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Baum Seite
Der unausweichliche Baum
Dem viel beschworenen „Retter unseres Klimas“ ist eine Ausstellung im Belvedere Wien gewidmet
GROW. Der Baum in der Kunst“ heißt die Herbstausstellung im Belvedere Wien. Ihr Kurator Miroslav Haľák erklärt das Konzept der Schau.
Herr Haľák, warum Bäume? Was ist das Spannende an ihnen und wie sie in der Kunst dargestellt werden? Miroslav Haľák: Warum der Baum? Weil er unausweichlich ist! Die Kunst dreht sich kulturgeschichtlich um einige konstante Motive: Sonne, Sterne, Figuren und ihre Teile wie Handabdrücke, Tiere und Bäume. Sie bilden ein Basisrepertoire und sind bis heute in der Kunst präsent. Anhand dieser Motive entfaltet sich eine komplexe Geschichte der menschlichen Zivilisation. Das Thema Baum kann wie eine soziokulturelle Sonde die geistige Entwicklung unserer Gesellschaft sichtbar machen. In der Ausstellung geht es darum, den immensen Umfang dieses Themas in der Kunst relevant zu präsentieren. Dabei soll es keine formalistische Stilanalyse, aber auch keine ausufernde „Allesschau“ sein.
Sehen wir uns die Gegenwart an. Heute haben wir die Achtung vor den Bäumen bis zu einem gewissen Grad verloren. Die Zellen der Bäume, dieser „Lunge der Welt“, werden durch Abgase verunreinigt, es wird in Flora und Fauna eingegriffen, sie wird ausgebeutet und kapitalistisch genutzt. Was kann eine Ausstellung wie diese dazu beitragen, für dieses Thema zu sensibilisieren? Haľák: Sprechen wir von der „Lunge der Welt“, denken wir an Bäume mit all ihren organischen Funktionen, vergleichen sie aber auch mit uns selbst, wir projizieren unsere Inhalte in sie. Das heißt, wir anthropomorphisieren, also vermenschlichen Bäume. Und sehen in ihnen obendrein auch noch unsere Retter. Die Bäume sollten uns aus der Krise heraushelfen, die wir selbst verursacht haben. Die Kunst hat auf diese akute Bedrohung durch uns selbst und unseren unverantwortlichen Umgang mit unserer Umwelt sehr prompt und intensiv reagiert. Ihre äußerst prägnanten Aussagen bilden den wichtigsten Teil der Ausstellung. Anhand beispielhafter Kunstpositionen wird die Wichtigkeit des Baums als Stellvertreter für die ganze Natur deutlich gemacht. Und da jeder von uns ein Statement setzen kann, um in der Zeit des kollabierenden Klimas auf die Überlebensnotwendigkeit eines radikalen Umdenkens aufmerksam zu machen, versuchen wir das mit der Ausstellung selbst: Sie verzichtet auf herkömmliches Ausstellungsdesign. Statt plastikfoliierter Saaltexte, Poster, Blow-ups und Kunststofflabels nutzen wir Wand- und Schablonenmalerei und Samenpapier. Das Samenpapier hat dabei auch einen symbolischen Wert. Die Beschriftungen der Kunstwerke in der Ausstellung werden dadurch biologisch abbaubar – und nach Gebrauch
INTERVIEW: SOPHIE REYER
„Statt plastik- foliierte Saal- texte, Poster, Blow-ups und Kunststofflabels nutzt die Ausstel- lung Wand- und Schablonen- malerei sowie Samenpapier“
Miroslav Haľák, Kurator der Ausstellung „GROW. Der Baum in der Kunst“ im Belvedere Wien
entsorgt, das heißt eingepflanzt, kann aus ihren Samen etwas Neues wachsen – also: „GROW“!
