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heureka!
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Aus Wissenschaft und Forschung Zoologie und Sozialpsychologie
Orientalistik
Ein Krebs, vier Kilo schwer
Warum der Koran nicht wortwörtlich zu nehmen ist, sondern stets neu interpretiert werden muss
Ein Einsiedlerkrebs wurde die Schneckenschale los und wuchs zum Kokosnussknacker heran anja Stegmaier
S
chon Charles Darwin notierte 1836 ungläubig in sein Reise– journal, was erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts nachgewiesen werden konnte: Der Palmendieb, der größte an Land lebende Krebs, schält oder sprengt mit seinen kräftigen Scheren Kokosnüsse und verzehrt sie. Früchte, Pflanzenmaterial, Aas und andere Krabben stehen auf dem Speiseplan. Der Mythos, Birgus latro klettere in mageren Zeiten auf Palmen, um Kokosnüsse zu ernten, konnte nicht bestätigt werden. Unreife Nüsse interessieren den Einsiedlerkrebs weniger. Trotzdem treibt es das Tier oft Spinnen gleich auf Palmen. Darüber hinaus ist er aber auch ein Navigationstalent. Eine Forschergruppe des Max-Planck-Institutes in Jena und der Uni Greifswald fand mithilfe eines GPS-gestützten Trackingsystems heraus, dass die bis zu vier Kilo schweren Allesfresser an die vier Kilometer weite Wanderungen von der Küste in den Regenwald bis zum Landinneren und retour zurücklegen. Die Halbnomaden, die bis zu 80 Jahre alt werden, fanden trotz kilometerweiter Verschleppung in blickdichten Beuteln wieder an ihren Ausgangsort zurück. Einige Krebse schlagen
individuelle Routen beim Rückweg ein, andere nehmen identische Routen unabhängig voneinander. Vermutet wird, dass der Zehnbeiner sich seinen Kurs anhand visueller Besonderheiten sucht. Aber auch gefühlte Veränderungen des Untergrunds, Gerüche sowie den Stand der Gestirne benutzt das findige Tier möglicherweise, um sich
zu orientieren. Seine Robustheit verdankt der Krebs im Lauf seiner Entwicklung dem Verzicht auf die schützende Schneckenschale. Das erlaubt ihm ein größeres Wachstum, was das Feindspektrum stark minimiert. Wegen seines schmackhaften Fleisches wurde der Krebs gerne von Menschen gejagt, da nutzte leider auch das Klettern auf Palmen nichts.
Ob der Krebs auch auf Palmen klettert, konnte nicht bestätigt werden
Helfen ist rational, wegschauen auch Zu viele Zeugen verringern die Chancen des Opfers auf Hilfe – außer es sind viele Helfer nötig jochen stadler
Fotos: Jakob Krieger, privat
chtunddreißig Menschen hören A die Schreie der jungen New Yorkerin oder sehen Einzelheiten davon,
wie sie ausgeraubt, vergewaltigt und niedergestochen wird. Es vergeht mehr als eine halbe Stunde, bis endlich jemand die Polizei verständigt. Zu spät: Kitty Genovese stirbt auf der Fahrt ins Krankenhaus. Sechs Jahre später, im Jahr 1970, wird ihr Fall wissenschaftlich beschrieben und den Zeugen das „GenoveseSyndrom“, auch Zuschauereffekt genannt, attestiert. Eine große Zahl an Helfern verringert die Chancen, dass jemand eingreift, diagnostizierten die Wissenschafter. Innsbrucker Forscher haben nun in einem Experiment gezeigt, dass mögliche Helfer rational entscheiden, ob sie
unterstützend einschreiten oder nicht. Sie leisten sehr wohl Hilfe, wenn sie erkennen, dass in einer Situation der Beistand von mehreren Personen notwendig ist, berichten sie im British Journal of Social Psychology. „In der Praxis braucht es auch Zivilcourage, um für andere einzuschreiten“ Dirk Mügge, Uni Innsbruck
Sie schufen eine fiktive Psychologiestudentin namens „Sabrina Neumann“, die ihre Studienkollegen per E-Mail bat, an einer Umfrage über das Gedächtnis teilzunehmen. Manchen
schrieb sie, dass nur mehr eine einzige Rückmeldung fehle, damit ihre Studie komplett ist, andere erhielten die Information, dass sie noch hundert Antworten bräuchte. „Die Auswertung zeigte tatsächlich, dass der Zuschauereffekt nicht eintrat, wenn mehrere Rückmeldungen benötigt wurden“, so die Forscher. Zwischen dem E-Mail Verkehr von Innsbrucker Studenten und der New Yorker Straße besteht jedoch ein kleiner Unterschied. In der Praxis kann es mit einem Risiko verbunden sein, wenn man einschreitet, hier wäre außer einer rationalen Überlegung auch Zivilcourage notwendig, erklärt Dirk Mügge vom Institut für Psychologie der Uni Innsbruck.
werner Sturmberger
er Koran ist kein geschriebener Text, sondern mündlicher VorD trag. Bis weit ins 20. Jahrhundert war
nicht der geschriebene Text autoritativ, sondern die gelebte Rezitation, der improvisierte Text. Das ist der Koran“, sagt der Orientalist Navid Kermani. Er betrachtet den Koran nicht als ein Schriftstück, sondern als die Geschichte seiner eigenen Interpretation. Der Koran ist, anders als die Bibel, kein Text über Gott, sondern Gott spricht im Koran in erster Person. Darum sei eine menschliche Interpretation notwendig. Der Koran gilt so als die Geschichte seiner eigenen Interpretation, Mohammed sei sein erster Interpret gewesen. Eine klassische Koraninterpretation aus dem 8. oder 9. Jahrhundert folgt einem wiederkehrenden Schema. Dem Koran-Vers folgen verschiedene Interpretationen, die mit der Floskel „Es wird gesagt, dass …“ eingeleitet werden. Auf sechs oder sieben unterschiedliche Interpretationen folgt die eigene Auslegung des vortragenden Interpreten, die mit der Formel „Aber Gott weiß es besser“ abgeschlossen wird. Eine wortwörtliche Auslegung des Korans ist also völlig antithetisch. Was der Vers wirklich meint, würde letztlich ja nur Gott wissen. Für die Verschriftlichung des Islams gibt es mehrere Gründe. Die orthodoxe Islaminterpretation sei im Lauf des 18. Jahrhunderts immer mehr an ihren eigenen Regeln erstarrt. Die Renaissance der arabischen Hochsprache trug dazu bei, dass nun jeder den Koran verstehen konnte, während dieser gleichzeitig als gedruckter Text weite Verbreitung fand. Die Demokratisierung des Zugangs zum Koran schuf erst die Möglichkeit, die Deutungshoheit der orthodoxen Islaminterpretation herauszufordern. „Die Muslim-Brüder-Bewegung ist nicht in den Moscheen, sondern in der Ingenieurkammer und unter den Ärzten in den Krankenhäusern entstanden“, sagt Kermani. „Man wollte zurück zur reinen Schrift und das hat zu reformatorischen Bewegungen ebenso geführt wie in den Fundamentalismus. Der ist ursprünglich aus einer Reformbewegung entstanden und wollte den ganzen Ballast der Tradition abwerfen.“