sich konstant in seiner Ihnen fühle ich mich zum ersten Mal verstanden.» Das Arbeit. Erst mit 40 Jahren kam er in die Beratung und hat mich motiviert. Wir Sozialarbeiterinnen bei FRAGILE sagte, er könne die geforderte Leistung einfach nicht Suisse machen, was wir können, um Betroffene und mehr erbringen. Die nötige Hilfe in solch schwierigen Situationen einzuholen, bedeutet für viele Menschen eine grosse Überwindung. Ich bin all jenen Menschen Paula Gisler, Sozialberaterin dankbar, die mir so sehr vertraut haben. bei FRAGILE Suisse. Wie hat sich Ihre Arbeit in den Jahren verändert? Ich spüre immer stärker den massiven Druck der Sozialversicherungen. Vor allem Betroffene mit unsichtbaren Defiziten aufgrund einer Hirnverletzung leiden darunter. Eine stärkere und vertiefte Zusammenarbeit mit den Sozialversicherungen wäre deshalb hilfreich und wünschenswert. In der Beratung war ich froh um das breite Angebot von FRAGILE Suisse: den Kursen und Weiterbildungen sowie den Ferienangeboten, Selbsthilfegruppen und dem Begleiteten Wohnen. In einzelnen Kantonen wurden in der Vergangenheit auch spezifische Angebote

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MAGAZIN – JOURNAL 04 / 2016


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