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Normal People

Der alte Postweg zählt zu den weniger bekannten Pfaden und gleichzeitig schönsten Routen in Richtung Inselosten. Eine neu angelegte Aussichtsplattform bietet hier seit diesem Jahr einen überraschenden Blick auf die ausgedehnte Teichlandschaft des Südstrandpolders. Es lohnt sich fast immer, gelegentlich die Perspektive zu wechseln. Das gilt nicht nur für das Weltnaturerbe Wattenmeer. Wir starten in diese Ausgabe mit dem, was uns besonders interessiert - den Geschichten der Menschen auf Norderney.

N ORMAL PEOPLE

KARLOTTA

Ich heiße Karlotta und ich bin jetzt auf Spotify und allen anderen Musikstreaming-Plattformen zu hören. Das habe ich meinem Schulfreund Can Gargiulo zu verdanken, der den Song "Even Closer" geschrieben und produziert hat. Ich bin auf der Insel geboren und habe schon als Kind immer viel gesungen zu Hause. Nach dem Wechsel von der Grundschule auf die Kooperative Gesamtschule bin ich mit Can in eine Klasse gekommen. Er hat schon mit 13 Jahren in der Norderneyer Band "10 Seconds To Midnight" gespielt. Wir haben uns richtig gut angefreundet und ich bin auch manchmal zu Auftritten und Bandproben gegangen. Wir haben eine ziemlich aktive Musikszene auf Norderney und es gibt tolle Proberäume in den alten Kellergewölben unter der Schule. Die Jungs von der Band und alle meine Freunde und Freundinnen wissen natürlich, wie gerne ich singe. Mit Can habe ich oft rumgeblödelt, dass wir mal zusammen Musik aufnehmen und ich eine richtige Sängerin werde. Das war immer nur Spaß. Aber als er "Even Closer" halb fertig hatte und der Text stand, hat er mich gefragt, ob ich Lust hätte, das Stück mal einzusingen. Die ersten Versuche klangen auf Anhieb schon ganz gut und haben uns beide total motiviert weiterzumachen. Wir haben uns dann monatelang oft mehrfach in der Woche getroffen, um an dem Song zu arbeiten. So eine Musikproduktion ist viel anspruchsvoller und aufwändiger als man glaubt. Für meinen Gesang hatte Can ein richtig gutes Mikrofon besorgt. Ich habe immer maximal eine Strophe gesungen. Manche Stellen haben wir bis zu 50 oder 60 mal aufgenommen, teilweise weil meine Stimme den Sprung von hoch zu tief nicht optimal geschafft hat oder weil ich einen Part anders akzentuiert habe, als wir uns das eigentlich überlegt hatten. Can hat die Instrumente eingespielt und alles am Computer mit einer speziellen Software zusammengetüftelt. Das ist von vorne bis hinten sein Song, aber ich freue mich total, dass ich ihn singen darf. Dafür dass wir die ganze Zeit so viel Spaß hatten, haben wir am Ende ein richtig gutes Ergebnis hinbekommen. Und je besser der Song wurde, desto mehr haben wir uns gedacht, wenn wir das so feiern, dann sollten wir das auch für andere hochladen. In den ersten paar Wochen hat "Even Closer" allein bei Spotify schon fast 20.000 Streams. Ich bin ein bisschen stolz und glücklich, dass wir das durchgezogen haben - und werde hobbymäßig bestimmt weiter Musik machen. Zurzeit versuche ich mit speziellen Stimmübungen meine Vocal Range zu erweitern. Am Ulrichsgymnasium in Norden, auf das ich inzwischen gewechselt bin, gibt es eine Musical AG, bei der ich demnächst mitmachen möchte. Nach der Schule kann ich mir vorstellen, Erzieherin oder Kunsttherapeutin zu werden. Dabei gäbe es sicher Möglichkeiten, meine musikalische Ader einzubringen - zum Beispiel mit den Kindern Lieder singen. Ich hatte die schönste Kindheit auf Norderney, die man sich vorstellen kann - mit ganz vielen Freiheiten, weil es die Gefahren und Ängste wie in größeren Städten hier kaum gibt. Aber wenn man älter wird, verändern sich die Bedürfnisse. Es ist immer noch toll, wenn im Sommer viel los ist und man jederzeit mit Freunden am Strand sitzen und den Sonnenuntergang anschauen kann. Aber mit 17 fühlt man sich trotzdem manchmal ein bisschen eingesperrt, weil man immer eine Stunde mit der Fähre fahren muss bis zum Festland. Mal eben einen Tag zum Shoppen nach Groningen oder abends in einen coolen Club oder irgendwo aufs Konzert oder ins Theater - das funktioniert einfach nicht. Es bleibt ein Zwiespalt. Ich werde nach dem Abitur die Insel auf jeden Fall erstmal verlassen. Aber ich glaube auch, dass ich bestimmt irgendwann zurückkommen werde.

