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kinderbuch
Kein Kind ist an einem Nebensatz gestorben Seit Jahrzehnten wehrt sich Andreas Steinhöfel gegen die Moralkeule im Kinderbuch und landet Bestseller
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lmer war fett und selbst daran schuld. Tatsächlich war er der fetteste Junge, den ich je zu Gesicht bekommen hatte.“ Elmer hat auf dem Campingplatz immer eine Plastiktüte mit und versucht sich mit den Worten „Willste Lecker?“ Freunde zu kaufen. Natürlich vergeblich. Der Ich-Erzähler hat von seinen Eltern gelernt, dass man nicht schlecht über andere Menschen reden soll. Das hindert ihn nicht daran, von Elmer zu erzählen, ohne sich ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Aber auch ohne ihn zu entblößen. Am Schluss kommt er Elmer sogar ein bisschen nahe, wenn er ihn, der beinahe ertrunken wäre, fragt, ob er mit ihm gemeinsam schwimmen lernen will. Wie er zum Kinderbuchautor wurde, hat Andreas Steinhöfel schon öfters erzählt: Sein Bruder sollte ein Buch illustrieren, das Kindern mit dem Zeigefinger beibringen wollte, mutiger zu werden. Was bekanntlich eher entmutigt, als dass es hilft. Steinhöfel war so wütend, dass er dem Verlag einen Brief schrieb – und eine Geschichte anbot, die von einem Kind handelte, das sehr ängstlich ist.
Steinhöfel beherrscht die hohe Kunst, mit ein paar Sätzen Abgründe zu öffnen, in die man schwindelnd hineinschaut und an denen man sein seelisches Gleichgewicht üben kann
„Dirk und ich“ erschien 1991. Seitdem hat
Steinhöfel über 20 Bücher im Carlsen Verlag veröffentlicht. 2009 wurde er als erster Kinderbuchautor mit dem Erich-Kästner-Preis, 2013 mit dem Deutschen Jugendbuchpreis für sein Gesamtwerk ausgezeichnet. Wie kaum einem zweiten gelingt es dem 1962 im hessischen Battenberg geborenen Steinhöfel, witzige und unterhaltsame Kinderbücher zu schreiben, die regelmäßig zu Bestsellern werden, ohne deswegen oberflächlich zu sein. „Dirk und ich“ etwa handelte von zwei Brüdern einer ganz normalen Mittelstandsfamilie und ihrem unspektakulären, aber turbulenten Alltag. Die meisten von Steinöfels kleinen Helden stammen aus weniger idealen Verhältnissen. Die beiden Freunde Rico und Oskar etwa, die der Autor seit 2008 schon durch drei Kriminalfälle geschickt hat: Ricos Mutter arbeitet als Bardame, er selbst geht in ein Förderzentrum, weil er sich mit dem Lernen schwertut, und bezeichnet sich forsch als tiefbegabt. Ständig verwechselt er links und rechts, und wenn die „Bingokugeln“ in seinem Kopf wieder einmal verrückt spielen, geht für eine Weile gar nichts mehr. Sein Freund Oscar ist hoch-
Andreas Steinhöfel: Froschmaul. Geschichten. Carlsen, 135 S., € 12,40 (ab 10) Hörbuch, gesprochen vom Autor: Silberfisch, 3 CDs, € 14,99
begabt, weswegen er sich vor allem und jedem fürchtet und nie ohne Sturzhelm aus dem Haus geht. Er lebt mit seinem Vater zusammen, nachdem die Mutter abgehauen ist. Dieses berückende Duo hat Steinhöfel endgültig in den Olymp eines lebenden Kinderbuchklassikers katapultiert. Die Verfilmung des zweiten Bandes, „Rico, Oscar und das Herzgebreche“, läuft seit Juni in den Kinos. Dass Steinhöfel eigentlich Regisseur werden wollte, merkt man seinen Büchern an. Trotzdem stehen Dialog und Handlung nicht im Vordergrund, sondern vielmehr die Gedankenwelten von Kindern, deren Ängste, Sehnsüchte sowie jene Abgründe des Lebens, vor denen auch Zehnjährige schon stehen. Von seinen Lesern verlangt der Autor, sich eher zu strecken als zu ducken, das heißt, Herz und Hirn gleichermaßen einzusetzen: Noch kein Kind sei an einem Nebensatz gestorben, bringt Steinhöfel sein ästhetisches Credo auf den Punkt. Rico, der ständig von Wörtern behelligt wird, die er nicht versteht, führt nicht nur Tagebuch, sondern hat sich auch ein kleines Fremdwörterlexikon angelegt: „Strapaze: Wenn etwas sehr anstrengend ist. Man könnte also genauso gut Sehranstrengung dazu sagen, weil Fremdwörter für Tiefbegabte eine Strapaze sind, aber das tut natürlich keiner.