Die Wortwurzel des Begriffes „Baum“, wobei die Bezeichnung „Wortwurzel“ sich hier besonders anbietet, geht auf das westgermanische „boum“ zurück. Wikipedia bietet dafür die Definition „Wuchsform einer Pflanze“. In der Botanik oder in der Philosophie – man denke an die sogenannten Baumstrukturen, deren hierarchische Prinzipien spätestens seit Deleuze’ und Guattaris „Rhizom“ kritisch beleuchtet werden –, aber auch in Märchen und Mythologie begegnen uns Bäume in allen Winkeln der Welt: Als Vorformen des Menschen etwa im „Popol Vuh“ der Quiché-Indianer in Guatemala oder etwa als Fantasy-Figuren wie die baumartigen „Ents“ in Tolkiens „Herr der Ringe“. Was kann die Ausstellung unserer Wahrnehmung hinzufügen? Haľák: Zu denken, eine Ausstellung könnte anhand ausgewählter Kunstwerke ein lineares Narrativ von den Totems bis zum Rhizom konstruieren, wäre falsch. Erstens, weil die Entwicklung nicht linear ist, und zweitens, weil auch die einzelnen Motive wie „Rhizom“ und „Totem“ im poststrukturalistischen Diskurs nicht strikt voneinander zu trennen sind. Ich gehe beim Thema Baum auch auf den Begriff des Rhizoms ein, denn ich sehe bei Deleuze und Guattari in der Ablehnung der „Wurzel“ als eines historisch kontaminierten Konstrukts die größte Schwachstelle ihrer Begriffserklärung einer „antihierarchischen“ Struktur. Es ist trotzdem den Versuch wert, in Baumdarstellungen eine Ordnung zu suchen. Das bedeutet, die Bäume als Zeichen zu betrachten, mit denen wir konkrete Inhalte kommunizieren. Dabei wird sichtbar, dass der Baum in der Kunst vor allem als Zeichen übernatürlicher Botschaften oder als formreiches Naturelement dient, und zwar unabhängig von Epoche, Kultur, Stil und Medium. Die „GROW“-Ausstellung will beim Verstehen der einzelnen Baumdarstellungen helfen. Sie zeigt, wie der Wandel antiker Baumsymbole durch die Moderne fortgesetzt wurde. In diesem Wandel wurden die Baumzeichen entweder um neue metaphorische Schichten ergänzt oder der metaphysischen Ebene gänzlich entzogen.
Welche Werke, die sich mit dem Baum als religiöser Chiffre befassen, präsentieren Sie in der Ausstellung? Haľák: Spirituelle Motive sind nicht die einzigen, die den Baum zum Symbol übernatürlicher Kräfte machen, aber wohl die wichtigsten. Da wir in Österreich aus einer gegebenen kulturellen Perspektive auf die Werke blicken, ist die jüdisch-christliche Tradition ausschlaggebend, um Beispiele der Symbolwerdung des Baums zu zeigen. Diese Tradition entwickelte mehrere ikonografische Motive. Etwa den „Baum des Lebens“ (arbor vitae) oder die „Wurzel Jesse“ (radix jesse). Der Baum ist als Attribut mit dem Leben und Tod der Heiligen wie Sankt Christophorus oder Sankt Sebastian verbunden. Die Perspektive der jüdischchristlichen Tradition ist natürlich nicht die einzige, das Bild eines „kosmischen Baumes“ ist in anderen Religionen oder Mythologien ebenfalls stark präsent. In allen diesen Fällen wird der Baum als Medium einer übernatürlichen Kraft betrachtet. Diese Kraft kann göttlichen oder dämonischen Ursprungs sein. Baumsymbole vermitteln deshalb nicht nur positive Inhalte, sondern auch den Untergang. Das zeigt sich an den zwei Paradiesbäumen: Einer gilt als „Baum der Erkenntnis von Gut und Böse“ (lignum sapientiae boni et mali) und ist mit der Vertreibung der Menschen aus dem Paradies verbunden. Der andere ist der „Baum des ewigen Lebens“ (arbor vitae), das die Religionen versprechen. Auf diese Ambivalenz beziehen sich viele Kunstwerke. Mit Wald- und Baumdarstellungen wird also eine ganze Palette existenzieller Themen abgedeckt.
