rv Die Rentenversicherung

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Die Rentenversicherung

Organ für den Bundesverband der Rentenberater e.V.

Aus dem Inhalt

Aufsätze

Prof. Dr. Franz Ruland

Die Rentenpolitik seit 2000 – eine kritische Analyse

Aktuelle Rechengrößen

Nachrichten aus der EU

Gesetzgebung und Praxis

Nachrichten aus der Sozialversicherung

Aus dem Verband

978350310785 rv ISSN 0340-5753
65. Jahrgang, Januar 2024, Seiten 1–32 www.dierentenversicherungdigital.de rv 01.24 Leseprobe, mehr zum Beitrag unter https://dierentenversicherungdigital.de © Erich Schmidt Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 2024(www.dierentenversicherungdigital.de)

Editorial

SehrgeehrteLeserinnen,sehrgeehrteLeser, dieRedaktionundderVerlagwünschenallenLeserinnen undLesernderrveingesundesundglücklichesneuesJahr.

DarüberhinausberichtenwirüberEntwicklungenaus GesetzgebungundPraxis(S.19)sowieüberNachrichtenaus derEU(S.14). KlausKrohn gibteinenÜberblicküber „NachrichtenausderSozialversicherung“(S.28).Zudemhat ThomasNeumann fürSiedieaktuellenRechengrößeninder Sozialversicherungab1.1.2024zusammengestellt(S.12).

FürdenVerlagundRedaktion

DasersteHeftimneuenJahrwirderöffnetdurchdenBeitrag„DieRentenpolitikseit2000–einekritischeAnalyse“ von Prof.Dr.FranzRuland (S.3).IndiesemnimmtderAutor einknappesVierteljahrhundertdeutscherRentenpolitikin denBlick.ErgibteinenÜberblicküberdieRiestersche Rentenreform,dieEinführungdesNachhaltigkeitsfaktors, dieEinführungderabschlagsfreienRentemit63Jahrenfür besonderslangjährigVersicherte,dieVerbesserungder „Mütterrenten“,dieVerlängerungderZurechnungszeit,den AbschlussderRentenüberleitung,dieEinführungder GrundrentesowiedieVorhabenderjetzigenKoalition.PositivbewertetderAutordieVerlängerungderZurechnungszeit beidenRentenwegenErwerbsminderungundwegenTodes. Besondersbegrüßter,dassendlichinOstundWestein gleichhoheraktuellerRentenwertgilt.PolitischnachvollziehbarseidiemehrmaligeVerlängerungderKindererziehungszeiten.EineReform,diesichbislangnochnichtausgewirkthabe,seidieEinführungdesNachhaltigkeitsfaktors. FürverfehlthältderAutordie„Rentemit63“,diezwar wegender45jährigenVersicherungsdauerzuRechtzuhöherenRentenzahlungenführe.Ungerechtseidagegen,dass RentnermitentsprechenderVersicherungsdauerdarüber hinausdiehöhereRentenochbiszuzweiJahrenlängererhielten.ZudembegünstigedasPrivilegwegenunterschiedlicherErwerbsbiografienüberwiegendMänner.Auchdie Grundrente,einsteuerfreierGrundrentenzuschlag,stößtauf mannigfaltigeKritikdesAutors,u.a.wegenverfassungsrechtlicherProbleme,wegendeshohenVerwaltungsaufwandessowiewegenihresnurgeringenBeitragszurBekämpfung derAltersarmut.InsgesamthabediePolitiknichtnurviel zuweniggetan,umdieRentenversicherungfürdieaufsie zukommendedemografischeBelastungvorzubereiten,sonderndurchständigeLeistungsverbesserungendieProbleme sogarnochvergrößert.

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DieRentenpolitikseit2000–einekritischeAnalyse*

DieAnalysederRentenpolitikinderZeitseit2000zeigt,dassesLichtundSchattengab.Positivzubewertenistdie VerlängerungderZurechnungszeitunddiedadurchbewirkteVerbesserungderRentenwegenErwerbsminderung undwegenTodes.Teuer,aberpolitischnachvollziehbaristdiemehrmaligeVerlängerungderKindererziehungszeiten. Gutistauch,dassendlichinOstundWesteingleichhoheraktuellerRentenwertgilt.EineReform,diesichbislang nichtausgewirkthat,istdieEinführungdesNachhaltigkeitsfaktors.BeispieleeinervölligverfehltenKlientelpolitiksind die„Rentemit63“unddieEinführungderGrundrente.ErheblicheProblemewerfenauchdiePlänederAmpelKoalitionauf,dasMindestrentenniveaulangfristigbei48%festzuschreibenundzurFinanzierungalsBeginneiner TeilkapitaldeckungderRentenversicherungein„Generationenkapital“aufzubauen.Insgesamtmusskonstatiertwerden,dassdiePolitiknichtnurvielzuweniggetanhat,umdieRentenversicherungfürdieaufsiezukommende demografischeBelastungvorzubereiten,sonderndurchständigeLeistungsverbesserungendieProblemesogarnoch vergrößerthat.

DerfolgendeBeitragnimmteinknappesVierteljahrhundert deutscherRentenpolitikindenBlick.IndieserZeit,bis Ende2022,habendieAusgabenderRentenversicherungseit 2020über6,1BillionenEurobetragen;dieAnzahlangezahltenRentenistvom31.12.1999biszum31.12.2022von 22,7Millionenum3,2Millionenauf25,9Millionenangestiegen.1 DiesewenigenZahlenzeigen,wiesehressich lohnt,dieRentenpolitikkritischunterdieLupezunehmen. DabeiwirdderZeitrahmendesBeitragesnichtsosehrvom Kalender,derJahrtausendwende,bestimmt,alsvielmehrvon derRiesterschen-RentenreformdurchdasAltersvermögensunddasAltersvermögensergänzungsgesetz,beidesindinder erstenHälfte2001beschlossenundzuvorintensivdiskutiert worden.2 SiebrachtenfürdieRentenversicherungeinen Paradigmenwechsel.Siesollnichtmehrallein,sondernnur nochzusammenmitdersteuerlichgefördertenbetrieblichen undprivatenVorsorgeimAltereinauskömmlichesVersorgungsniveausichern.DieserWandelinderRentenpolitik machtedeutlich,dassmitdemWechsel1998derfürsieverantwortlichenMinistervonNorbertBlüm3,derdieVerantwortung16Jahrelanggetragenhatte,zuWalterRiesternicht nureinAustauschvonPersönlichkeiten,sondernmitderrotgrünenKoalitionaucheingrundlegenderWandelderSozialpolitikverbundenwar.

1.DieRiesterscheRentenreform

UmdieJahrtausendwendebefandsichdieRentenversicherungineinerkritischenSituation,siewardurchzweigrundlegendepolitischeFehlentscheidungenfinanziellüberfordert worden.DieersteFehlentscheidungwardie,dassdiewestdeutscheRentenversicherungab1992dasDefizitderostdeutschenRentenversicherungimgesamtdeutschenFinanzverbundauszugleichenhatte.4 DasvonderRentenversicherungundauchvondemdamaligenBundesarbeitsminister immerwiedervorgebrachteArgument,dassdieFinanzierung derVereinigungDeutschlandseineAufgabederstaatlichen

GemeinschaftundkeineAufgabenurderRentenversichertenist,5 istbeiderDiskussionüberdasRentenüberleitungsgesetzzwaralsrichtigakzeptiertworden,gefolgtist manihmdennochnicht,weildieRentenversicherungdamalseinehoheSchwankungsreservevonumgerechnetfast 22Mrd.Euro6 hatte,aufdiemanzugreifenkonnte,undweil derBundnichtnochweitereMilliardenSchuldenmachen wollte.7 VerlässlicheAngabendarüber,welcheSummenfür diesenAusgleichindenletzten30Jahrenzusammengekommensind,sindnichtveröffentlicht.AlleinindenJahren1995 bis2003,fürdieZahlenderRentenversicherungvorliegen,sindfast96MilliardenEurozumAusgleichdesDefizits

* Erweiterter Text eines Vortrags, den der Verf. am 14. 9. 2023 auf dem Rentenberatertag in Würzburg gehalten hat. Er ist bereits im Heft 2023/4 der „Deutschen Rentenversicherung“ (DRV) erschienen.

1DieZahlenstammen,soweitnichtsanderesangemerktist,ausDRV, RentenversicherunginZeitreihen,2023.

2Altersvermögensgesetzv.26.6.2001(BGBl.I,S.1310);Altersvermögensergänzungsgesetzv.21.3.2001(BGBl.I,S.403).

3Zuihm:Ruland,NZS2020,379f.

