Gina bucher urs hofer die entdeckung der arktis

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Die Entdeckung der Arktis Plötzlich liegt die Stille greifbar vor uns: nach einer engen Kurve, in einer Senke beim Valkkojärvi. Beinahe hätten wir sie übersehen. Es ist die Oberflächenspannung des Wassers, die alles verrät. Wie dieser lappländische See ruht, mit einer so glatten Wasseroberfläche, dass man versucht ist, sich als selbstgefälligen Mensch zu entlarven. Einen Stein zu werfen, einfach nur, um diese Stille zu stören. Im klaren Wasser spiegelt sich der Himmel, der sich über uns ebenso gleichmässig und klar aufspannt wie der See. Mit einem zarten Verlauf von Dunkelblau bis goldigem Schimmer weit in der Ferne, dort wo die Sonne leuchtet. Nur grünbraune Kiefern und Fichten, dazwischen ein paar Birken, trennen das Wasser vom Himmel wie ein Kranz. Es ist weit nach Mitternacht. Wir sehen die Nacht in der Sonne. Es ist taghell, doch alles schläft. Das zu sehen, macht glücklich.

Wir stehen an einem einsamen, kleinen See 32 Kilometer nordöstlich von Inari, nur wenige Kilometer entfernt von der Europastrasse 75. Jener Route die jeder Lapplandreisende für sich ganz alleine beansprucht. Ohne ein Wort zu verlieren, wissen wir: Hier bei diesem See, so schön blau und ganz klar, dass das Herz tanzt, ist das Ziel dieser Reise. Einer Reise, die letztlich 11'000 Kilometer benötigen wird, weil sie einmal rund um die Ostsee, hoch bis zum 70. und zurück zum 47. Breitengrad führt. Gleichwohl jeder Reise der Weg das Ziel ist, wird aus jeder Anreise irgendwann eine Rückreise. Dann, wenn der Hunger nach Entdeckung kurzfristig gestillt ist. Das ist in einer Welt, 520 Jahre nachdem Kolumbus Hinterindien entdeckt hat, nicht leicht. Der See Valkkojärvi, ganz weit im Norden oben, dort wo das Licht im Sommer immer ist, wird zu einem Ziel, das plötzlich einen Namen inklusive GPS-Position bekommt. Die Stille hier ist unheimlich. Erst wenn sie da ist, merkt man, dass man sie nicht kennt. Dass die Geräusche,


die man sich einbildet keineswegs von hier sind: Die Stimmen von Menschen, die mit Geschirr klappern. Musik, die aus der Ferne klingt, ein bellender Hund. Ein Auto, das beschleunigt. Doch da ist nichts, schlicht gar nichts, was lärmen könnte. Nur das Unvermögen mit nahezu absoluter Stille nicht umgehen zu können. Das ist eine Entdeckung. Würde Kolumbus hier einen Stein werfen, um die Einsamkeit zu kosten? Noch 2'000 Kilometer weiter südlich fragte uns im lettischen Ventspils eine Frau: «Wohin des Weges?» «Lappland», so lautete damals verwegen die Antwort. Mit der Lust in der Stimme, einmal der Einsamkeit zu begegnen, in der letzten Wildnis Europas. Dort, wo man stundenlang keinem Menschen begegnen soll, höchstens Rentieren, die an der Strasse grasen und dümmlich das Auto betrachten. Das klingt gut, da wollen wir hin. Endlich einmal Ruhe. Ruhe von Menschheit und Folgeproblemen. Dorthin, wo die Natur den Menschen noch Herausforderungen bereit hält. Zum Beispiel die Moskitos.