Es muss nicht immer christlich sein. Auch in der Antike begegnen uns Bäume in Hülle und Fülle. Schenkt man der griechischen Mythologie Glauben, werden sie von sogenannten Dryaden bewacht. Das sind nymphenartige Wesen, die sich mit Vorliebe bei Eichen aufhalten. Eine von ihnen ist Daphne, die vom Gott Apollo begehrt und verfolgt wird und sich zu ihrem Schutz in einen Baum verwandelt. Sehen Sie den „Baum“ als etwas, das in unserer abendländischen Vorstellung eher mit dem Weiblichen als mit dem Männlichen assoziiert wird? Haľák: Die geschlechtliche Positionierung des Baums ist auch eine Frage der Projektion. Oft bleibt das Symbol Baum neutral, weil es als Medium dient und erst im Kommunikationsprozess eine konkrete Identität annimmt, sei es eine feminine Nymphe oder ein maskulin erscheinender Gott des Alten und Neuen Testaments. Die Bäume selbst treten selten als Gottheiten auf. Eine Ausnahme im alten Ägypten identifiziert Bäume mit weiblichen Gottheiten, die Bedürftige mit Früchten und Schutz beschenken. Wie erwähnt, hängt die Geschlechtlichkeit der Bäume in der Kunst von individuellen Projektionen ab. Ob wir eine Birke mit einer Frau oder einen Baobab mit einem Mann identifizieren, bestimmen kulturelle Faktoren, wobei die Sprachform, also das grammatikalische Genus, schon viel Einfluss hat.
„Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen“, schrieb Rainer Maria Rilke, und man ist dabei an den Querschnitt eines Stammes erinnert. Die Kreise, die der ins Wasser gefallene Assoziationsstein zieht, sind endlos. Bäume eröffnen Räume. Ein Wortspiel schließt den Kreis zum Anfang hin.
FOTOS: BELVEDERE, WIEN, FOTO JOHANNES STOLL, BELVEDERE, WIEN, BILDRECHT WIEN 2022 FOTO DOROTA SADOVSKÁ, PRIVAT
Bilder in der Ausstellung „GROW – Der Baum in der Kunst“: Ludwig Ferdinand Schnorr von Carolsfeld, „Die Breite Föhre nächst der Brühl bei Mödling“, 1838; Giovanni Segantini, „Die bösen Mütter“, 1894; Dorota Sadovska „#StayHome 2“, 2020


: BIOPHYSIK
Kalzium und Krebs
Ein Forschungsprojekt befasst sich mit den Zusammenhängen zwischen Kalzium in Zellen und Krebsanfälligkeit
Irene Frischauf, Johannes Kepler Universität, Linz
IRENE FRISCHAUF
Kalzium ist wichtig für unseren Knochenaufbau. Es spielt darüber hinaus von Anfang an eine lebenswichtige Rolle in unserem Körper. Schon gleich nach der Befruchtung einer Eizelle durch ein Spermium kommt es zu einem Kalziumsignal, das bei der Entwicklung des Embryos Prozesse steuert. Später bestimmt es die Entwicklung, das Nervensystem, den Muskelaufbau und die Funktion unseres Immunsystems mit. Dazu muss eine ausgewogene Konzentration Kalzium in unseren Zellen sein. Kommt es zu Konzentrationsänderungen, kann dies schwerwiegende Folgen haben: Ein Überschuss an Kalzium in den Zellen führt zu autoimmunen Prozessen: Das Immunsystem greift plötzlich körpereigene Zellen an. Zu viel Kalzium löst außerdem Gewebsentzündungen und andere pathologische Zustände in unserem Körper aus.
Bei einer Unterversorgung der Zellen mit Kalzium werden Zellprozesse nicht korrekt ausgeführt. Das Immunsystem kann seine Fähigkeit verlieren, reaktive TZellen zu bilden. Die Folge ist ein Ausbleiben einer Immunreaktion bei bakteriellen oder viralen Infektionen. Kalzium beeinflusst auch die Reaktion bei einer Infektion mit Viren wie SARSCoV2.
Um die richtige Konzentration von Kalzium in Zellen aufrechtzuerhalten, muss verbrauchtes nachgefüllt werden. Dazu dienen Ionenkanäle in der äußeren Hülle von Zellen. Der wohl am besten untersuchte Ionenkanal ist der CRACKanal. Seine Fehlfunktion führt zur Immundefizienzerkrankung, zu Muskelerkrankungen, zu Veränderungen von Muskeln, Augen und Haut und hat auch Anteil an Krebsarten.
Am Institut für Biophysik der Johannes Kepler Universität Linz wird der Zusammenhang von Veränderungen in CRACKanälen und der Entstehung von Krebsarten untersucht. Die CRACKanäle können durch Mutation – entweder durch Vererbung oder im Laufe des Lebens erworben – so verändert sein, dass vermehrt Kalzium in die Zelle gelangt und dies zu einem Überschuss führt. So beginnt die Zelle, sich unaufhörlich zu teilen und zu wachsen – Zeichen für einen Krebs.
