FALTER Bücherherbst 2008

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Liter atur

Die kluge Tochter einer hirnlosen Frau

Nichts schmeckt so gut, wie Dünnheit sich anfühlt

Mit „Scherbenpark“ legt die 30-jährige Alina Bronsky ein hinreißendes Debüt mit ebensolcher Heldin vor

Der fulminante Heinz Strunk folgt einem hitzegeplagten fettleibigen Gagschreiber bis in den Pensionistenpark Weg.

Te x t: K I R S T I N B R E I TE N F E L L N E R

anchmal denke ich, ich bin die M Einzige in unserem Viertel, die noch vernünftige Träume hat. Ich habe zwei, und für keinen brauche ich mich zu schämen. Ich will Vadim töten. Und ich will ein Buch über meine Mutter schreiben. Ich habe auch schon einen Titel: ,Die Geschichte einer hirnlosen rothaarigen Frau, die noch leben würde, wenn sie auf ihre kluge älteste Tochter gehört hätte.‘“ „Scherbenpark“, das Debüt der erst 30-jährigen Alina Bronsky beginnt fulminant. Das Bemerkenswerte aber ist, dass das Buch, das es vom unverlangt eingesandten Manuskript gleich zum Spitzentitel brachte, dieses Tempo auch bis zum Ende durchhält.

Die Ich-Erzählerin Sascha Naimann,

Als Sascha in der Zeitung einen Artikel über Vadim liest, der die Perspektive des Täters einnimmt, und sie auch noch dahinterkommt, dass Maria einen Liebhaber hat, bekommt ihr Leben eine unvermutete Wendung – und Alina Bronsky erst so ­richtig Gelegenheit, ihre Erzählkunst zu beweisen. Neben der keineswegs selbstverständlichen Fähigkeit, das Lebensgefühl einer Pubertierenden in glaubwürdige Worte zu fassen, beweist die Autorin auch noch eine ­außergewöhnliche Treffsicherheit in den Dialogen und Milieuschilderungen sowie jenes Gespür für Abstand und Nähe zu den Figuren, das Literatur erst zum Schillern bringt. Sascha nimmt sich eine Auszeit von zuhause und quartiert sich beim verständnisvollen Redakteur ­Volker Trebur (der indirekt für den Artikel über Vadim verantwortlich zeichnet) und dessen 15-jährigem Sohn Felix ein; und macht eine Menge neuer Erfahrungen, die man ihr gar nicht so recht zugetraut hätte. Die beiden eingangs erwähnten Träume werden natürlich nicht verwirklicht – trotzdem oder gerade deswegen muss man diese ungewöhnliche Heldin kennenlernen, die einen oft mit ihrer Altklugheit rührt und immer wieder einfach nur klug ist: „Fürchte diejenigen, die sich schwach fühlen, denke ich einmal mehr. Denn es kann sein, dass sie sich eines Tages stark fühlen wollen und du dich nie F wieder davon erholen wirst.“

wie ihre Autorin Migrantenkind, ist im Hochhauskomplex mit dem absurden Namen Solitär als Musterschülerin eines Elitegymnasiums eine Außenseiterin und mit ihren 16 Jahren schon mordsmäßig abgebrüht. Mordsmäßig im wahrsten Sinne des Wortes, denn der erwähnte Vadim hat ihre Mutter und deren neuen Lebensgefährten umgebracht, was der Familie – Sascha und den zwei Halbgeschwistern Anton und Alissa – mittels Boulevardpresse zu trauriger Berühmtheit verhalf. Ihre eigene Gefährdung ignoriert Sascha mithilfe ihrer „Nerven aus Stahl“ (deren sie sich ständig rühmt) und dem immer wieder unvermittelt auftauchenden „grauen Nebel“ in ihpräsentiert Buch rem Kopf. Stolzsein darauf, niemals zu weinen und alle Männer (und womöglich auch Frauen) zu hassen, gibt sie den Kopf jener kleinen Rumpffamilie, Alina Bronsky: deren nominellen Vorstand, die aus Scherbenpark. Russland angereiste Maria, sie ebenRoman. Kiepenso wenig ernst nimmt wie die „DopDienstag, 28. Oktober 2008, 19 Uhr heuer & Witsch, pelnamen vom Jugendamt“, die stänHauptstraße 2a-2b, 01/718 93 53, 287 Eintritt frei S., € 17,50 dig3., vorLandstraßer der Tür stehen.

Gerald Gross

„Wir kommunizieren uns zu Tode. Überleben im digitalen Dschungel“

Michael Stavaric präsentiert sein Buch

„magma“ Freitag, 14. November 2008, 19 Uhr 3., Landstraßer Hauptstraße 2a-2b, 01/718 93 53, Eintritt frei