Diese fiesen kleinen Plagegeister, die in Horden sich ohne Daseinsberechtigung auf den Menschen stürzen. Sagt der moderne Mensch, der solcherlei Strapazen in der Natur des 21. Jahrhunderts nicht mehr in Kauf nehmen will. Prompt gilt die erste Frage nach der Rückkehr diesen willden Viechern. Tatsächlich sind die beisswütigen Tiere ein Segen, beschützen sie doch die empfindliche Tundra vor Menschen und den Rentieren, die dadurch sommers in die erhöhten Fjells getrieben werden. Die Moskitos sind somit die einzigen, die auch nachts über den magischen Valkkojärvi tanzen. Und so der Stille ihre Ruhe lassen. *** Seit wir kurz nach Rovaniemi den stets um einige Meter wandernden Polarkreis überquert haben, wird die Landschaft ungewohnt. Wenn auch für Schweizer durchaus nicht ungewöhnlich: ein bisschen wie in den Alpen, oberhalb der Waldgrenze. Karger halt, wetterfest. Die


flachen Sonnenstrahlen lassen die Farben im Sommer kräftig leuchten. Blau, Rot, Gelb, Grün, wie sie das Wappen und die Trachten der Samen zieren, diesem Volk der Sonne und des Windes. Während vielen Monaten liegt das steinige Gelände mit Tundra-artigem Gewächs wie ein Stück tiefgefrorenes Fischfilet unter Dauerfrost und ist nur im Sommer kurz in seiner ganzen Schönheit sichtbar. So selten, so exklusiv, dass man die Natur zwangsläufig idealisiert und von einer Wildnis spricht, die fürwahr keine ist. «Die Nutzung der Natur durch die Samen war oft so unsichtbar, dass auf der Seite der fremden Kultur eine Wahnvorstellung der unberührten Wildnis entstanden ist, weil man keinerlei Spuren menschlicher Aktivität gesehen hat», schrieb einst Pekka Aikio, der erste Präsident des Samen-Parlaments. Oberhalb des Polarkreises werden die Begegnungen mit Menschen zwar seltener, aber nicht unbedingt urtümlicher. Auf den uns versprochenen menschenleeren Strassen kreuzen uns

neben zahlreichen Wohnmobilen mit Rentnern regelmässig Lastwagen. Lastwagen, die Lebensmittel liefern; etwa nach Näätämö, einem abgeschiedenen finnisch-norwegischen Grenzort, wo zwei konkurrierende Supermärkte je eine Filiale montiert haben. Auch Tanklastern begegnen wir immer wieder, und Holztransportern, wie wir sie bereits in Estland, Lettland und Litauen gesehen haben, jetzt mit ausschliesslich finnischen Kennzeichen. Diese kratzen an der Idylle hier oben: Internationale Konzerne wie Stora Enso beziehen ihr Holz aus Wäldern, in denen die Rentiere von Samen grasen. So genannte Urwälder, sagen Umwelt-NGOs, die indigenen Völkern wie den Samen noch immer elementare Lebensgrundlage sind. Immer wieder machen sie und der Rat der Samen auf diese Konflikte aufmerksam. Schnittholz, Zellulose und Papier etwa werden auf Kosten der Samen gewonnen. Wichtige finnische Exportgüter, die von Kemi im Norden des bottnischen Meerbusens in die ganze Welt verschifft werden. Um schliesslich auch zu


solchem Zeitungspapier zu werden, auf dem sich dies nun gedruckt liest. Zwar fand in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Norden Finnlands durch die Holzwirtschaft mit eigens dafür gebauten Strassen Anschluss an den Süden, damit verloren die Samen aber auch den letzten Teil ihrer Einsamkeit. Strassen, die sich schnurgerade, meist ohne Mittelstreifen quer durch die waldige Landschaft schlagen, und auf der Landkarte zu banalen Linien werden. Linien, die je gerader sie werden, kaum mehr Zivilisation queren. Wenngleich der Moment der Stille, der am Valkkojärvi alles überstrahlt, magisch ist: Bis weit über den Polarkreis hinaus trifft man auf Menschen. Die Arktis wurde lange vor uns entdeckt. Nicht nur Rentierzüchter, auch gut ausgerüstete Jack Wolfskins sind unterwegs, die hier ihre Blockhütten renovieren, und Fliegenfischer, die im wildschäumenden TenoFluss Lachse jagen. Doch selbst die Wohnmobilisten, die die Landschaft nur durch ihre übergrossen Panoramafenster beobachten, hinter-