Wenn sich feststellen lässt, welche Veränderungen in den Ionenkanälen die Krebsentstehung begünstigen, lassen sich therapeutische Ansätze entwickeln. Im Idealfall kann man Ionenkanäle wieder „gesund“ machen und Krebs vorbeugen.
TITEL-THEMA
STADT – LAND WAS MACHT NOCH DEN UNTERSCHIED?
Seiten 10 bis 22
Frauke Krüger-Lehn arbeitet als selbstständige Illustratorin und Kunstlehrerin, ihre Tochter, Elisabeth Spengler Castillo, studiert Visuelle Kommunikation an der ABK Stuttgart. Gemeinsam gestalten sie illustrative Projekte wie die Collagen in dieser Ausgabe. In ihren künstlerischen Arbeiten überwinden sie die Widersprüche Stadt-Land. Mit Papier und Schere bauen sie eine Gartenstadt, eine Insel der schrägen Vögel, ein Naturhaus, ein Großstadtbienen-Paradies und einen Gemüseprinzen. Mehr Arbeiten unter www. fraukeswelt.net oder www.instagram.com/eliquent__
: AUSGESUCHTE ZAHLEN ZUM THEMA
ZUSAMMENGESTELLT VON SABINE EDITH BRAUN
427
Naturdenkmäler gibt es in Wien, darunter einzelne Bäume, Baum- oder Alleegruppen und flächige Naturdenkmäler wie Wiesen – die meisten, nämlich 84, in Döbling, gefolgt von Hietzing mit 66 und Liesing mit 47. Die wenigsten Naturdenkmäler, nämlich zwei, hat Mariahilf.
0,7 Prozentpunkte
höher als in Wien war 2021 die Inflationsrate von Haushalten in kleinen Gemeinden. Grund dafür: Die Verbraucherpreise für Energie lagen 2021 um 11,1 Prozent höher als im Jahr zuvor. Das trifft Haushalte in ländlichen Gebieten ungleich stärker.
7
Megacities gibt es in Europa und Nordamerika: Paris, Moskau, Istanbul, London, New York, Los Angeles und Chicago. In Asien sind es rund dreimal so viele. Als Megacity gilt eine Stadt mit einer Bevölkerung von mehr als zehn Millionen Menschen. In Tokio, der weltgrößten, leben über 37 Millionen.
1 Prozent 6,93
jener Energie, die für die Herstellung industrieller Baustoffe wie Stahlbeton benötigt wird, braucht Lehm als Baustoff. In Deutschland gibt es seit 2013 wieder verbindliche Normen für den Lehmbau. Sie gelten für werksmäßig hergestellte Lehmsteine, Lehmmauermörtel und Lehmputzmörtel.
Ärzt*innen
pro 1.000 Einwohner*innen hat Wien, gefolgt von 5,89 pro 1.000 Einwohner*innen das Bundesland Salzburg. Die geringste Ärzt*innendichte herrscht im Burgenland (4,39), in Vorarlberg (4,36) und Oberösterreich (4,3).
4,15 Milliarden
Euro umfasste der Luxusimmobilienmarkt in Österreich 2021, um eine Milliarde Euro oder 31,5 Prozent mehr als 2020. Ein Top-Ten-Einfamilienhaus in Wien kam im Durchschnitt auf fünf Millionen Euro, in Tirol auf 10,4.
72.377
Baubewilligungen für Wohnungen wurden 2021 österreichweit ausgestellt, das ist ein Minus von 6,1 Prozent im Vergleich zu 2020. Die im ersten Quartal 2022 baubewilligten 13.871 Wohnungen entsprechen einem Minus von 27,4 Prozent zum Vorjahresquartal (siehe auch Seite 18 f).
20,66 Prozent
beträgt der jährliche Anteil jener Gelder, die das Umweltbundesamt in Projekte investiert, die dem UN-SDG-Ziel Nr. 13 „Maßnahmen zum Klimaschutz“ zuordenbar sind. 11,59 Prozent fallen in Projekte zum Ziel Nr. 15 „Leben am Land“, und 9,89 Prozent in das Ziel Nr. 11 „Nachhaltige Städte und Gemeinden“.