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te x t: TEX R U B I N O W I T Z

s ist heiß im neuen Buch von E Heinz Strunk, das war schon im Vorgänger „Fleisch ist mein Gemüse“

meistens so, um Beklemmungen haptisch zu machen, denn weder Herbsttristesse mit verfaultem Laub noch Schneematsch in früher Dunkelheit sind so menschenfeindlich wie bleierne Hitze in der Stadt. Markus Erdmann, der Protagonist in „Die Zunge Europas“, brütet dumpf in seiner Stube Gags aus für einen sogenannten Uhu, einen Comedian, der nur Säle unter 100 zu füllen imstande ist. Als Kind verfügte Erdmann noch über ein Enzym, das Hitze in Glück verwandeln konnte, jetzt ist sie ihm nur noch eine Last, in der der Hass keimt – vor allem auf Schönheit in Gestalt von unerreichbaren Frauen und Mädchen, die niemals schwitzen. Wenn sie an ihm vorübergehen, holt er tief Luft, als ob er seine Lungen mit ihrem Duft vollpumpen könnte. Er wünscht sich „Heilung durch Nichtbeachtung“. Erdmann wird fett – gleichzeitig faszi-

nieren ihn die komischen Aspekte der Adipositas, er schlingt sein Essen in sich hinein, denn „der schnelle Esser ist wie eine stolze Kerze, die an beiden Enden brennt, während der langsame Esser einem miesen Teelicht gleicht, das sinnlos vor sich hinglimmt, langsames Essen ist schlimmer als Gewalt gegen Sachen“. Und er durchforstet Zeitschriften nach Dickenmeldungen, um sie in seine Gags einzubauen; dass man beispielsweise 272 Kalorien verbrennt, wenn man nach Würmern gräbt, und 238, während man den Hund wäscht. Treppenkinn, Röllchenalarm. „Das aus dem Hosenbund quellende Fett heißt ab sofort nicht mehr ,Hüftgold‘ (das ist verbraucht), sondern ,Elchschaufeln‘ Anweisung von ganz oben – also von mir.“ Erstmal alles aufschreiben, sammeln, Halbsätze, Unzusammenhängendes, diffuse Bilder, inneres Gestammel … Daraus bastelt Erdmann seinem Uhu-Komiker die Gags. Überall kann er fündig werden, in Kontaktanzeigen – „Nur heute. Polin mit Hut“ – und im Fernsehen: „Ein Reiter ohne Pferd ist nur ein Mensch, aber ein Pferd ohne Reiter ist immer noch ein Pferd.“ Das Problem aber ist, dass diese Meldungen nur in einem bestimmten Kontext komisch sind, weshalb dem Uhu langsam das Publikum wegläuft. Doch Erdmann sammelt wie manisch Sätze und Meldungen und kombiniert sie. So entstehen eigene Kreationen, bei denen die Grenzen zwischen Meldung, Werbung und konkreter Poesie am Ende nur noch schwer auszumachen sind. „Nichts

schmeckt so gut, wie Dünnheit sich anfühlt“ könnte eine Halbfettmargarine bewerben, ein Kippenbergeroder Fassbinder-Zitat sein. „Die Wohnung bedarf kräftiger floraler Akzente.“ Erdmann/Strunk ist von solchen Formulierungen ebenso fasziniert, wie von lebensfeindlichen, unwirtlichen Orten, die eine schwer zu erklärende Magie ausstrahlen. In „Fleisch ist mein Gemüse“ waren das noch muffige Spielautomatenhallen im Zwielicht, hier sind es verwüstete Parkrudimente, in denen sich hoffnungslose, Desinfektionsmittel und Salben aussäuernde Rentner versammeln, „halb Mensch, halb Salbe“. Kurz bevor sein Gehirnwasser verdunstet, fallen Erdmann in solchem Ambiente die besten Sachen ein, z.B. ein neues Programm „Nährschlamm für Gehirnjogger“, das naturgemäß vom Abnehmer nicht verstanden wird. Also robbt Erdmann durch die Hitze des Sommers und stapelt Wahnsinn im Kopf, während der Hass auf den Irrsinn da draußen wächst, sich aber aufgrund zivilisatorischer Hemmnisse keine Bahn zu brechen vermag: „Ich bin so gottverdammt höflich, dass ich, wenn sich jemand neben mich auf eine Parkbank setzt, ich aber gerade gehen will, so lange, bis der andere nicht das Gefühl hat, ich ginge wegen ihm, sitzen bleibe.“ Erdmann wartet darauf, dass etwas passiert und behaucht in der Zwischenzeit aus Langeweile die Zugscheibe. „Wie lange man wohl an die Scheibe hauchen muss, um ein Schnapsglas zu füllen.“ Das ganze Buch ist von dieser schwindelerregenden fröhlichen Destruktivität. Doch dann geschieht etwas Eigenartiges, und kulminiert im traurigsten und hoffnungsvollsten Ende, das man in diesem Buch nicht erwartet hätte. Erdmann trifft auf eine ehemalige Schulkollegin, folgt dieser wie in Trance in eine Amüsiernacht, trinkt und tanzt „puddinghaft und hölzern zugleich“, in den Lokalen schreien sie wie „Angezündete“, ein religiöses Fieber ergreift alle, und vor allem Erdmann, Monsieur 100 Dezibel, gehen die Augen auf. Gott hat die Keksdose, in der er ihn gefangen gehalten hatte, ein paar Zentimeter gelüpft. Buch des Jahres, ach was, zumindest des Jahrfünfts.

Heinz Strunk: Die Zunge Europas. Rowohlt, 316 S., € 20,50

10.10.2008 18:56:18 Uhr


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