4DieRentenversicherunghattesichmitihrerForderung,denFinanzverbunderstnachderfinanziellenStabilisierungderostdeutschenRentenversicherungeinzuführen,nichtdurchsetzenkönnen;andererseits hattedasBundesfinanzministerium–ohneErfolg–einenFinanzverbundschonab1990gefordert,vgl.Ritter,WirsinddasVolk!Wir sindeinVolk!–GeschichtederdeutschenEinigung,2009,S.59; Schmähl,AlterssicherungspolitikinDeutschland,2018,S.886f.

5Kolb/Ruland,DRV1991,141(150);Quartier,NotwendigeGrundsatzentscheidungenundSofortmaßnahmen,in:BfA(Hrsg.),17.Presseseminar,1990,S.7(23);Rische,ebd.,S.71(77ff.);Sozialbeirat, BT-Drucks.12/1841,122f.;derVDRhatteeineErgänzungdes Art.120GGvorgeschlagen,vgl.Ritter,DerPreisderdeutschenEinheit–DieWiedervereinigungunddieKrisedesSozialstaates,2006, S.364;s.a.Ruland/Rische/Reimann/Roßbach,DRV2019,321 (336).

6Vgl.RentenversicherunginZeitreihen,2023,S.249;s.a.BT-Drucks. 13/5370,165.

7DieSchuldenDeutschlandssindvon1989mit474MilliardenDMbis 1992auf706MilliardenDMangestiegen,vgl.Spohr,Wendezeit–DieNeuordnungderWeltnach1989,S.674f.

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indenneuenLändernaufgewendetworden8.Nachden jährlichenRentenversicherungsberichtenwurdefürdie Jahre1993–2014mitumgerechnetfast238Mrd.Eurogerechnet,mitsteigenderTendenz,9 fürdieJahre2018–2024 warenesüber165Mrd.Euro.10 DieRentenversicherunghat dieKostenalleinfürdiehöherenRentenaufgrundderHöherbewertungderEntgelteindenneuenBundesländernnur fürdasJahr2017mit29,1MilliardenEurobeziffert.11 Auch wenndiefinanziellenFolgenderZuwanderungausder(ehemaligen)DDRindieBundesrepublikgegengerechnetwerdenmüssen,lässtsichdochfesthalten,dassdergrößteTeil derKostenderRentenüberleitungmitdenBeiträgender VersichertenindenaltenBundesländernfinanziertworden ist12 undauchweiterhinfinanziertwird.Selbständige,BeamteundEinkommenoberhalbderBeitragsbemessungsgrenze undausVermögenwarenundsinddarannurüberdensteuerfinanziertenBundeszuschussbeteiligt.

DieFinanzierungderRentenüberleitungwarsomitnicht nurungerecht,siehatauchzueinerKrisederRentenversicherungundzueinemParadigmenwechselinderAlterssicherungspolitikgeführt.13 DamithatdiePolitikdieVerdienstederRentenversicherungumdieVereinigungDeutschlands sehrschlechthonoriert.OhnedieRentenversicherungund ohnedasihrzugrundeliegendeUmlageverfahrenwäredie SozialunionDeutschlandsnichtrealisierbargewesen.EinkapitalgedecktesSystemwäreandieserAufgabevölliggescheitert.DassdieKostendieserSozialuniongroßenteilsderRentenversicherungaufgebürdetwordensind,gingnurkurzgut, weildieVereinigungzunächstzueinemkonjunkturellen Schubführte.DerBeitragssatzwurdeimApril1991sogar kurzfristigumeinenProzentpunktauf17,7%abgesenkt. AberkurzdanachverschlechtertesichdieKonjunktur,schon 1992stiegdieArbeitslosenquotevon7,3%auf8,5%.1995 lagsieschonbei10,4%,1997bei12,7%;dentraurigenRekordhieltsie2005mit13%.14 Bekämpftwurdediehohe Arbeitslosigkeitauchdamit,dassdieFrühverrentungmitder AltersrentewegenArbeitslosigkeit(undnachAltersteilzeitarbeit)erleichtertwurde,diezweiteFehlentscheidungzuLastenderRentenversicherung.Siewarteuerundbrachtenur wenig.1993verdoppeltesichdieZahlderneuenFrührentnerwegenArbeitslosigkeitundstiegaufrund110.000.1994 warenesbereitsüber200.000,1995mitdemAltersübergangsgeldschonknapp300.000;Ende1996gabesimBestandbereitsübereineMillionFrührentnerwegenArbeitslosigkeit15 –überproportionalvieleausdenneuenBundesländern.ZudenKostenderRentenüberleitungkamentrotz allerWarnungenderRentenversicherungnochdieKosten der–letztlicherfolglosen–Frühverrentungspolitikhinzu. DieFolgewar,dassderBeitragssatzstieg:von17,7%1992 auf19,2%1996undauf20,3%1999.16 EinweitererAnstieg konntenurdurchpermanenteEinschnitteindasLeistungsrechtunddurcheinekräftigeErhöhungderBundesmittel verhindertwerden.DiefinanziellenFolgenderWiedervereinigungundderverfehltenFrühverrentungspolitikhattendie FinanzenderRentenversicherungüberfordert.17

IndieserSituationkamnocheineaggressive,alleMittel, insbesonderediePresse,einsetzendeLobbyarbeitvonBanken undVersicherungen18 hinzu,dieangesichtsderdamalsinder

TatkritischgewordenenSituationderRentenversicherung ihreChancesahen,imBereichderAltersvorsorgemehrUmsatzundGewinnmachenzukönnen.Angesichtsdertrotz derKrisestarkgestiegenenAktienkursewurdedieangeblicheÜberlegenheitderkapitalgedecktenVorsorgegegenüber derumlagefinanziertenRentenversicherungsolangepropagiert,19 bisdiesozialdemokratischgeführteRegierung SchröderunterFederführungvonWalterRiestereinenParadigmenwechselinderAlterssicherungvollzog.ZielderRentenversicherungwaresnunnichtmehrallein,denLebensstandardihrerVersichertensicherzustellen.Siemusssichseit 2001dieseAufgabemitder–steuerlichsehrgeförderten–ergänzendenbetrieblichenundprivatenVorsorgeteilen.Die privatekapitalgedeckteVorsorge,diebeiderSozialunion DeutschlandsalsSystemeinerRegelalterssicherungvöllig versagthätte,hattezehnJahredanachwegenderFolgender VereinigungfürdieRentenversicherungundeinerverfehlten Rentenpolitikeinneues,großesGeschäftsfelderobert.Geradenochrechtzeitig,dennkurznachderEntscheidungdes GesetzgebersbrachendieAktienkurseein,derDaxfielvon über8.000aufknappüber2.000Punkte.Inzwischenistherausgearbeitetworden,wiegroßbeiderEinführungder Riester-RentedieAbhängigkeitderPolitikvonwirtschaftlichenInteressenwar.20 2002istnachderBundestagswahl WalterRiesterdurchUllaSchmidtabgelöstworden.

8DRVBund,RentenversicherunginZeitreihen,2023,S.238f.;fürdie Jahre1992–1997zumTeilhöhereAngabenderBundesbank,vgl. MonatsberichtOktober1996,S.18;s.a.Schmähl(Fn.4),S.1000 (Anm.207).

9Vgl.BT-Drucks.12/5470,54;13/5370,69;14/4730,74. 10BT-Drucks.20/4825,25;19/6240,24.

11Vgl.DRVBund,NichtbeitragsgedeckteLeistungenundBundeszuschüsse2020,2021,S.3;BerichtderBundesregierungzurEntwicklungdernichtbeitragsgedecktenLeistungenundderBundesleistungen andieRentenversicherungvom13.August2004,DRV2004,569 (576);Reineke,DRV2012,1(3).

12EbensoRitter(Fn.4),S.91f.;ders.,DRV2007,696(712f.).

13ZumFolgendenbereitsRuland,DiegesetzlicheRentenversicherung imwiedervereinigtenDeutschland–EineBilanz,in:Bispinck/Bosch/ Hofemann/Naegele(Hrsg.),SozialpolitikundSozialstaat,FSG. Bäcker,2012,S.490ff.

14DeutscheRentenversicherungBund,RentenversicherunginZeitreihen,2023,S.286;BT-Drucks.17/3000,47.

15DeutscheRentenversicherungBund,RentenversicherunginZeitreihen,2023,S.179;BT-Drucks.17/3000,47,48.

16DazuauchRitter(Fn.5),S.326.

17Vgl.Ritter(Fn.5),S.391:„DieÜberlastungderSozialversicherungen, denengesamtgesellschaftlicheAufgabenaufgebürdetwurden,…(war) einenichtnotwendigeFolgederdeutschenEinheit,sonderneineKonsequenzvonderenverfehlterFinanzierung“.