NORBERT

Mein Name ist Norbert Harm und ich bin Norderneyer im Ruhestand. Viele Urlaubsgäste kennen mich noch von meiner jahrzehntelangen beruflichen Tätigkeit im hiesigen Einzelhandel, für dessen Verband ich mich bis heute vor Ort auf der Insel und in Ostfriesland mit Freude als erster Vorsitzender engagiere. Ich interessiere mich privat sehr für den Motorsport und pflege seit den 1980ern eine große Sammelleidenschaft für Automodelle im Maßstab 1:18 und 1:43. Insbesondere begeistere ich mich für die Geschichte und die Fahrzeuge von Ferrari. 18 mit Liebe zum Detail nachgebildete Sportwagen dieses legendären italienischen Automobilherstellers bilden den Kern meiner insgesamt rund 200 Modelle umfassenden Sammlung. Auf Geschäftsreisen habe ich regelmäßig Spielzeugläden aufgesucht und nach neuen interessanten Autos geschaut. Das macht den Reiz aus - das Stöbern, Entdecken und Zusammentragen. Ich bin früher auch gerne zu Formel-1-Rennen gefahren. Als wir in Hockenheim mal zu einem Empfang bei Castrol eingeladen waren, parkten 30 knallrote Ferraris vor dem Gebäude. Da konnte ich ganz nah rangehen und sehr viele Details im Original sehen, was ich an meinen Modellen so bewundere. Als ich mich 1989 auf Norderney mit meinem Modegeschäft selbstständig gemacht habe, gehörte die Sammlung natürlich zur Ladendekoration. Da konnte ich Tag für Tag feststellen, wie groß das Interesse insbesondere der männlichen Kundschaft am Sammeln war. So haben sich viele gute Gespräche ergeben - und dem Umsatz hat es auch nicht geschadet. Mein Lieblingsauto ist übrigens kein Ferrari, sondern der ab 1962 gebaute AC Cobra von Carroll Shelby, von dem ich natürlich auch ein Modell habe. Heute ist meine Sammelleidenschaft ein bisschen abgekühlt - aber ich erfreue mich jeden Tag an dem, was ich habe. Das Ausscheiden aus dem Berufsleben hat für mich eine Umstellung bedeutet. Inzwischen habe ich mich gut damit arrangiert und mache - neben der Zeit für die Familie - sehr viel für mich und meine Gesundheit. Ich laufe jeden Tag meine 17.000 Schritte, gehe zur Sommerzeit jeden Morgen um halb acht schwimmen, spiele Golf, spiele Boule - was will ich mehr. Bewegung, Bewegung, Bewegung - dafür ist die Insel ein idealer Ort und einfach nur wunderschön. Es gibt auf Norderney kaum einen Weg, den ich nicht kenne. Auf meinen Touren kreuz und quer über die Insel entdecke ich immer wieder neue Facetten. Man nimmt die Dinge intensiver wahr, wenn man zu Fuß geht. Ich mag besonders den Zuckerpatt in Richtung Weisse Düne, der - seit er für Fahrräder gesperrt ist - zu einem wunderbaren Erholungsweg für Wanderer geworden ist. Wenn ich morgens losmarschiere, komme ich manchmal auch an den bekannten Rentnerbänken vorbei. Dort sitzen immer vier bis fünf ältere Herren. Ich grüße dann freundlich und halte einen kleinen Plausch, aber länger hinsetzen würde ich mich nicht - dafür fühle ich mich zu jung. Mit der Distanz zum Beruf hat sich nicht nur mein Blick auf die Landschaft der Insel verändert. Als Selbstständiger oder Verantwortlicher eines Geschäfts hat man vieles vor allem durch diese eine Brille gesehen. Das liegt vielleicht in der Natur der Sache. Heute weiß ich, wie wichtig es ist, die Dinge aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten. Auf Norderney findet in vielen Köpfen ein Umdenken statt, wie es zukünftig auf der Insel weitergehen soll. Diese Diskussionen halte ich für gut und wichtig.

