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Stadtporträt

Das Pferd des heiligen Wenzel hängt von der Kuppel der Lucerna-Passage, eine Skulptur des Enfant terrible David Cerný

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antastisch, mystisch und geheimnisvoll wird die Stadt genannt, als „Brutstätte des Gespensterwesens“, als „Tummelplatz der Hexenmeister“ wurde sie beschrieben. Die Legende vom magischen Prag, der Epoche Rudolfs II. und des Rabbi Löw mit seinem Golem, wird seit Jahrzehnten an die Touristen verhökert. Inzwischen kann sich die Stadt vor Besuchern kaum noch retten. Prag zieht mehr Gäste an als Venedig oder Florenz. Literaturfreunde kommen in Scharen wegen Franz Kafka, dem berühmtesten Sohn der Stadt. Gern erzählt man hier die Geschichte von der Amerikanerin, die in Prag einen Tschechischkurs belegte, um Kafka mal im Original lesen zu können. Unter den 16 Kafka-Häusern in Prag ist auch ein sehr kleines im Goldenen Gässchen, das dem lärmgeplagten Autor einst als nächtlicher Rückzugsort zum Schreiben diente. Die Lage hat sich gründlich geändert: Seit Neuem wird der Besucherstrom reguliert, indem man fürs Goldene Gässchen Eintrittskarten verkauft. Bei aller Skepsis gegenüber dem kassenfreundlichen Zauber kann man

Einkaufspassage beim Wenzelsplatz

nicht verleugnen, dass Fantasie und Wirklichkeit in Prag einander immer wieder aufheben – auch in unserer heutigen rationalen, pragmatischen Zeit. Nach der Samtenen Revolution im November 1989 wurde ein Dichter zum Staatspräsidenten gewählt, nur sieben Monate nach seiner letzten Haftentlassung jagte Václav Havel mit einem Tretroller durch die

Gänge der Präsidentschaftskanzlei. Die Uniform der Burgwache ließ Havel von Oscar-Preisträger Theodor Píštˇek, dem Kostümbildner von Miloš Formans „Amadeus“-Film, entwerfen. Das Disneyland-taugliche Ergebnis ist überaus hübsch anzuschauen. Prag-Reisende haben nun auch die Möglichkeit, im selben Haus, vielleicht sogar im selben Zimmer zu übernachten wie einst Václav Havel. Das Gefängnis der Geheimpolizei in der Bartolomˇejská 9, in dem der Dissident eingekerkert war, ist jetzt ein schmuckes Hotel namens „Unitas“ und Teil eines Klosters, geführt von der Kongregation der Grauen Schwestern. Auch die barocke Kirche, die der Polizei als Schießstand diente, wurde renoviert und wieder eingeweiht. Geschichten, märchenhafter als jede Magical Mystery Tour. in kaum einer anderen Stadt ist Zeit so sichtbar und spürbar wie hier. Bei keinem Gebäude kann man sicher sein, dass es vor Jahren nicht etwas ganz anderes war. An der Stelle, wo früher das weltgrößte Stalin-Denkmal stand, hoch über dem Ufer der

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