18DazuHockerts,AbschiedvonderdynamischenRente–Überden EinzugderDemografieundderFinanzindustrieindiePolitikder Alterssicherung,in:Becker/Hockerts/Tenfelde(Hrsg.),Sozialstaat Deutschland,2010,S.257(268ff.);s.a.Bourcarde,DieRentenkrise–SündenbockDemographie,2010,S.136ff.;Brettschneider,ParadigmenwechselalsDeutungskampf.DiskursstrategienimUmbauder deutschenAlterssicherung,SozFortschritt2009,192ff.

19DazuSchmähl(Fn.4),S.1089ff.,1119ff.

20Hockerts(Fn.18),S.257(268ff.);Schmähl,SozialeSicherung:ÖkonomischeAnalysen,2009,S.412f;Wehlau,LobbyismusundRentenreform,2009,S.159ff;s.a.Berner,DerhybrideSozialstaat,2009, S.194ff. Leseprobe, mehr zum Beitrag unter

978350310785 4 rv 1.24 Ruland,DieRentenpolitikseit2000–einekritischeAnalyse
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2.DieEinführungdes

Nachhaltigkeitsfaktors

Alstrotzder2001beschlossenenMaßnahmenwegenderanhaltendenSchwächederKonjunkturderBeitragssatz2003 von19,1%auf19,5%angehobenwerdenmusste,istaufVorschlagdervonderBundesregierungeingesetztenKommission„NachhaltigkeitinderFinanzierungdersozialenSicherungssysteme“,imAugust200421 dieAnpassungsformelum einen„Nachhaltigkeitsfaktor“ergänztworden,22 der–vereinfachtausgedrückt–beieinerZunahmederZahlder Rentner(genauer:dersogenanntenÄquivalenzrentnerals MaßfürdasRentenvolumen)zugeringerenundbeieiner ZunahmederZahlderBeitragszahler(genauer:dersogenanntenÄquivalenzbeitragszahleralsMaßfürdasBeitragsvolumen)zueinerhöherenAnpassungführt.23 DieserFaktor wird,umeinerseitsdenBeitragssatzanstiegbis2030auf22% zubegrenzenundumandererseitsdasRentenniveaunicht zusehrabsinkenzulassen,mit1/4gewichtet.

Betrachtetmandieseit2005stattgefundenenAnpassungen,dannzeigtsich,dassderNachhaltigkeitsfaktorineiner ReihevonJahrendieAnpassunggemindert,invielenanderenjedochdieAnpassungerhöhthat.InderSummewarer bis2023nahezuanpassungsneutral.24 Langfristigwirderaber insbesonderewegenderstärkereinsetzendendemografischen EntwicklungseinedieAnpassungdämpfendeFunktionerfüllen.IndenJahren2022bis2036sollerimDurchschnittdie Anpassungjährlichumetwa0,4Prozentpunktemindern.25

3DieEinführungderRentefürbesonders langjährigVersicherte

2009wechseltenachderBildungderKoalitionausCDU/ CSUundFDPundeinemsehrkurzenIntermezzovon Franz-JosefJungUrsulavonderLeyenvondemFamilienindasArbeitsministerium.RentenpolitischistausihrervierjährigenAmtszeitlediglichinErinnerunggeblieben,dasssie eine„Zuschuss-Rente“einführenunddamitgeringeRenten aufstockenwollte.DieserheftigkritisiertePlanistzwaram WiderstanddesdamaligenKoalitionspartners,derFDP,gescheitert.Erwardennochverhängnisvoll,weilerinderfolgendenLegislaturperiodevonAndreaNahles,dersozialdemokratischenNachfolgerinvonFrauvonderLeyeninder großenKoalitionübernommenundnachmehrerenvergeblichenAnläufendurchihrenNachfolger,HerrnHeil,2020als „Grundrente“realisiertwurde–dazuspäter.

InderAmtszeitvonFrauNahlesab2013istmitdem RV-LeistungsverbesserungsgesetzdieRentefürbesonders langjährigVersicherteeingeführtworden.Damitwurdeein WahlversprechenderSPDeingelöst,dieimWerbenumdie GunstderGewerkschaften„Wiedergutmachung“dafürleistenwollte,dassesineinerfrüherengroßenKoalition,der von2005bis2009,dervonderSPDgestellteArbeitsminister FranzMünteferingwar,derdieschrittweiseAnhebungder Altersgrenzebis2031von65auf67Jahredurchgesetzthatte. EineAusnahmegaltschondamalsfürbesonderslangjährige Versicherte,diedieWartezeitvon45Jahrenerfüllthaben;für siebliebundbleibtesabschlagsfreibeiderAltersgrenze65.

SchondieseAusnahmehatteheftigeKritikausgelöst.26 Die AltersgrenzefürdiebesonderslangjährigenVersichertenist dannzum1.Juli2014fürvor1953Geborenenochmalsabgesenktwordenundzwarauf63Jahre(„Rentemit63“).Sie steigtfürdieJahrgängeab1953aberwiederjeJahrumzwei Monatean(Jahrgang1959:64Jahreund2Monate),bissie fürdieab1964Geborenenwiederbei65Jahrenliegt.Durch dieseBegünstigungbeiderAltersgrenzewürden–sodieinhaltsleereBegründung27 –übergangsweisejahrzehntelange Erwerbsarbeit,KindererziehungundPflegeanerkannt.

EswareinevölligverfehlteEntscheidung,diezuRecht allgemeinaufKritikgestoßenist.28 DieabschlagsfreieRente mit63JahrenschlosskeineGerechtigkeitslücke,wiebehauptetwurde,sondernschafftenurneueUngerechtigkeiten.Sie begünstigtMänner;Frauenerreichendievorausgesetzten45 Versicherungsjahrewenigeroft.VondenimRentenbestand 2022verzeichneten2,2Mio.RentenfürbesonderslangjährigeVersichertewurdennur43,4%anFrauengezahlt,obwohl sierund56%allerRentner(innen)stellen.29 Siemüssenaber dieBegünstigungdermännlichenVersichertenmitfinanzieren.EsfindetsomiteineUmverteilungvondenFrauenmit denniedrigerenRentenhinzudenMännernmitdenmeist höherenRentenstatt.

DieabschlagsfreieRentemit63JahrenprivilegiertVersichertemithöherenRenten.DerdurchschnittlicheZahlbetragderRentenfürbesonderslangjährigversicherteMänner lagindenaltenBundesländernEnde2022bei1.728Euro, mehrals43%überdemdurchschnittlichenZahlbetragder anderenAltersrentenartenanwestdeutscheMänner.30 Wegen dervorausgesetzten45VersicherungsjahrestehtdieseRentenartnurVersichertenmitnahezudurchgehenderVersicherungsbiografiezu.DasssiehöhereRentenbeziehen,ist,weil sielängereingezahlthaben,gerecht.Dasssiediehöhere RentezusätzlichauchnochbiszuzweiJahrelängerbeziehen können,VorteilimDurchschnittrund34.000Euro,istaber höchstungerecht.FinanzierenmüssendiesvorallemdieVersichertenmitkürzererVersicherungsdauerundniedrigeren

21§68SGBVIidFdesRV-Nachhaltigkeitsgesetzesvom21.7.2004 (BGBl.I,S.1791).

22BMGS(Hrsg.),BerichtderKommission,2003,S.96,103ff.DerVerf. hatdieserKommissionangehört.

23S.a.Börsch-Supan/Reil-Held/Wilke,SozFortschritt2003,275ff.

24Vgl.KomGRV(Ruland),§68SGBVI(2022)Anm.11.3;Ruland,in: Marhold/Beckeru.a.(Hrsg.),Arbeits-undSozialrechtfürEuropa,FS Fuchs,2020,S.673ff.

25Vgl.BT-Drucks20/4825,46.

26Sozialbeirat,BT-Drucks18/95,89f.;Bäcker,ZSR2014,5(9ff.); Börsch-Supan,ifo-Schnelldienst5/2014,9ff.;Boss,ifo-Schnelldienst 5/2014,10ff.;Kurth,ifo-Schnelldienst5/2014,22ff.;Rische,RVaktuell2014,2ff.;Weber,ifo-Schnelldienst5/2014,18ff.;verfassungsrechtlicheBedenken:Frenz,ZRP2014,1ff.

27BT-Drucks.18/909,2.

28Vgl.Feld/Kohlmeier/Schmidt,Wirtschaftsdienst2014,553ff.;Kallweit/Kohlmeier,DasRentenpaketderBundesregierung.Politökonomischgeschickt–ökonomischfalsch,SachverständigenratzurBegutachtungdergesamtwirtschaftlichenEntwicklung,Arbeitspapier, Nr.02/2014;Rürup/Huchzermeier,DRV2014,56ff.;zuden„Profiteuren“derRegelung:Keck,RVaktuell2018,76ff.

29DRV,RentenversicherunginZahlen2023,S.179ff.

30DRV,RentenversicherunginZahlen2023,S.192und180;inden neuenBundesländernsindesnur6,5%.

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Renten.EsfindetalsoauchnocheineUmverteilungvon armzureichstatt.

