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Schwerpunkt | 40 Jahre Kyudo in Deutschland wurden, ist ein Alleinvertretungsanspruch ohnehin fraglich. Ob die Arbeit der Tsunomi, das „Füllen“ vor dem Abschuss, das Erreichen der Kreuze einschließlich des 6. Kreuzes nach den 5 Kreuzen ausgeführt wurde oder nicht, verlangt die entsprechende Arbeit und Konzentration, ist konkret sichtbar und bedarf keiner Ideologie. Darüber hinaus bezweifele ich, dass Yudansha in der Lage sind, Beurteilungen über richtig und falsch abzugeben und sich als Bewahrer des Richtigen zu behaupten. Mit dem Beginn der Meiji-Zeit wurden bekanntlich das Shogunat und die Samurai als Klasse abgeschafft. Als die Budo dann zu Beginn des letzten Jahrhunderts als Erziehungsmittel im Sinne eines „Do“ wieder belebt wurden, forderte die zuständige Behörde, dass die Kampfkünste nur betrieben werden dürfen, wenn sie u. a. die folgenden Zulassungsvoraussetzungen erfüllten: q Sie müssen die Sicherheit (Unversehrtheit) für alle Beteiligten gewährleisten. q Sie sollen standardisierten Formen in der Ausübung sowie bei Prüfungen und Wettkampf folgen. q Sie sollen keine favorisierende Bindung an eine Ryu-ha zeigen und frei von religiösen und weltanschaulichen Bindungen sein. q Sie sollen allen Bürgern (z.T. erstmals auch Frauen) zugänglich sein und weder eine Standesbindung noch Elitenbildung aufweisen. q Die Organisationsstruktur soll selbstverwaltend, demokratisch und nach allgemeinen Geschäftsprinzipien gestaltet sein. q Der Unterricht soll systematisch sein und sich rationaler Methoden in der Vermittlung bedienen. Vor diesem Hintergrund entstand bekanntlich bereits um 1930 der Versuch, eine Kyudo-Standardform zu schaffen, nicht zuletzt unter Federführung von Urakami sensei. Auch wenn diese sich nicht durchgesetzt hat, so ist doch auch überliefert, dass es den Slogan gab, der beste Schütze sei derjenige, der die Waza der Heki-Schule und das Rei-ho der

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Ogasawara-Schule in sich vereinigte. Dieser Gedanke des – salopp gesagt – „Best of ...“ hat bei der Niederlegung der Prinzipien, wie sie die ANKF heute vertritt, wohl eine Rolle gespielt und die führenden Meister verschiedener Hauptlinien aus der damaligen Zeit zusammengeführt. Man kann zu dieser Entwicklung stehen, wie man will, aber letztlich ist es neben der Bindung an den eigenen Lehrer auch ein Prinzip im Budo, „von allen Künsten und ihren Vertretern zu lernen“. In Japan gibt es neben der ANKF natürlich noch Dojo mit Traditionsbindung. Am bekanntesten ist sicher die OgasawaraSchule, die nunmehr in der 31. Generation besteht. Desgleichen gibt es für die Chikurin-ha ein Netzwerk usw. Die Vertreter dieser Linien bewahren sowohl ihre

Tradition als auch den Kontakt zum japanischen Dachverband. Das geschieht aber ohne die Behauptung, dass die jeweilige Ryu-ha besser wäre als andere Ryu-ha oder der Mainstream. Wie so oft wird in Japan statt eines Entweder-oderauch in diesen Fällen eher ein Sowohl-alsauch-Prinzip praktiziert, mit der Folge, dass „Harmonie“ dadurch entsteht, indem man sich gegenseitig respektiert. Warum sollten die Leiter dieser Lehrrichtungen noch Zeit und Energie für die Dachorganisation aufbringen, wenn doch die Ryu-ha genügen könnte? Die lange Geschichte der alten Lehrrichtung ist sicher beeindruckend, aber kein wirkliches Argument gegen die GendaiBudo (neuzeitlichen Budo). Niemand käme doch hier auf die Idee zu

sagen, dass z. B. Tizians Werke besser sind als die eines zeitgenössischen Malers, nur aufgrund der Tatsache, dass Tizian älter ist. Fazit: Wenn sich die Kyujin mehr Offenheit und Perspektive gestatten würden und andere Schützen in ihrem Bemühen achten könnten, dann erübrigten sich m. E. manche Debatte, erst recht Herabsetzungen und Pöbeleien, wie man sie unlängst unter dem Vorwand der „wahren Lehre“ dank Internet weltweit hat verfolgen können. Leider alles weit entfernt von dem alten Budo-Grundsatz: „Tritt nicht einmal auf den Schatten deines Sempai.“

Abschließend noch eine kurze Anmerkung zum Thema Ryu-ha. Wer einer Ryuha angehört, fügt sich dem Urteil und den Vorgaben des Soke bzw. der Führungsgruppe ohne Widerspruch. Eine Demokratisierung oder gar ein Mitspracherecht von Anfängern findet in einer Ryu-ha nicht statt. Wer die modernen Budo-Verbände und ihre Strukturen für einengend etc. hält, wird meiner Meinung nach in einer authentischen Ryu-ha keine Alternative finden. Aber angesichts allgemeiner gesellschaftlichen Entwicklungen wird auch in Japan – allen Traditionen zum Trotz – ein im Ständesystem des Mittelalters entstandenes System nur eingeschränkt akzeptiert, zumal die Chance, vielen Menschen ein Angebot machen zu können, in den familienähnlichen Strukturen einer Ryu-ha nur eingeschränkt möglich ist. Ich hoffe, dass das demnächst amtierende Präsidium einen Standpunkt vertritt, der die Entwicklung des Kyudo in Deutschland für alle Schützen sichert, ohne sich national oder international mit nachrangigen Problemen erschöpfen zu lassen. 2 Fragenkatalog: Klaus-Peter Staudinger


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