“ Man ist versucht zu behaupten, dass der Witz dieses Autors eigentlich nur dazu da sei, die Geschichten für Kinder konsumierbar zu machen. So gesehen ist auch die Detektivhandlung der Rico-Oskar-Bände bloß ein Zugeständnis an den Geschmack der jungen Leserinnen und Leser. Dahinter aber spielt sich das Drama einer ungewöhnlichen Freundschaft ab, werden Themen verhandelt, die nicht unbedingt den Ruf genießen, kinderkompatibel zu sein: Krankheit, Tod, Mobbing, Depressionen, aber auch Hängebrüste, Klobürsten und Nachtclubs. Die bevorzugten Helden des Autors sind ganz
normale Kinder ohne besondere Eigenschaften, genauso oft aber auch Underdogs und Ausgestoßene, Nachdenkliche und Enttäuschte. Sie alle werden auf liebevoll-humoristische, aber gleichzeitig auch existenzielle Weise beleuchtet, sodass sichtbar wird, was Menschen bewegt, was sie
© Thinkstock, Alexander Yakovlev
ISBN 978-3-7886-2092-9
Ab 8 Jahren • 48 Seiten • € [A] 10,30
Die Sachbuchreihe ab 8 Jahren
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Die meisten der acht Geschichten in dem 2006
erstmals erschienenen und soeben von Steinhöfel als Hörbuch eingelesenen Band „Froschmaul“ sind – wie jene vom „fetten“ Elmer – aus der Ich-Perspektive erzählt. Inger aus der gleichnamigen Erzählung ist ein Mädchen, das kein Gummitwist spielt und dafür dem Lehrer Paroli bietet; das gerne unglaubwürdige Geschichten erzählt, von ihrer Krankheit namens Kalligrafie und von ihrem Vater, den niemand sehen darf, weil er für den Geheimdienst arbeitet. Und das dem Ich-Erzähler trotzdem dabei hilft, so etwas wie ein Verhältnis zu seinem eigenen Vater zu entwickeln. In „Bruders Hüter“ beobachtet ein Bub namens Ulf im Ferienlager zwei Adoptivbrüder, den blonden Oliver und den dunklen Hanuk. Und während er über die beiden nachdenkt, erfahren die Leser mehr über ihn als über die Objekte seiner Faszination. Ulf durfte nicht mit seiner Familie ans Meer fahren, weil er seine kleine Schwester, der gegenüber er sich benachteiligt fühlt, von der Heizung heruntergerissen hat. Warum musste sie sich dabei gleich ein Schlüsselbein brechen? Er wünscht sich einen Bruder, der, wie er glaubt, robuster wäre, bis er am Ende das Geheimnis von Olivers und Hanuks unheimlicher Verbundenheit erfährt. Und plötzlich geht ihm seine Schwester nicht mehr auf die Nerven. „Froschmaul“ eignet sich hervorragend als Einstiegsdroge in den Kosmos Steinhöfels, obwohl man nicht so oft lachen muss wie sonst bei diesem Autor und stattdessen am Ende so mancher Erzählung einen Kloß im Hals spürt. Steinhöfel beherrscht die hohe Kunst, mit ein paar Sätzen Abgründe zu öffnen, in die man schwindelnd hineinschaut und an denen man sein seelisches Gleichgewicht üben kann. Er mutet seinen jungen Lesern eine Menge zu: Aber genau dafür lieben sie ihn. K IR STIN BREITENFELLNER
Kindertipps Lipka, Wagner, Almer
Kind in Wien Ein Stadtführer für Eltern, Großeltern und allen, die in Wien mit Kindern zu tun haben. Mit zahlreichen Ausflugsund Freizeittipps.
Einfach
spitze!
entzweit und was sie auch wieder vereint. Trotzdem oder gerade deswegen hat es Steinhöfel in Deutschland bereits zur Schullektüre gebracht, vom Jugendkrimi „Beschützer der Diebe“ (1994) über „Mitte der Welt“ (1998) über einen homosexuellen Jungen bis zu „Oskar, Rico und die Tieferschatten“, anhand derer das Thema Verfilmung gleich mitbehandelt werden kann.
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