DieRentemit63suggerierteeinVersprechen,dassalle mit63inRentegehenkönnen.SiehieltdasVersprechen abernicht.Mit63konntenabschlagsfreinurdieJahrgänge vor1953inRentegehen.FürdieJahrgängedanachstieg bzw.steigtdieseAltersgrenzewiederjährlichan.Fürdiedamals50-JährigenundJüngerenändertesichnichts–siemüssennurzahlen.EsfindetalsoauchnocheineUmverteilung vonjungzualtstatt.

DieabschlagsfreieRentemit63hatzudemeinvölligfalschesSignalgesetzt.Eineverantwortungsvollenachhaltige RentenpolitikhättewegenderaufdieRentenversicherung zukommendendemografischenProblemedaraufsetzenmüssen,dieLebensarbeitszeitzuverlängern,stattsiezuverkürzen.Hinzukommt,dassmitdieserFrühverrentungderRentenversicherungvieleBeitragszahlerundderWirtschaftviele Arbeitskräfteentzogenwurden,einselbstverschuldetesProblem,dasFrauNahlesnunalsPräsidentinderBundesagentur fürArbeitbeklagt.

4.DieVerbesserungender„Mütterrenten“

InihreAmtszeitalsMinisterinfieldieerstederMaßnahmen zurVerbesserungder„Mütterrente“,einAnliegenbesonders derCSU.1986wurdendurchNorbertBlümerstmalsinder RentenversicherungKindererziehungszeiteneingeführt.Für jedes–auchvor1986geborene–KindwurdedasersteJahr demerziehendenElternteil,meistensderMutter,rentenbegründendund-steigerndgutgeschrieben.Diesgaltzunächst allerdingsnichtfürMütter,dieam1.1.1986bereits65Jahre altoderälterwaren.Ihnenist,weilsichderAusschlussder älterenFrauenpolitischnichthaltenließ,1987mitdemKindererziehungs-Leistungsgesetz31 eineentsprechende,technischallerdingsandersausgestalteteLeistungzugebilligtworden.MitderRentenreform1992sinddieKindererziehungszeitenumzweiaufdreiJahreverlängertworden.Für einvor1992geborenesKindbliebesjedochbeieinemJahr Kindererziehungszeit.Dasistvielfachalsungerechtempfundenworden.2014istsieaufzweiJahre32 und2019aufzweieinhalbJahreverlängertworden.33 DiesesStrebennacheiner GleichbehandlungderälterenFrauenwarnachvollziehbar, auchwennmanberücksichtigt,dassderGesetzgeberhäufig sozialpolitischeNeuerungensukzessiveinführenmuss,weil siesonstnichtzufinanzierensind.SowarundistdieZeit auchindieserFrageeineoffeneFlankedesGleichheitssatzes. EineverfassungsrechtlicheNotwendigkeitzuhandelnbestandnicht.DasBVerfGhattedieunterschiedlicheBehandlungnichtbeanstandet.34 Anzuerkennenistauch,dassauch dieseVerbesserungenmitdazubeigetragenhaben,dassdas BVerfG2022dierentenrechtlicheHonorierungvonKindererziehungszeitenalsausreichendangesehenundnichtbeanstandethat.35 DieVerbesserungenderMütterrentewaren sehrteureMaßnahmen.Alleinbis2025belaufensichdie MehrkostendererstenMaßnahmeaufrund89Mrd.Euro,36 diederzweitenab2019aufetwasmehrals29Mrd.Euro,37 zusammensindesgut118Mrd.Euro.

ÄrgerlichandiesenEntscheidungenisttrotzallemzweierlei:1.EsgibteinehoheKinderarmutinDeutschland;nach einerStudiederBertelsmann-StiftungausdemJahre2020 sind21,3%derKinderunter18Jahrenarmutsgefährdet.38 Umihnenzuhelfen,istzuwenigGeldda.Docheswerden jährlichüber12Mrd.EurodenGroßmütterngegeben,die dasGeldzumeistnichtbrauchen.39 2.ObwohlderKinderlastenausgleichinzwischenauchpolitischanerkannteinegesamtgesellschaftlicheAufgabeist,wirddieErweiterungder „Mütterrente“fastausschließlichvondenRentenversichertenfinanziert.Beamte,SelbständigeundEinkommenvon VersichertenoberhalbderBeitragsbemessungsgrenzeundaus VermögenbrauchensichandenKostennichtzubeteiligen. DasführtzueinerweiterenUmverteilungvonuntennach oben.ZwarwurdederBundeszuschussab2019etwaserhöht, imVergleichzudenGesamtkostendieserbeidenMaßnahmenabervölligunzureichend.

5.DieVerlängerungderZurechnungszeit

NotwendigwardiemehrmaligeVerlängerungderZurechnungszeit.DierentenrechtlicheAbsicherungbeiErwerbsminderungbedurftedringendderVerbesserung.Grundwar, dassauchfürdieHöhederRentebeiErwerbsminderungdie AnzahldererworbenenEntgeltpunkteunddieDauerder VersicherungdieentscheidendenParametersind.InsbesonderebeiVersicherten,dieinfrühenJahrenerwerbsunfähig wurden,wardieDauerderVersicherungszeitzukurz,um eineauskömmlicheRentezusichern.Umdiesauszugleichen,gabundgibtesdieZurechnungszeit.Sieist,obwohl beitragsfrei,Versicherungselementundschreibtbiszuihrem EndedieVersicherungszeitfiktivfort,erhöhtsomitdieZahl deranrechnungsfähigenVersicherungsjahre.NacheinererstenVerlängerung2001endetedieZurechnungszeitmitdem Zeitpunkt,dersichergab,wenndieZeitbiszum55.LebensjahrinvollemUmfang,diedarüberhinausgehendeZeitbis zumvollendeten60.LebensjahrzueinemDrittelhinzugerechnetwurde.DieseRegelungwaraberimmernochunzureichend.Von2003bis2013sinddieGrundsicherungsfälle beiErwerbsminderungmitRentenbezugvon4,1%aller RentenempfängerwegenErwerbsminderungummehrals dasdreifacheauf13,6%angestiegen.InabsolutenZahlen

31Vom11.7.1985(BGBl.I1450).

32RV-Leistungsverbesserungsgesetzvom23.6.2014(BGBl.I,S.787); Begründung:BT-Drucks.18/909.

33RV-Leistungsverbesserungs-undStabilisierungsgesetzvom28.10.2018 (BGBl.I,S.216);Begründung:BT-Drucks.19/4668;dazu:Dünn/ Steckmann,DRV2018,281ff.;dies.,RVaktuell2018,212ff.;Ruland, SGb2019,193ff.

34BVerfGE87,1ff.=NZS1992,25(27).

35BVerfG,NZS2022,579ff.

36Vgl.BT-Drucks.18/909,3;diedortangegebenenWertesind–wie auchimFolgenden–mitdenRentenanpassungsratendynamisiert worden.

37Vgl.BT-Drucks.19/4668,25.

38BertelsmannStiftung,Factsheet„KinderarmutinDeutschland,2020, S.2.

39DazuRuland,DieBedeutungderAbsicherungvonHinterbliebenen undbeiScheidung,in:DRV-SchriftenBand114,2018,S.41ff.

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warenes200355.500Fälle,2013schonüber158.000.40 Es wardringenderHandlungsbedarfgegeben.

2014wurdeineinemerstenSchrittdieZurechnungszeit umzweiJahreauf62Jahreverlängert.41 201742 undzuletzt 201843 wurdesienochzweimalverlängert.2023endetsie mit66Jahren,bis2031wirdsieschrittweiseauf67Jahre verlängert.44 DieZurechnungszeitkannauchHinterbliebenenzugutekommen,wennderVersichertevordemErreichenderRegelaltersgrenzeverstorbenist.DieKostendieser Maßnahmenbelaufensichbis2025aufüber17Mrd.Euro mitstarksteigenderTendenz.45 Seit2013lässtsichimRentenzugangeindeutlicherAnstiegderdurchschnittlichen HöhederErwerbsminderungsrentenfeststellen,von613auf 950EuromonatlichimJahr2022.46

BisjetztentfaltetdieVerlängerungderZurechnungszeit nochkeineRückwirkungaufdenRentenbestand.Siegilt jeweilsabdemStichtagnurfürdieabdannzugegangenRentenwegenErwerbsminderungoderwegenTodes.DiesändertsichabJuli2024.AbdanngibtesfürdieseBestandsrenteneinenZuschlaganpersönlichenEntgeltpunkten,dessen HöhesichanderindividuellenSummederpersönlichen EntgeltpunkteundandemZeitpunktdesBeginnsderRente orientiert.47 DieMehrkostenhierfürwurdenfür2024auf 1,3undfür2025auf2,6Mrd.Euroermittelt,48 insgesamt eineteure,abernotwendigeunddringendeReformderErwerbsminderungsrenten.

