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SACHBUCH
Der Don Carlos von Wien heißt Herr Karl Kabarett: Zwei Bücher erinnern an Helmut Qualtinger und dessen berühmteste Schöpfung, den Herrn Karl
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ls Georg Biron zum ersten Mal persönlich dem Mann begegnete, über den er jetzt ein Buch geschrieben hat, lag dieser zwischen zwei parkenden Autos auf der Sonnenfelsgasse in der Wiener Innenstadt. Biron half dem Volltrunkenen auf die Beine und bot ihm an, ihn nach Hause zu geleiten. „Ich geh nicht mit einem jeden mit“, lehnte Helmut Qualtinger ab. „Ich bin ja kein Flitscherl.“ Die nächtliche Begegnung trug sich um 1980 zu. Der 1928 geborene Qualtinger war damals Anfang 50 und hatte nur noch wenige Jahre zu leben. Er starb am 29. September 1986, also vor genau 25 Jahren. Qualtingers berühmtestes Werk wiederum hatte vor genau 50 Jahren Premiere: Am 15. November 1961 war im österreichischen Fernsehen erstmals „Der Herr Karl“ zu sehen.
Das Leben des Herrn Karl Birons Buch wurde vom Verlag ursprünglich als Werkgeschichte des „Herrn Karl“ angekündigt; tatsächlich kommt „Quasi Herr Karl“ als Qualtinger-Biografie mit Herr-Karl-Schwerpunkt daher. Generell hat das Buch einen etwas unentschiedenen Charakter. Biron, ein deklarierter Bewunderer Qualtingers, macht sich angenehmerweise zwar selbst nicht sonderlich wichtig, er beruft sich in der Bewertung aber auch da auf Zitate, wo das gar nicht nötig wäre. Die große, umfassende Qualtinger-Biografie steht noch aus, aber die wollte Biron wohl gar nicht schreiben. Ihm geht’s vor allem um den „Herrn Karl“. Der Herr Karl steht im Lager eines Wiener Delikatessengeschäfts und erzählt einem (für den Zuseher unsichtbaren) jungen Kollegen seine Lebensgeschichte. Es ist die Geschichte eines egoistischen, opportunistischen Mannes, der seine Frauen verlässt, wenn sie „leidend“ werden, politisch immer auf der „richtigen“ Seite steht und sich grundsätzlich mit möglichst wenig Aufwand durchs Leben laviert. Die weitverbreitete Ansicht, der Herr Karl sei das Psychogramm eines „typischen Wiener Kleinbürgers“, rückt Biron, wenn auch etwas unsensibel formuliert, mit Recht zurecht: „In Wahrheit ist der Herr Karl ein ungebildeter Lumpenprolet, arbeitsscheu und feig (…). Heute würde man sagen: ein Sozialschmarotzer.“ Die Ausstrahlung des „Herrn Karl“ war, wie man sich denken kann, ein Skandal. Die Leserbriefspalten der Zeitungen waren voll mit Episteln empörter Seher, die den Autor/Darsteller am liebsten im „Zuchthaus“ gesehen hätten oder ihm allen Ernstes rieten, sich „ein Beispiel an O.W. Fischer und Grace Kelly“ zu nehmen. Interessanterweise wurde der „Herr Karl“ in den Zeitungen selbst überwiegend sehr positiv aufgenommen. In der Kronen Zeitung etwa wurde die Figur originellerweise mit einem noch viel berühmteren Herrn Karl der Literaturgeschichte verglichen – Schillers „Don Carlos“.
Kabarettstar von Wien Helmut Qualtinger war damals der Kabarettstar von Wien. Mit Kollegen wie Gerhard Bronner, Michael Kehlmann, Georg Kreisler oder Louise Martini bildete er in
den 1950er-Jahren ein namenloses Wunderteam des Kabaretts, dessen Programme gestürmt und im Fernsehen übertragen wurden. Anfang der 1960er-Jahre aber hatte Qualtinger die Lust am Kabarett verloren. Unter anderem, weil er zu Einsicht gelangt war, damit nichts bewirken zu können: „Sie lachen es einfach weg. Sie vernichten uns durch ihren Applaus. Deshalb habe ich aufgehört.“ Qualtinger wandte sich verstärkt Theater und Film zu, allein im „Herr Karl“-Jahr 1961 war er auch in Peter Zadeks TV-Film „Die Kurve“, in dem Krimi „Der Mann im Schatten“ und in Erich Neubergs Verfilmung von Horváths „Geschichten aus dem Wiener Wald“ zu sehen. Neuberg, damals Leiter der ORF-Fernsehspielabteilung, war es auch, der die Kabarettautoren Qualtinger und Carl Merz beauftragte, sich einen 50-Minüter für das Fernsehen einfallen zu lassen. Die beiden beschlossen, einen Monolog zur unbewältigten Nazi-Vergangenheit Österreichs zu schreiben – und brachten in nur neun Tagen den „Herrn Karl“ zu Papier. Nach der TV-Premiere spielte Qualtinger den Herrn Karl auch auf der Bühne, zuerst im Kleinen Theater im Konzerthaus, dann in den größeren Kammerspielen; auch in München, Köln, Berlin und sogar in New York gastierte er erfolgreich.