Ich heiße Amat und lebe seit 2014 in Deutschland. Urlauber auf Norderney kennen mich vielleicht von der Düne 13 am Leuchtturm, wo ich seit der Eröffnung 2016 arbeite. Ursprünglich komme ich aus dem Libanon. Die Hauptstadt Beirut, in der ich geboren und aufgewachsen bin, ist ein wunderschöner und aufregender Ort. Aber es gibt dort auch viele Konflikte, zum Beispiel zwischen den Religionen, und auch keine Meinungsfreiheit. In meiner Kindheit war alles gut. Ich bin bis 15 zur Schule gegangen und habe danach als Bühnentechniker gearbeitet, um Geld zu verdienen. 2011 ist meine Mutter an einer Herzkrankheit gestorben. Danach wurde auch der Krieg in unserem Nachbarland Syrien immer schlimmer - und viele aus dem Libanon sind dort hingegangen, um zu kämpfen. Mein Vater ist auch Syrer, aber er hat nie da gelebt. Ich war durch den Krieg ganz durcheinander. Ich war noch klein, ein Jugendlicher - und ich wusste nicht, was ich tun sollte. Der Druck, das war alles zu viel für mich. Meine Oma hat mir dann ein bisschen Geld gegeben und mich ermutigt, aus dem Libanon zu fliehen. Ich bin dann über die Türkei und Griechenland nach Deutschland gekommen und war zuerst in einem Heim in Meppen im Emsland. Ich kann ganz gut Englisch, aber ich wollte möglichst schnell Deutsch lernen - die Sprache ist der Schlüssel für alles. Auf dem Handy gibt es gute Übersetzungsprogramme zum Lernen. Ich habe mir alles selbst beigebracht, vor allem auch weil ich immer viel gearbeitet und gesprochen habe mit Menschen. Warum soll ich schüchtern sein? Ich habe von Anfang an versucht, irgendeinen Job zu finden. Zu Hause sitzen und chillen - das ist nicht mein Ding. 2015 habe ich Jürgen kennengelernt, der hier mit Martina die Düne 13 macht - und er hat mich gefragt, ob ich auf Norderney arbeiten möchte. Seitdem bin in der Saison von Montag bis Freitag hier - zuerst als Spüler und inzwischen im Service. Am Wochenende arbeite ich noch in einer Kneipe in Meppen - und im Winter als Paketzusteller bei der Deutschen Post. Norderney liegt wie meine Heimatstadt Beirut am Meer. Ich fühle mich hier wohl. Nach der Arbeit bin ich oft echt platt, aber manchmal gehe ich abends noch an den Strand an der Oase oder trinke irgendwo ein Bierchen mit den Kollegen. Das ist einfach schön. Ich habe immer noch jeden Tag eine Erinnerung an Beirut in meinem Kopf. Es ist nicht leicht seine Heimat und seine Familie zu verlassen. Früher habe ich viel libanesische Musik gehört. Jetzt mag ich auch deutsche Sachen wie Wincent Weiss, Michael Patrick Kelly oder Johannes Oerding. Von dem gibt es ein Lied mit dem Titel "Heimat" - das sagt viel von dem Gefühl. Ich bin hier in Deutschland angekommen. Auf Norderney ist alles freundlich. Es hat mir noch nie jemand das Gefühl gegeben, ein Ausländer zu sein.

AMAT