6.DerAbschlussderRentenüberleitung

DielangeDiskussionübereineAngleichungderRentenin OstundWesthatmitdemRentenüberleitungs-Abschlussgesetzvom17.7.201749 einEndegefunden.Unabhängigvon derLohnentwicklungsolltederaktuelleRentenwert(Ost),50 derzum1.7.201895,8%desentsprechendenWertsinden altenBundesländernausgemachthat,biszum1.7.2024in siebenSchrittenvonje0,7Prozentpunktenauf100Prozent angehobenwerden.DannwäredieRentenüberleitungabgeschlossenundeswürdebundesweiteineinheitlichesRentenrechtgelten.DieMehrkosten,diedieRentenversicherung wegendieserRegelungzutragenhat,solltensichbis2025 aufrund20Mrd.Eurobelaufen.51

DieRentenüberleitungwarundisteineErfolgsgeschichte, dieallerdingslängergedauerthat,alsman1992erhoffte.Das VerhältnisderStandardrenteOstzurStandardrenteWestbetrugam1.7.1992alsdieÜberleitungbegann,62,3%.Eshat sichwegenderhöherenAnpassungenindenneuenBundesländernbiszurJahresmitte2000auf87%undbisJuli2014 auf92,2%erhöht.DerZuwachsbeidenRenteninden neuenBundesländernwardeutlichstärkeralsbeidenLöhnen.DerLohnabstandzwischenOst-undWestdeutschland betrug2014nochrund14%,2020immernoch7%.52 Die Gerichtehatten,weilderAufholprozessderRenteninden neuenBundesländernFortschrittemachte,gegendieunterschiedlicheBerechnungderRentenindenneuenBundesländernkeineBedenken.53 Rechtlichbestanddaherkeine Notwendigkeit,dieRentenüberleitungdurchGesetzunabhängigvonderLohnentwicklungvorzeitigzumAbschlusszu bringen.DochmehralszwanzigJahrenachderWiederverei-

nigungwarderpolitischeDruckinsbesondereindenneuen Bundesländern,diesesKapitelnunendlichabzuschließen,so großgeworden,dasssichdieKoalitionzumHandelnentschlossenhatte.

NachderNeuregelungdurchdas„RentenüberleitungsAbschlussgesetz“solltedieRentenüberleitungzum1.7.2024 abgeschlossensein.Dochhabensichwegenderdeutlich höherenLohnsteigerungenindenneuenBundesländernaufgrunddervorgeschriebenenVergleichsberechnungdieaktuellenRentenwerteinOstundWestbereitsmitderAnpassungzum1.Juli2023angeglichen,sodassfüreinen persönlichenEntgeltpunktbundeseinheitlichderWertvon 37,60Eurogilt.54 DamitistdieRentenüberleitungabernoch nichtabgeschlossen.Esgibtbiszum1.Juli2024nochdie beidenunterschiedlichenaktuellenRentenwerte,erstdann trittandieStelledesaktuellenRentenwerts(Ost)bundeseinheitlichderaktuelleRentenwertundestretenandieStelle derEntgeltpunkte(Ost)Entgeltpunkte.Außerdemwerden 2024letztmaligdieindenneuenBundesländernerzielten versicherungspflichtigenEntgelteumgewertet.Ab2025geltendannaucheinheitlicheBeitragsbemessungsgrenzen.Da sichdieAngleichungderaktuellenRentenwertedurchdie günstigeLohnentwicklungindenneuenBundesländernbeschleunigthat,kannmanwohldavonausgehen,dassdurch denAbschlussderRentenüberleitungkeinezusätzlichen Kostenentstandensind.

7.DieEinführungderGrundrente

2020istmitWirkungab2021fürdenRentenzugangund denRentenbestanddievonCDUerfundeneundspätervor allemvonderSPDundihremArbeitsministerHubertusHeil geforderteGrundrenteeingeführtworden,55 durchdiedie Rentenversicherungmit1,3bis1,6Mrd.EuroimJahrbelastetwird.56 VersichertemitniedrigemEinkommen,diemin-

40DRV,RentenversicherunginZeitreihen,S.273.

41Vgl.Fn.32.

42EM-Leistungsverbesserungsgesetzvom17.7.2017(BGBl.I,S.2509); Begründung:BT-Drucks.18/11926.

43RV-Leistungsverbesserungs-und-Stabilisierungsgesetz(RV-LvStabG) vom28.11.2018(BGBl.I,S.2016).

44§253aSGBVI.

45Vgl.BT-Drucks.18/909,3;18/11926,16;19/4668,26.

46DRV,RentenversicherunginZeitreihen,S.120;ausführlich:Jess/Kasten/Lohmann/Schuth,DRV2019,102(104f.);Krickl/Kruse,RVaktuell2019,222ff.

47§307iSGBVI.

48BT-Drucks.20/1680,3. 49BGBl.I,S.2575.

50DieserWertgibtdieHöhederMonatsrentean,dieeinDurchschnittsverdiener(indenneuenBundesländern)durcheinJahrBeitragszahlungerwirbt.

51BT-Drucks.18/11923,4.

52Buslei/Geyer/Haan,DIWWochenberichtNr.38/2020,714ff.

53BSG,NZS2013,429f.;270;BSG,SozR4–2600§255aNr.1; Sächs.LSG,NZS2017,833.

54Vgl.§1RWBestV2023v.21.Juni2023(BGBl.INr.164v. 26.Juni2023).

55Zuihr:Ruland,NZS2021,241ff.;Schmidt,DieneueGrundrente, 2021.

56Vgl.BT-Drucks.19/18473,5.

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destens33JahremitGrundrentenzeitenaufweisen,können einensteuerfreienZuschlagzuihrerRenteerhalten;erist die„Grundrente“,präziserderGrundrentenzuschlag.Esgibt alsokeineneueRentenart.DieVersichertendürften–so heißteszurBegründung57 –imAltereineihrerLebensleistungentsprechendeRenteerwarten.Grundrentenzeitensind imWesentlichendieVersicherungszeitenmitAusnahmevon ZeitenderArbeitslosigkeitundderZurechnungszeit.Eswird –entgegenvielfacherVersuche,dieGrundrentealsLeistung fürdiejenigenzurechtfertigen,dieihrLebenlanggearbeitet haben58 –nichtvorausgesetzt,dassindiesenZeiteneine Vollzeitbeschäftigungausgeübtwurde.AucheineTeilzeitbeschäftigungzählt.Berechtigtistnur,dessenRentenanspruch oberhalbvon30%undunterhalbvon80%derRenteeines Durchschnittsverdienersliegt;dasbedeutet,dassRenten,die nach35JahrenimJahr2023nichtmindestensrund395Euro odermehrals1.053Eurobetragen,dieVoraussetzungen grundsätzlichnichterfüllen.LiegtdieRenteindiesemKorridor,erhöhtsiesichumeinenZuschlag,dersiemaximal verdoppelnkann.AllerdingsgeltenHöchstbeträge,diesicherstellen,dassRenteundZuschlagzusammendie80%der RenteeinesDurchschnittsverdienersnichtübersteigen.Die BerechnungsmethodehatzurFolge,dassjehöherdieeigene Renteist,einAnspruchaufGrundrenteentwedernichtbestehtodergekürztwird.DenhöchstenZuschlagerhalten Versicherte,derenRente40%derRenteeinesDurchschnittsverdienersausmacht,erbeträgt2023460,86Euro.59 JemehrdieRentedieseMarkeübersteigt,destoniedriger wirdderZuschlag.Erwirdzudem„zurStärkungdesÄquivalenzprinzips“um12,5%gekürzt.AufdenZuschlagwerden alleinländischenundausländischenEinkommenundEinkommensersatzleistungendesBerechtigtenundseinesEhegattenangerechnet,soweitsiebestimmteFreibeträgeüberschreiten.NichtangerechnetwerdenjedochVermögenund EinkommendesPartnerseinereheähnlichenGemeinschaft. DieseRegelungen,dieeinenintensivenDatenaustauschvon RentenversicherungsträgernundFinanzbehördenvoraussetzen,führendazu,dassfürdieAnrechnungmaßgeblichdaszu versteuerndeEinkommendesvorvergangenen(!)Jahresist. DerGrundrentenbedarfwirdbeiderErstbewilligungdes GrundrentenzuschlagsunddannjährlichdurcheineumfassendeEinkommensüberprüfungermittelt.

