famos - 3/2010

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SEPT. 2010 - DEZ. 2010 | 05

Nur die kleine Schwester

Gefürchtete Lehrer Herbert Liedel, 61, Fotograf und Filmemacher, verheiratet, drei Kinder: Meine Schulzeit war grausam. Am Realgymnasium, dem heutigen Willstätter, gab es gefürchtete Lehrer. Einer hatte zwei Holzbeine, gab Latein, Deutsch und Schönschreiben. Er hat uns schikaniert. Schlechter als Note 6 nannte er „bodenlos“. Ich finde es schön, dass sich viel geändert hat, freue mich, wenn ich beim Wählen sehe, dass Bilder im Klassenzimmer aufgehängt werden. Zu meiner Zeit war das verboten. Die Wände waren kahl – bis auf das Kruzifix.

Selda Iyi, 27, Diplom-Informationswirtin, macht die Öffentlichkeitsarbeit fürs Erfahrungsfeld, ledig: Ich wurde mit fünf Jahren eingeschult, weil meine Eltern unbedingt wollten, dass ich mit meinem älteren Bruder Deniz in die Schule gehe. Wir waren die Grundschulzeit zusammen, aber ich war immer nur die kleine Schwester und nicht die Selda. Das hat sich dann zum Glück geändert, weil ich aufs Gymnasium ging. Ab der 8. Klasse war ich Schülersprecherin, nach einer Ehrenrunde wechselte ich auf die Real- und später auf die Fachoberschule. Der richtige Weg und eine total gute Zeit! Wir haben uns mit den Lehrern super verstanden – und ich habe immer die Feiern organisiert.

Fast zu Tode gequält Arno Hamburger, 87, SPDStadtrat und Vorsitzender der Israelitischen Kultusgemeinde, verheiratet, zwei Kinder, drei Enkel und zwei Urenkel: Ich bin 1929 in der Schweinauer Straße eingeschult worden. Im Mai 1933 wechselte ich ans Realgymnasium, genau zur Zeit der Machtübernahme durch die Nazis. Da ist es mir nicht sehr gut gegangen, ein SATurnlehrer hat mich fast zu Tode gequält. Im Juni hatte ich eine Auseinandersetzung mit einem Klassenkameraden, der mich als „Judensau“ beschimpfte. Ich habe ihm den Daumen gebrochen und wurde nach Hause geschickt. Dann besuchte ich vier Jahre die jüdische Volksschule in der Oberen Kanalstraße, wo wir ständig Ärger mit dem „Jungvolk“ hatten und auf dem Schulweg regelmäßig abgepasst wurden. Wir waren drei, die in derselben Gegend wohnten, und ließen uns nichts gefallen. Ich hatte immer ein gutes Zeugnis und nur im Singen eine 3.

Osterhase in der Tüte Erna Lösel, fast 90, arbeitete bei Staedtler, stammt aus Sachsen, seit 1950 in Nürnberg, wohnt im Altenheim St. Johannis: Mein erster Schultag ist mir gut in Erinnerung. Es war Ostern 1927. Ich hatte eine große Schultüte mit Sachen zum Knabbern und Anziehen, aber auch mit einem kleinen Osterhasen. Die Schule war gegenüber von unserem Haus, unterrichtet wurde in zwei Klassen – 1 bis 4 und 5 bis 8. Vom Lehrer gab es schon mal Prügel. Am liebsten habe ich Aufsätze geschrieben, ich war mehr durchschnittlich und habe danach eine Haushaltsschule besucht.

Glückliche Zeiten Peter Schönlein, 71, Altoberbürgermeister, Oberstudiendirektor, leitete das Dürer-Gymnasiums, verheiratet, zwei Kinder: Gerade in der Oberstufe waren am Neuen Gymnasium einige Lehrer, die uns weitergebracht haben. Das andere ist die Klassengemeinschaft: Wir haben inzwischen drei Klassenbücher angelegt und weit über die Schulzeit Klassenfahrten unternommen, am 25. September feiern wir unser 50-jähriges Abiturjubiläum! Insgesamt war es eine glückliche Zeit. Auf uns lastete kein Druck, einen bestimmten Notenschnitt zu haben. Ich war Klassen- und Schulsprecher, erlebte meine erste intensive Liebe mit einer Schülerin. Heftig war die Grundschulzeit im Herbst 1945 an der Herschelschule: 78 Kinder, kaputte Fenster, keine Ersatzkleidung im Winter, Essen gab es von den amerikanischen GIs. Als Schulleiter habe ich einiges anders als andere gemacht, zum Beispiel ist das ganze Dürer-Gymnasium per Sonderzug zur Expo gefahren. Schule halte ich für unverzichtbar – wichtig ist, dass sie human ist.

Trotzdem gern gegangen Rurik Schnackig, 34, Redakteur, verheiratet, Tochter Viola ist neun Monate alt: Auf den ersten Schultag habe ich mich immer gefreut, weil dann die Klassengemeinschaft wieder zusammen war. Ich bin überhaupt gern zur Schule gegangen, obwohl ich Gründe hatte, Angst zu haben. Schließlich wurde mein Vertrag am Melanchthon-Gymnasium um zwei Jahre verlängert. Es muss die Eigenheit eines humanistischen Gymnasiums sein, dass es dort etwas humaner zugeht. Meine Frau Julia kenne ich seit der fünften Klasse, ein Paar wurden wir aber erst 2000 – drei Jahre nach dem Abi. An meinem allerersten Schultag hatte ich als einziger von 27 nicht meine Familie gemalt, sondern meine blaue Schultüte mit Rennwagen drauf. Meine große Schwester hatte mir erzählt, dass man am ersten Tag seine Schultüte malen muss. Es war nicht das einzige Mal, dass ich nicht das abgeliefert habe, was Lehrer von mir wollten. Umfrage: Jo Seuß, Fotos: Klaus Gruber


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