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Seid nett zueinander! Aber ist das auch genug? Soziologie: Richard Sennett wirbt wieder einmal für mehr zwischenmenschliche Kooperation. Und bleibt am Ende etwas vage acebookfreunde, Onlinekontakte, verF netzte Menschen, sind wir uns nicht näher als je zuvor? Im Gegenteil, wenn man
Richard Sennett glaubt. In seinem neuesten Werk „Zusammenarbeit“ untersucht der amerikanische Soziologe, wie wir mit Menschen interagieren, die sich von uns unterscheiden. Die Bandbreite reicht vom Altruismus bis zum The-Winner-takes-it-all, „von der Arbeitsameise bis zum Wolf, von Jeanne d’Arc bis zum Völkermord“. Es ist das zweite Buch in Sennetts geplanter „Homo Faber“-Trilogie nach „Handwerk“ (2008), mit dem es sich auch thematisch überschneidet. Sennett greift weit aus, überspringt Jahrhunderte, wechselt zwischen Jugenderinnerungen, Studien und Analysen. Dank der souveränen Klarheit und Eleganz, mit der er erzählt, folgt man ihm auch gerne auf diesen Sprüngen. Wie sieht ideale Zusammenarbeit aus? Zum Beispiel wie auf einem Foto aus dem 19. Jahrhundert: Handwerker, die eine Treppe restaurieren, jeder ruhig in seiner speziellen Tätigkeit versunken, alle aufeinander abgestimmt. Die heutige Arbeitswelt: dank Ich-AG, Egoismus und dem Zwang zur Flexibilität das düstere Gegenbild. Sennett, der unmittelbar nach dem Crash 2008 arbeitslos gewordene Wall-StreetBanker interviewt hatte, zieht traurige Bilanz: Durch permanente Überlastung hatten die Manager weder Zeit noch Lust, miteinander zu reden, wechselten im Halbjahrestakt den Job und wussten nicht, was ihre
Mitarbeiter taten. Die Loyalität zur Firma erodierte, und nach dem Crash fühlte sich keine der Führungskräfte verantwortlich.
den internationalen Diplomatie. „Man kann sich kaum einen Wert vorstellen, der Martin Luther fremder gewesen wäre“, urteilt Sennett mit Verweis auf den Protestantismus als Geburt des Arbeitens am eigenen Ich als Bedingung für jenseitige Erlösung.
Um den Respekt ihrer Untergebenen hat-
ten sie sich nie bemüht und bekamen ihn auch nicht. Denn: „Autorität ist nicht gleich Macht. Autorität ist Macht, die als legitim anerkannt wird.“ Autorität und Kollegialität bewähren sich in Krisensituationen, wenn ungenutzte Fähigkeiten zum Wohle des Ganzen zum Tragen kommen. Auf der Suche nach positiven Beispielen greift er einige seiner Lieblingsthemen wieder auf: Max Webers Abhandlungen zur protestantischen Arbeitsethik, die eigene Jugend in einem Slum in Chicago oder die Werkstatt als Gegenmodell zur Fabrik. Ähnlich wie die Zünfte des Mittelalters entwickelte der englische Reformer Robert Owen im 19. Jahrhundert ein Werkstattprinzip, das auf Handwerk, Loyalität, Eigenverantwortung und vernetzte Produktion setzte. Der Dreh- und Angelpunkt auf dem Weg zur gegenseitigen Wertschätzung ist für Sennett der Gegensatz zwischen dialogischem und dialektischem Handeln: hier der ergebnisoffene, neugierige Austausch, dort das belehrende Dröhnen. Paradebeispiel für den Dialog: die im 16. Jahrhundert formulierte „Sprezzatura“, eine aus Humor und Selbstdistanz geprägte Leichtigkeit, Nährboden für die komplexe Kunst der sich zu dieser Zeit entwickeln-
Dieses virtuose Springen zwischen Zeiten und
Richard Sennett: Zusammenarbeit. Was unsere Gesellschaft zusammenhält. Hanser Berlin, 432 S., € 25,60