GegendieseNeuregelungbestehensowohlsozialpolitische alsauchverfassungsrechtlicheEinwände.60 Grundübelist, dass,umdenBerechtigtendenalsunzumutbarbewerteten GangzumSozialamtzuersparen,dieGrundrenteindas Rentensystemintegriertwurde,obwohlsie,wieihreBerechnung,dieEinkommensanrechnungundihresteuerlicheBehandlungzeigen,keine„Rente“,sonderneinesubsidiäre LeistungdessozialenAusgleichs,eine„Sozialhilfedeluxe“ istunddeshalbindasGrundsicherungsrechtgehörthätte. Dasführtezwangsläufigdazu,dasswederdasÄquivalenzprinzipderRentenversicherungnochdasSubsidiaritätsprinzip derSozialhilfekonsequentbeachtetwerdenkonnten.Die MischungderSystemebringtzwangsläufigSystembrüchemit sich,diemeistmitProblemenderGleichbehandlungverbundensind.SokönnenVersicherte,die32JahrelangVollzeit gearbeitetundentsprechendhöhereBeiträgegezahltha-

ben,eineniedrigereRentebekommenalsVersicherte,die 35JahrenurhalbtagsgearbeitetundvielwenigerBeiträge eingezahlthaben,derenoriginäreRenteaberdurchdie Grundrenteaufgestocktwird.DieseErgebnissewidersprechendemPrinzipderTeilhabeäquivalenz,dasdasRentenversicherungsrechtprägtunddurchdenGleichheitssatzdes Grundgesetzesgebotenist.Esfordert,dassVersichertebei gleicherBeitragsleistunggleichhoheRentenundVersicherte mitunterschiedlichhoherBeitragsleistungentsprechendunterschiedlichhoheRentenerhaltenmüssen.DieGrundrente begünstigtvorallemPersonen,dieteilzeitbeschäftigtwaren. SiekönnenmitihreinegleichhoheoderhöhereGesamtrentenleistungerhaltenalsPersonen,dienuretwaskürzervollzeitbeschäftigtwaren.DasistmitdemGleichheitssatzdes Grundgesetzesunvereinbar.AußerdemistdieGrundrenteein nichtzuunterschätzenderAnreiz,nureinMinimumanArbeitlegalzuerbringenunddenRestschwarz;jederEuro mehranBeitragwürdedieGrundrentekürzen.

Kuriosistschließlich,dassderGrundrentenzuschlagrückwirkendab2021steuerfreiist.61 DamitwirddieserTeilder Rentesteuerrechtlichandersbehandelt,alsderbeitragsfinanzierteRententeil,deraufdemWegzurVollbesteuerung 2023zu83%zuversteuernist.DasseltsameErgebnis,dass einRententeil,demkeineBeitragsleistungzugrundeliegt, steuerlichbesserbehandeltwirdalseinegleichhohebeitragsfinanzierteRente,kann–wennüberhaupt–verfassungsrechtlichnurdamitgerechtfertigtwerden,dassessichbei demGrundrentenzuschlagderSachenachumeineSozialhilfeleistunghandelt.62

DieGrundrenteträgtfastnichtszurBekämpfungvonAltersarmutbei.Siesetzteinemindestens33-jährigeGrundrentenzeitvoraus.BeieinersolangenVersicherungsdauerbestehtnurinsehrseltenenFällenAltersarmut,63 sodasssich indenmeistenFällen,indeneneszurGrundrentekommt, dasProblemgarnichtgestellthat,dasmitihrgelöstwerden sollte.IndenFällen,indenenessichstellenwürde,gibt eskeineLeistungen,weilwegendergeforderten33Jahre GrundrentenzeitdiezeitlichenVoraussetzungennichterfüllt sind.DasGesetzistungeeignet,dasmitihmverfolgteZiel zuerreichen.

DieAnrechungvonEinkommenaufdieGrundrenteist, daessichderSacheumeineSozialhilfeleistunghandelt, grundsätzlichsachgerecht.MaßstabfürdieEinkommensanrechnungistjedochdaszuversteuerndeEinkommen.Dies

57BT-Drucks.19/18473,1;krit.:Ruland,DieVerfassungswidrigkeitder Grundrente,2020,S.40ff.

58BT-Drucks.19/18473,1.

59ZurBerechnung:Ruland(Fn.57),S.16.

60DazuundzumFolgendenRuland(Fn.57),S.23ff.;s.a.:Brosius-Gersdorf,DRV2020,45(74ff.);dies.,SGb2019,509ff.;Cremer,DRV 2020,127(133ff.);vonKoppenfels-Spies,NZS2021,632(640f.); Papier,DRV2019,1(6f.);Ragnitz,Ordo2020,325ff.;ders.,ifoSchnelldienst3/2020,S.1ff.;Ruland,NZS2019,881ff.;ders.,Wirtschaftsdienst2019,189ff.;ders.,DRV2018,1(18f.).

61Art.3desJahressteuergesetzes2022vom16.Dezember2022(BGBlI, S.2294).

62Krit.zuRechtGunkel,in:DRV,AktuellesPresseseminarderDRV BundNovember2022,2023,S.23.

63Vgl.BT-Drucks.18/10571,15,95.

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istschondeshalbproblematisch,weilsteuerrechtlichnurdas disponibleEinkommenbesteuertwird,weshalberwerbs-und existenzbedingteAufwendungenzuvorzumAbzuggebracht werden.DaheristdaszuversteuerndeEinkommeneinungenauerIndikatordafür,obeinVersicherterinderLageist, seinenLebensunterhaltzubestreitenodernicht.Sowerden steuerfreieEinkommen,wiez.B.Krankengeld,Unfallrenten oderEinkünfteausgeringfügigerBeschäftigung(„Minijobs“) nichtberücksichtigt,obwohlsiefürdieFinanzierungdesLebensunterhaltsvonerheblicherBedeutungseinkönnen.Eine gänzlichsinnwidrigeRegelungist,dassfürdieEinkommensanrechnungdieDatendesvorvergangenenodersogardes vorvorvergangenenJahresmaßgeblichsind;sieführtdazu, dassindenerstenbeidenJahrennachRentenbeginneine GrundrentehäufiganderAnrechnungdeshöherenfrüheren Erwerbseinkommensscheitert,dasabernichtmehrbezogen wird.

ZudemistdieEinkommensanrechnungauszweiGründen verfassungswidrig:ImGegensatzzuEinkommenwirdVermögennichtaufdieGrundrenteangerechnet.Dasführtzu einerUngleichbehandlungvergleichbarerFälle.Hatjemand seinHausverkauftodersicheineKapitallebensversicherung auszahlenlassenundverrentetdannseinVermögen,hater keinelaufendenEinkünfte,dieaufdieGrundrenteanzurechnenwären.HaterseinHausvermietetoderbeziehteraus seinerLebensversicherungeineRente,sindMieteundRente aufdieGrundrenteunterBerücksichtigungderFreibeträge anzurechnen.DadieEinkommensanrechnungnuraufden EhegattenbeschränktistundganzbewusstdenPartnereiner eheähnlichenGemeinschaftnichtmiterfasst,wirdgegenüber einersolchenGemeinschaftdieEheverfassungswidrigbenachteiligt.64

EsisteineEinladungzumBetrug,dass,wennBerechtigte ihrerVerpflichtung,Kapitalerträgeanzugebenundnachzuweisen,nichtnachkommen,gesetzlichunterstelltwird,dass solcheEinkünftenichtvorliegen.DerBetrugistohneRisiko, geprüftwirdnureineZufallsauswahlundselbst,wennman dabeiauffällt,mussmannurdaszurückzahlen,wasmanzuvielbekommenhat.WasdenVerwaltungsaufwandsoextrem steigenlässt,ist,dassdieFrage,obeineGrundrentezuleisten ist,beijederRentenbewilligungvonAmtswegenzuprüfenist,dasiekeinenspezifischenAntragvoraussetzt.InjedemFallmussauchimRentenbescheiddieFragenachder Grundrente–undseiesnegativ–beantwortetwerden.Dies verkompliziertdieRentenbescheide.Dasallespotenzierte sich,weilauchinallenFällendesrund26Mio.FälleumfassendenRentenbestandesEnde2020dieGrundrentenberechtigunggeprüftwerdenmusste.Diesgiltauchfüralleindas AuslandgezahltenRenten.ZwarlässtsichweitgehendmaschinelldieFrageklären,obdiezeitlichenVoraussetzungen derGrundrentegegebensind.Docheswurden2,9Mio. Fälleerwartet,indeneneineErmittlungdesanzurechnenden Einkommenserfolgenmusste.InalldiesenFällenmusstegetrenntfürdiejeweiligenJahredasanzurechnendeEinkommendesBerechtigtenundseinesEhegattenerhobenwerden.

