Famos 1 2014

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Ausgabe 1/2014

»all inklusiv« – bildung

Über Umwege zur Universität Anja Brütting lernte zuerst den Beruf der Hauswirtschafterin und macht nächstes Jahr Abitur am Hermann-Kesten-Kolleg

In den Naturwissenschaften hatte Anja Brütting einiges nachzuholen. Das Arbeiten im Labor macht ihr inzwischen viel Spaß – nach dem Abi will die 24-Jährige Biochemie studieren.

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er ältere Geschwister hat, kennt das: Da sind nicht nur Hosen und Pullover, die es aufzutragen gilt. Es geht auch um Erfahrungen. Was beim ersten oder zweiten Kind weniger gelungen ist, wollen die Eltern, besorgt und in bester Absicht, den Jüngeren (und sich selbst) ersparen. So kam es, dass Anja Brütting fürs Gymnasium, wo sich ein Bruder schwer getan hatte, erst gar nicht angemeldet wurde. Freilich schien sie auch eher praktisch veranlagt – und die Haupt-, also die heutige Mittelschule die richtige Wahl. „Und ich habe mich auch ehrlich wohlgefühlt.“ Zum Glück war gerade der M-Zug eingeführt worden – der fleißigen Schülerin fiel es nicht schwer, auf diesem Weg die Mittlere Reife zu erreichen. „Damals wollte ich Lehrerin für Hauswirtschaft und Werken werden; basteln, nähen, töpfern – all das fand ich prima“, sagt die 24-Jährige im Rückblick. „Dafür brauchte man kein akademisches Studium, sondern zunächst eine Hauswirtschaftsausbildung.“ Auch diesen Abschluss erreichte sie zügig. „Doch als es soweit war

und ich aufs Staatsinstitut wechseln sollte, fühlte ich mich noch nicht reif dafür“, erzählt die gebürtige Eckentalerin. So kehrte sie der Hauswirtschaft den Rücken und sah sich nach einer Alternative um. Weil sie die Arbeit mit Kindern dennoch ungemein reizte, entschied sie sich für eine Erzieherinnen-Ausbildung. Und ab ging’s zu einem Praktikumsjahr in zwei Kindergärten, einem Hort und einer Jugendwohnstätte. „Es waren wichtige berufliche Erfahrungen, die mir auch in meiner persönlichen Entwicklung weitergeholfen haben“, sagt Brütting. Doch an der Fachakademie für Sozialpädagogik meldeten sich in der Auseinandersetzung mit Theorie und Praxis des Berufsfelds abermals Zweifel. „Es lag und liegt nicht an den Kindern und Jugendlichen“, sagt sie, „aber ich spürte immer stärker den Wunsch, doch noch das Abitur zu machen und zu studieren“. Wie aber sollte der alte Traum Wirklichkeit werden? Fündig wurde die junge Frau am Hermann-Kesten-Kolleg.„In den Naturwissenschaften hatte ich einiges nachzuholen“, erzählt Anja Brütting.

„Wenn alles klappt, habe ich nächstes Jahr das Abi in der Tasche und kann Biochemie studieren.“ Als anregend und motivierend empfindet sie die Atmosphäre und Lerngemeinschaft. Denn wer hier, in dem Institut auf dem früheren TA-Gelände, wie Anja Brütting die Schulbank drückt, bringt mindestens eine abgeschlossene Berufsausbildung und oft auch schon längere Erfahrungen aus der Arbeitswelt mit – ob als Fremdsprachenkorrespondentin, Zahntechniker, Koch oder Marketingfachmann. „Alle wissen, warum sie da sind und dass sie etwas für sich selbst erreichen wollen“, sagt Brütting. Auch wenn sie in der Hauswirtschaft und im Erziehungswesen nicht lange Fuß gefasst hat, will die Kesten-Schülerin die Erfahrungen nicht missen. „Ich habe doch gelernt, strukturiert zu arbeiten, Wichtiges und Unwichtiges zu unterscheiden und zu erkennen, was jeweils dahinter steckt und warum ein Thema oder Lernstoff sinnvoll oder notwendig ist.“

Text: Wolfgang Heilig-Achneck, Foto: Anestis Aslanidis


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