Disziplinen ist durchwegs vergnüglich, versickert jedoch aufgrund des allumfassenden Themas oft in Sackgassen. Aber Sennett, der alte Fuchs, ist laut Eigendefinition auf der Metaebene unterwegs und legt das Buch selbst als Beispiel für dialogische Kommunikation an. So weit, so charmant. Allerdings ist ein Buch nun mal kein Gespräch, und auch der dialogisch höfliche Leser erhält auf die Frage, worauf Sennett bei seinen Sprüngen und Schleifen hinauswill, nicht immer eine Antwort. Ist man beim Epilog angekommen, bekommt man als Fazit, dass man sich trotz mangelhaften wechselseitigen Verständnisses auf andere Menschen einlassen sollte. „Wir möchten gemeinsam etwas zustande bringen.“ Okay! Seid nett zueinander! Und sonst? Von einem analytischen Geist wie Sennett sollte man kein Do-it-together-Handbuch mit konkreten Anweisungen erwarten. Man erhält von ihm ein Sammelsurium von Anregungen, das sich kreuz und quer lesen lässt, ein Kompendium an Fragen, die es zu beantworten gilt. Maik Novotn y
Die Liebe, die Freiheit und der Widerstand Zusammenleben: Kann Polyamorie, die Liebe zu vielen, eine Alternative zur freien und romantischen Liebe sein? olyamorie ist die „Liebe zu vielen“. Der P Begriff wird in Abgrenzung sowohl zur „freien Liebe“ mit promiskuitivem Schwer-
punkt als auch zur „romantischen Liebe“ mit Exklusivitätsanspruch verwendet und bezeichnet das verantwortungsbewusste, „ethische“ Nebeneinander verschiedener, meist gleichwertiger Liebesbeziehungen. Was das konkret bedeuten soll, war seit Beginn der 1990er-Jahre Gegenstand so verschiedener Debatten wie Veröffentlichungen. In den USA wurde Polyamorie einerseits als feministische Strategie gegen das vordergründige – aber tatsächlich vor allem für Frauen verbindliche – Monogamiegebot in Stellung gebracht. Gleichzeitig existierte von Beginn an eine star-
ke esoterische Strömung der „spirituellen“ Polyamorie. Im deutschsprachigen Raum wird sie zunächst vor allem als Bezeichnung für ein „widerständiges“, antinormatives Beziehungs- und Sexualleben verwendet, wurde sie etwa ab Mitte der 2000er-Jahre dann
sowohl in den Feuilletons großer Zeitungen als auch in Gestalt verschiedener praktischer Ratgeber einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Im Stuttgarter Schmetterling Verlag, der schon 2010 in seiner Reihe theorie.org einen Band zum Thema veröffentlicht hat, ist nun das Buch „Die andere Beziehung. Polyamorie und Philosophische Praxis“ von Imre Hofmann und Dominique Zimmermann erschienen. Eine „universelle Beziehungsethik“ möchten die Philosophen vorstellen, ein „intellektuelles Instrumentarium“, das „in kniffligen Entscheidungssituationen als Orientierungshilfe“ dient. Hofmann und Zimmermann weisen zwar etwa darauf hin, dass die „romantische Liebe“ mit ihrem Exklusivitätsanspruch erst in der Neuzeit erfunden worden sei, und berufen sich mit Michel Foucault und der Queer Theory auf die punktuelle Veränderbarkeit der gesellschaftlichen Realität. Als Argument für die „andere Beziehung“ gilt aber dann recht schlicht, dass sie
zeitgemäß sei: Der individualisierte Mensch sei mit dem romantischen Exklusivitätsanspruch überfordert, und außerdem werde dieser einer pluralistischen Gesellschaft nicht mehr gerecht. Adaption statt Subversion: Dazu passen auch die auffällig häufigen positiven Bezüge auf Familie und Familienleben. Das „Instrumentarium“ reiht sich vollends in
Imre Hofmann, Dominique Zimmermann: Die andere Beziehung. Polyamorie und philosophische Praxis. Schmetterling, 156 S., € 13,20
die Ratgeberliteratur ein: Ehrlich und rücksichtsvoll sollen die Menschen miteinander sein und offen und ausführlich kommunizieren. Dass am Ende keine reaktionären Malheurs passieren, wird vertraglich verhindert: So sollen „gewisse mit tradierten Geschlechterrollen einhergehende Beziehungskonstellationen von vornherein unmöglich“ werden, wenn die übereinkünftige Beziehungsethik „Respekt vor dem anderen“ einfordere. Polyamorie 2012, könnte man schließen: Das Leben wird immer einfacher. Schön wär’s. N i k o laus S t en i t zer
Die Falter-Buch-Rezensionen. Nachlesen und alle Bücher online bestellen. balken fashop rezensionen.indd 1
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