DieGrundrenteführtzueinemernormenVerwaltungsaufwand.DieErmittlungderHöhedesGrundrentenzuschlagsunddiedesanzurechnendenEinkommenssindüber-

ausverwaltungsaufwändig,zumalnichtnurdasEinkommen desBerechtigten,sondernauchdasdesEhegattenzuermittelnundanzurechnenist.WiegroßderVerwaltungsaufwand ist,ergibtsichschondaraus,dass,bisdieRenteendgültig festgesetztist,zweioder,sindauchKapitalerträgeanzurechnen,dreiBescheideergehenmüssen.DieEinkommensanrechnungmussjedesJahrzum1.Januarüberprüftwerden, wasnichtnurmindestenseinenweiterenBescheiderfordert, esmüssenauch,wurdenKapitalerträgeverschwiegen,diezuvielgezahltenBeträgezurückgefordertwerden.Eswirdalso inZukunftinalldiesenFällenzwei„Anpassungen“der Rentegeben:zum1.JanuarwirddieGrundrenteundzum 1.JulidieRentenhöheangepasst.BesonderenAufwandbereitendieFälle,indenendieBerechtigtenundihreEhegatten imAuslandlebenundausländischeEinkünfteerzielen,die dieRentenversicherungsträgerbeiihnenjedesJahrermitteln müssen.Davon,dassdieEinkommensanrechnung„unbürokratisch“geregeltwordensei,kannkeineRedesein.Trotz derGrundrentekanninvielenFällenderBerechtigteinbesonderenLebenslagenaufLeistungenderSozialhilfeangewiesensein.DannerfolgteinezweitePrüfung,diesesMal dieseinerBedürftigkeit.

NacherstenZahlenderDRVBundzudenAuswirkungen derGrundrentehabenEnde20221,1Mio.Rentnereinen Grundrentenzuschlagerhalten,diesentsprichteinerQuote anallenRentenvonrund4,3%,siestammenwegender längerenVersicherungszeitenvorallemausdenneuenBundesländern.ImSchnitthabensichdieAltersrentenum 89Euro,dassindimMittelrund7,5%,erhöht.Runddrei Viertel(77%)derbegünstigtenAltersrentenwerdenanFrauengezahlt.65 EssindabernurvorläufigeZahlen,dainvielen aktuellenZugangsfällendieAnrechnungdesvordemRentenbeginnbezogenen,zweiJahrezurückliegendenErwerbseinkommensdieGewährungeinesGrundrentenzuschlags verhinderthat.EineSonderauswertungderimHerbst2021 vorabgeprüftenFällemitFürsorgeleistungenverdientjedoch Beachtung.Nurinrund100.000der1,67Mio.Fällekames Ende2021zueinemZuschlag,derimDurchschnitt98Euro ausmachte.66 InvielenFällenscheitertedieGrundrentean nichtausreichendenGrundrentenzeiten.Auchdiesbestätigt, dassdieGrundrentenursehrbegrenztAltersarmutlindern kann.

EsisteingroßesKomplimentwert,dassdieRentenversicherungEnde2022dieUmsetzungdesGrundrentengesetzes weitgehendabgeschlossenhat.Grunddafürwarauch,dass die„Datenautobahn“zurFinanzverwaltunginkürzesterZeit aufgebautwerdenkonnte.67 DashatteallerdingsseinenPreis. DieVerwaltungskostenhierfürbetrugenmitrund200Mio. EuroeinFünfteldergesamtenKosten.68 Fürdielaufende BearbeitungdesGrundrentenzuschlagsrechnetdieRenten-

64Vgl.BVerfGE142,353(Rn.39);87,234(256ff.);s.a.BVerfGE105, 313(346);67,186(195f.).

65Vgl.Piel,VortragaufderVertreterversammlungderDRVBundam 22.Juni2023,S.7f.

66Gunkel(Fn.62),S.22.

67Vgl.Gunkel(Fn.62),S.20ff.

68Piel(Fn.65),S.8.

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versicherungfür2023miteinemähnlichenBetrag.69 Esließe sichnochmehrandiesemGesetzkritisieren,soetwaanden FreibetragsregelungenimSozialhilferecht.70 DochdasGesagtereicht,umkonstatierenzukönnen,dassmitdiesemGesetz einTiefststandderGesetzgebungskunsterreichtwurde.

8.DieVorhabenderjetzigenKoalition

DiejetzigeAmpelkoalitionhatderRentenpolitikinden178 SeitenihresKoalitionsvertragesnurgeringenRaumgewidmet,nuretwasmehralszweiSeiten,selbstwennmandie AnkündigungeinerReformderRentenbesteuerunghinzunimmt.DieseVernachlässigungeinessowichtigenPolitikbereichsisterstaunlich,Kritikersahendarineinesdergrößten DefizitedesKoalitionsvertrages.71 Möglicherweisegabesin diesemBereichnichtmehrGemeinsamkeitenderdreiParteien,dieimWahlkampfhierzusehrunterschiedlichePositionenvertretenhatten.DerKoalitionsvertragkündigtzahlreicheLeistungsverbesserungenan.Einedavonistbereits realisiert.DieindenletztenJahrennurfürdenRentenzugangbeschlossenenVerbesserungenbeidenErwerbsminderungsrentensind,davonwarschondieRede,auchaufden Rentenbestandausgeweitetworden.DesWeiterensolldas Mindestrentenniveaudauerhaftbei48%gesichertwerden undesentsprichteinemTrendderaktuellenRentendiskussion,dassdieKoalitionmiteinerteilweisenKapitaldeckung dergesetzlichenRentenversicherungbeginnenwill.

Umgesetztwerdensollbeidesindem„RentenpaketII“, dasdieKoalitionnochimHerbst2023vorlegenwollte.ErarbeitetwurdedasKonzeptvondenMinisternLindnerund Heil,docheshakt,weildieGRÜNENBedenkenhaben. Beabsichtigtist,dieHaltelinie,wonachdasSicherungsniveau vorSteuernnichtunter48%sinkendarf,über2025hinaus unbefristetbeizubehalten,dieHaltelinie,wonachderBeitragssatznichtüber20%steigendarf,sollhingegenüber 2025hinausnichtverlängertwerden.DieBeibehaltungeines Sicherungsniveausvon48%würdezuerheblichenMehrkostenführen,daderRentenversicherungsbericht2022fürdie Zeitab2026voneinemunter48%sinkendenNiveauausgeht,das2036nurnoch44,9%betragensoll.72 UmdasRentenniveaueinenProzentpunktanzuheben,wären2023 6,8Mrd.Euronotwendig.DieseMehrkostenträfenab2026 aufeineRentenversicherung,derenBeitragssatzab2027, weildieBaby-BoomerinRentegehen,ohnehinmittelfristig aufüber21%steigenwird.

UmdiesenAnstieginGrenzenzuhaltenundumdieerheblichenMehrkosteninfolgederGarantiedesRentenniveauszufinanzieren,sollein„Generationenkapital“aufgebautwerden,dessenErträgeab2035derRentenversicherung zufließenundihreMehrbelastungabmildernsollen.DerKoalitionsvertragstrebteineTeildeckungdurchKapitalan,73 die dasUmlageverfahren,aufdemdieRentenversicherungberuht,ergänzensoll.EinevolleKapitaldeckungwillniemand, daswäreangesichtsderenormenMittel,diedafürbenötigt würden,74 gänzlichunrealistisch.Dieangestrebteteilweise KapitaldeckungderRentenversicherungsolldieerworbenen AnsprücheabsichernundRentenniveauundBeitragssatz langfristigstabilisieren.Esgehtalsoinsoweitnichtumein

zusätzlichesVorsorgesystemaußerhalbderRentenversicherung.75

Umdas„Generationenkapital“aufzubauen,sollderBund ab2024denneuestenMeldungennachjährlich12Mrd. Euroeinzahlen,wobeiderBetragsichjährlichumdreiProzenterhöhensoll.IneinemerstenSchrittsindfürdenAufbaueines„Generationenkapitals“,wieimKoalitionsvertrag vereinbart,imHaushaltdesBundesfür2023mitSperrvermerk10Mrd.Euroals„verzinslicheDarlehenfürdenAufbaueinesKapitalstockszurStabilisierungderBeitragssatzentwicklungdergesetzlichenRentenversicherung“bereitgestellt worden.ÜberdieArtunddenUmfangderjährlichenMittelzuführungenmussdannjeweilsderDeutscheBundestag entscheiden.FinanzierenwillderBunddiesmitverzinslichen Darlehen.Außerdemsollendem„Generationenkapital“VermögenswertedesBundesinHöhevonrund25Mrd.Euro zugeführtwerden.Essollbis2035einVolumenvon 200Mrd.Euroerreichen.DasKapitalsollalsdauerhafter FondsinderRechtsformeineröffentlich-rechtlichenStiftungvoneinerunabhängigenöffentlich-rechtlichenStelle professionellverwaltetundglobalangelegtwerden.Gedacht istdaran,dassdieVerwaltungdes„Generationenkapitals“ durchden„FondszurFinanzierungderkerntechnischen Entsorgung(KENFO)“erfolgensoll.FrühestensMitteder 2030er-JahresollenErträgedesGenerationenkapitalsandie gesetzlicheRentenversicherungausgeschüttetwerden.76

DiesesKonzeptistzuRechtselbstinderKoalitionauf vielKritikgestoßen.77 DabishernurUmrissedergeplanten Bestimmungenbekanntsind,stehtdieKritikunterdemVorbehalteineranderen,besserengesetzlichenRegelung.Das „Generationenkapital“sollbis2035durchjährlicheZahlungendesBundesaufgebautwerden.Bisdahinwerdendreimal einneuerBundestaggewähltunddreimalneueKoalitionen gebildet.Wergarantiert,dassdieneuenRegierungenandem KonzeptderAmpel-Koalitionfesthalten,daspolitischja nichtunumstrittenist,unddassdieMehrheitimBundestag jeweilszustimmt?Esistüberauszweifelhaft,obdiePolitik

69Gunkel(Fn.62),S.22.