Helmut Qualtinger wurde am 8. Oktober 1928 in Wien geboren und war Schauspieler, Schriftsteller, Kabarettist und Rezitator. Seine „Travnicek-Dialoge“ mit Gerhard Bronner und der Monolog „Der Herr Karl“ (verfasst zusammen mit Carl Merz) schrieben Kabarettgeschichte. Qualtinger starb am 29. September 1986, also vor genau 25 Jahren. Am 15. November 1961, also vor 50 Jahren, wurde „Der Herr Karl“ erstmals im Fernsehen ausgestrahlt
Der Ruf des Gutruf In den Zeitungen wurde damals auch über mögliche Vorbilder für den Herrn Karl spekuliert. Neben einem Magazineur aus einem Feinkostgeschäft in der Führichgasse dürfte Merz und Qualtinger auch Hannes Hoffmann inspiriert haben, der das legendäre Café Gutruf in der Milchgasse hinter der Peterskirche betrieb. Das heute noch bestehende Etablissement ist inzwischen ein beinahe ganz normales kleines Lokal; in der Nachkriegszeit war es ein Delikatessengeschäft, in dessen kleinem Hinterzimmer sich allabendlich die führenden Schauspieler, Künstler, Schriftsteller und Journalisten der Stadt zum Schmähführen und Trinken trafen. Auch Qualtinger zählte zu den Stammgästen. Noch an dem Tag, an dem er später nach einem Zusammenbruch ins AKH eingeliefert werden sollte, sah Georg Biron ihn im Gutruf Fernet Branca trinken. Bei den Recherchen für ein früheres Qualtinger-Buch hat Biron 1987 den damals bereits pensionierten Gutruf-Besitzer Hannes Hoffmann interviewt. Das Transkript des Gesprächs steht am Ende des Buches, auf einer beiliegenden CD sind Auszüge daraus auch im Originalton zu hören. Sie legen nahe, dass Qualtinger bei der Interpretation des „Herrn Karl“ tatsächlich an Herrn Hannes Maß genommen hat – zumindest was den Tonfall, die Art des Erzählens und das Verhältnis zu den Frauen betrifft. „Es waren wenig Frauen im G’schäft“, erinnert sich Hoffmann. „Ich hab allerweil g’sagt, dass ich ein Herrenfriseur bin. Das haben s’ alle gern g’hört. Die wollten die Weiber gar nicht dabei haben. Hin und wieder ist eine geduldet worden. Aber in Wirklichkeit … es ist eine viel größere Hetz, wenn keine Frauen dabei sind.“
Georg Biron: Quasi Herr Karl. Helmut Qualtinger – Kultfigur aus Wien. Braumüller, 216 S., € 24,90
Ulrich N. Schulenburg: Sie werden lachen, alles ist wahr. Anekdoten eines Glücksritters. Amalthea, 332 S., € 19,95
Im Gutruf lernte Qualtinger in den 1970erJahren auch Ulrich Schulenburg, den Leiter des Thomas Sessler Verlags, kennen. Im Gespräch stellte sich heraus, dass es keinen Verlag gab, der sich um die Rechte des „Herrn Karl“ kümmerte. Immer wenn der Schauspieler Nikolaus Haenel, der damals mit dem Stück durch Deutschland tourte, in Wien war, lud er Merz und Qualtinger im Gutruf zum Essen ein – damit waren die Tantiemen abgegolten. Schulenburg schlug Qualtinger vor, diesen „untragbaren“ Zustand zu beenden und ihn unter Vertrag zu nehmen. Im Fall des „Herrn Karl“ musste er sich aber auch mit Carl Merz einigen, was erst nach längeren Verhandlungen glückte. Ungewöhnlicherweise beharrte Merz darauf, die Tantiemen nicht 50:50 zu teilen; durch seine geniale Interpretation habe sein Co-Autor Qualtinger mehr für das Stück getan. Man einigte sich auf 60:40.
Präsident Reagan dreht durch Schulenburg wurde heuer 70 und brachte aus gegebenem Anlass seine Memoiren heraus (Mitarbeit: Susanne F. Wolf). Neben seiner Lebensgeschichte enthält das Buch Anekdoten und Erinnerungen an Autoren des Bühnenverlags, der neben dem modernen Klassiker Ödön von Horváth auch einige der erfolgreichsten österreichischen Gegenwartsdramatiker – von Wolfgang Bauer bis Peter Turrini, von Werner Schwab bis Franzobel – unter Vertrag hatte oder hat. Das umfangreichste Kapitel aber ist Erinnerungen an Helmut Qualtinger gewidmet. Bei Schulenburg erfährt man, dass Qualtinger ein fanatischer Leser war. „Helmut war einer der belesensten Menschen, der mir je begegnet ist, ein wandelndes Lexikon“, erinnert er sich. „Wann er das alles lesen konnte, habe ich nie ganz begriffen, aber er tat es, selbst in solchen Situationen, wo andere Bücher zur Seite legen.“ Natürlich berichtet Schulenburg auch von einigen der berüchtigten „Practical Jokes“, mit denen Qualtinger – ein Vorläufer der Radiotelefonkomiker von heute – seine Mitmenschen terrorisierte. Auf einer USAReise etwa rief Qualtinger als Sekretär von Präsident Reagan bei dem als eitel bekannten Psychiater Friedrich Hacker an, der damals an einer Uni in Kalifornien lehrte. „Präsident Reagan dreht durch und möchte den roten Knopf drücken. Was sollen wir tun? Wir brauchen einen Aggressionsforscher!“ Angeblich gelang es dann erst im letzten Moment, den Scherz aufzuklären und Professor Hacker daran zu hindern, die Maschine nach Washington zu besteigen. Vom schönsten Practical Joke aber berichtet Georg Biron in seinem Buch. Als der Schauspieler Peter Preses, Co-Autor des „Bockerer“, einmal mitten in der Nacht von einem amerikanischen Filmproduzenten angerufen wurde, der ihn kurzfristig besetzen wollte, war er überzeugt davon, Qualtinger am Apparat zu haben. Preses lehnte dankend ab und empfahl dem „Produzenten“, es doch bei Qualtinger zu versuchen. Die Pointe: Der Anruf war kein Witz, und Helmut Qualtinger bekam den Job. WOLFGANG K R ALICEK