70DazuRuland,SGb2022,389ff.

71BdA,BewertungdesKoalitionsvertragesvonSPD,Bündnis90/DIE GRÜNEN,FDPv.26.11.2021,S.22ff.;Börsch-Supan,DieVerdrängungdesdemographischenWandels,FAZv.24.12.2021,S.22. 72BT-Drucks.20/4825,34f.

73ZuProblemeneinerTeilkapitaldeckunginderAlterssicherung: Börsch-Supan,ZurdeutschenDiskussioneinesÜbergangsvom Umlage-zumKapitaldeckungsverfahrenindergesetzlichenRentenversicherung,FinanzArchiv1999,400ff.;Eitenmüller/Hain,DRV1998, 634ff.;Hauser,DRV1998,673ff.;Müller/Roppel,ActaDemographica1990,107ff.;Thullen,GedankenzurdeutschenRentenversicherung,DRV1983,401(410).

74Frick/Grabka,AlterssicherungsvermögendämpftUngleichheit, WochenberichtDIW2010,Nr.3,S.8kommenauf4,5Billionen Euro,ohneHinterbliebenenversorgung;frühere(höhere)Zahlenbei Eitenmüller/Hain,PotentielleEffizienzvorteilekontraÜbergangskosten,DRV1998,634(643):14,9BillionenDM;Geppert/Ruland, DRV1999,1(6);Müller/Roppel,ActaDemographica1990,107 (117);Recht/Haneberg,BABl.1993/11,5(6).

75DazuauchGunkel,DieRenteindenKoalitionsverhandlungen,VortragaufdemPresseseminarderDRVBundv.3./4.11.2021,S.10ff. 76Vgl.BMF-MonatsberichtJanuar2023,S.8ff.;s.a.BetrAV2023,22. 77Lesenswertinsbes.Sozialbeirat,BT-Drucks.20/4825,110ff.

978350310785 10 rv 1.24 Ruland,DieRentenpolitikseit2000–einekritischeAnalyse
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angesichtsdervielfältigenanderenHerausforderungeneinen milliardenschwerenFondsübersolangeZeitunangetastet lässtundihnauchnochausbaut.EsseiandenSchumpeterschenVergleicherinnert,wonachehereinHundeinen WurstvorratanlegtalsdiePolitikeineBudgetreserve.Inden LändernsindentsprechendeVersuche,FondsfürdieFinanzierungderBeamtenversorgungaufzubauen,gescheitert.78 DasKernproblemdesbisherbekanntgewordenenVorschlags istalso,dassdiePolitikaufdereinenSeitemitderGarantie desSicherungsniveausüber2025hinausundmitdendann höherenAnpassungenfürvieleJahremilliardenschwereFaktensetzt,derenFinanzierungüberdieZeitandererseitsaber nichtgesichertwerdenkann.

ZumAufbaudesFondssollenauchseineGewinnebeitragen.GewinnewerdenvorallemdurchdieWertsteigerungen derangelegtenWertpapiereerwartet.Daskann,mussaber nichtgutgehen.SohatderFondszurFinanzierungderkerntechnischenEntsorgung,derseit201724Mrd.EurozurEntsorgungvonAtommüllamKapitalmarktanlegtunddermit derVerwaltungdes„Generationenkapitals“betrautwerden soll,2022einenVerlustvon12%bzw.3,1Mrd.Euroerwirtschaftet,sodasssichdasFondsvolumenauf21,7Mrd.Euro verringerte.79 DerVerlustistdieeineSorge.Dieandereist, dassdieHoffnungaufhoheZinseinnahmendeshalbtrügerischist,weilzunächstdieZinsenbedientwerdenmüssen, diederBundfürdieDarlehenzuzahlenhat,mitdenener seineMittelanden„Generationsfonds“finanziert.Esistzwar richtig,dasssichderBundwegenseinerBonitätzugünstigerenZinssätzenverschuldenkannalsandereSchuldner,aber diePhaseindenvergangenenJahren,indererfastkeine Zinsenzahlenmusste,istvorbei.InzwischenzahltderBund für10-jährigeAnleihenp.a.2,7%Zinsen.DieErträge,die der„Generationenfonds“erhielte,wärenalsonurdieDifferenzzwischendemZinssatz,denderBundzuzahlenhat, undderRendite,dieder„Generationenfonds“erwirtschaftet.AußerdembirgtdiegeplanteKreditfinanzierunghohe RisikenundändertletztlichnichtsanderBelastungder künftigenGenerationen.

RentenniveaugarantieentstehendenMehrkostenzudecken. AußerdemsolldieRentenversicherungdurchdieAusschüttungvonGenerationenkapitalfrühestens2035entlastetwerden,zueinemZeitpunktalso,zudemderstarkeBelastungsanstiegdurchdiedemografischeVeränderungfastvorüberist. AußerdemhättebiszudiesemZeitpunktdieRentenversicherungdiezusätzlichenKostenderRentenniveaugarantie alleinezutragen–unddaszueinerZeit,inderdieBeitragsbelastungderVersichertenohnehinstarkansteigt.

Daskannnichtsein.DaskannselbstHerrHeilnicht ernstlichwollen.Daszeigt,wirwissenaktuellnochzuwenig KonkretesüberdiePlanungenzumRentenpaketII.DieDiskussioninderÖffentlichkeitkonzentriertsichzusehraufdie SinnhaftigkeitderBildungeinesGenerationenkapitals.Sein ZusammenspielmitderRentenniveausicherungüber2025 hinauswirdfastnichtthematisiert.EsliegenauchkeineVorschlägevor,wiederBeitragssatzanstiegnach2026gemildert werdensoll.DersteteHinweisdesBundesarbeitsministers, dassdieNiveausicherungdurchdieAusschüttungendes„Generationenkapitals“finanziertwürde,klärtgarnichts,weil dieseAusschüttungenfrühestenserst2035unddamitzuspät kommenundinderHöhenichtausreichen.

Esrächtsichnun,dassdiePolitikindenletztenJahren trotzständigerMahnungennichtsgetanhat,umfürdenabsehbarenAnstiegderBelastungenderRentenversicherung durchdiedemografischeEntwicklungvorzusorgen.Siehat stattdessenderRentenversicherungimmerneueLastenaufgebürdet,wobeisiedasGlückhatte,dassdieRentenversicherungdankeinergutenKonjunkturundeinesstetenZuwachsesanBeitragszahlerntrotzdempositiveZahlenvorweisen konnte.81 Nach2027wirdesdamitabervorbeisein.Die Reservenwerdenaufgebrauchtsein,dieBeitragssätzewerden steigenunddiePolitikwirdkeineneuenWohltatenmehr verteilenkönnen.Mankannnurhoffen,dasssieendlichdiesenZusammenhangbegreift.

78Ruland,NZS2018,793(798).

79Szent-Ivanyi,RedaktionsnetzwerkDeutschland(RND)vom 2.8.2023.

Aberselbst,wenntrotzallemdasVolumendes„Generationenfonds“2035dasangestrebteZielvon200Mrd.Euro erreichenwürde,könntenderRentenversicherungselbstbei einerNettorenditevon5%nur10Mrd.Euroausgeschüttet werden,dieaberdenBeitragssatznichteinmalumeinenhalbenProzentpunktsenkenwürdenunddienichteinmalin derLagewären,auchnurdiedurchdieVerlängerungder

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80DazuPimpertz/Schüler,KapitaldeckungindergesetzlichenRentenversicherungundprivatenAltersvorsorge,2022,S.12.

81Krit.zurRentenpolitikdergroßenKoalitionbereits:Ragnitz/Rösel/ Thum/Werding,DieteureBilanzderRentenpolitikdervergangenen Jahre,ifo-Dresdenberichtet5/21,S.3ff.;Ruland,DieRentenpolitik dergroßenKoalitionen(2013–2021):Wedergerechtnochnachhaltig, in:Nonhoff/Haunss/Klenk/Pritzlaff-Scheele(Hrsg.),Gesellschaftund Politikverstehen,FSNullmeier,2022,S.287ff.

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