lassen Spuren. Jeder Entdecker tut das, auch wenn er nicht Kolumbus heisst. *** Vom 47. Breitengrad kamen wir her, über die E67 und E75, um die Stille wahrhaftig zu sehen. Dort, am Anfang der Reise, war der längste Tag im Jahr noch nicht vorbei, dort war die Nacht noch Nacht, wenn sie auch spät begann, der Sommer verlangte es. Je nördlicher wir kommen, umso länger wird die Dämmerung. In Polen fällt die Sonne zum ersten Mal in die Ostsee: in sanftem Rotgelb und mit einem herrlichen Wolkenungetüm drüber. Bis zur Memel teilen wir die Sonnenuntergänge mit Heimwehtouristen aus Deutschland, die noch in Pommerland geboren wurden oder Erzählungen davon kennen. Spätestens bei der kurischen Nehrung beginnt man das Heimweh zu verstehen. In Estland schliesslich lockt mit Jaanipäev die kürzeste Nacht, die alle


Balten und Skandinavier ausgiebiger als Weihnachten feiern. Die Sonnenuntergänge werden gen Norden weniger, die Wolken bleiben. Wolken, die im Süden nur stören, beginnen hier plötzlich zu gefallen. Weil die schlohweissen, manchmal quarzig grau toupierten Wolkenberge den knallblauen Himmel kontrastieren. Für sie zuständig ist Uku, der Wolkengott in Estland; in Finnland wird er zu Ukko, mit Kompetenzen für Himmel, Wetter und Donner. Unweit des Valkkojärvi liegt Ukonsaari, eine merkwürdig aus dem Wasser ragende Felsinsel im Inarijärvi. Hier wird den Kräften von Ukko, dem «alten Mann des Donners» gehuldigt. Viele Fotos werden geschossen, um den Daheimgebliebenen von dem schönen Licht zu berichten. Wobei die Nachtfotos ihre Sensation erst durch die eingeblendete Uhrzeit bekommen. Nach ein paar Tagen beginnt die Sonne zu nerven. Niemand löscht abends das Licht, womit der Tag endlich zu einem Ende finden

würde. Entsprechend währen auch die schlechten Tage hier oben länger. Weiter unten im Süden, wo die Sonne gerade pausiert, würde man jetzt die Sterne sehen. Und flüstern: Dort oben unter dem Sternbild des Grossen Bären liegt die Arktis, siehst du, benannt nach dem griechischen Wort arktos, der Bär. Er ist im Himmel geboren und der Gott der Völker dort oben. Doch egal wann und wo, die Sonne ist immer da. Es gibt keine Ritzen und Ecken, in die sie sich nicht durchfressen würde. Keine Verdunklung hilft, Sternbilder und Schlaf zu finden. Ob man den Vorhang öffnet oder schliesst, die Sonne lacht vom Himmel – mit der Zeit bildet man sich ein, sie tue es höhnisch. Fast wünscht man sich, dass es morgen für einmal regnet, damit wenigstens ein bisschen Ruhe einkehrt. Bis man 3'000 Kilometer unterhalb des Polarkreises wieder Lust auf die Sonne bekommt, weil man sie vermisst hat. Und in der Zivilisation wieder Menschen trifft, die Highheels


tragen – die man womöglich nicht vermisst hat. Auch das sind Entdeckungen. Und schliesslich die Erkenntnis, dass wir überallhin wollen, weil wir überallhin hinkommen. Nur, dass es den einsamen Strand, den unsere Eltern in den siebziger Jahren noch gesucht und auch gefunden hatten, nicht mehr gibt. Unbefleckte Landstriche liegen zumeist irgendwo in Krisengebieten oder sind wegen einer Verseuchung verlassen. Was also bedeutet Entdecken heute? In einer Welt, in der jede Ecke minutiös kartografiert und die Arktis längst entdeckt ist? In der lauter quickfidele Menschen, die immer älter und immer besser ausgerüstet, ständig unterwegs sind? In einer fragilen Welt, in der jeder weiss, dass er eigentlich nicht überallhin soll – gerade weil er es kann? Übrig bleiben Gratwanderungen. Jeder will Kolumbus spielen, aber jeder weiss im Grunde genommen von der Verantwortung, die er mit seinen Entdeckungen übernimmt.

Gina Bucher, eigentlich auf der Suche nach dem Ursprung der Salzgurke, hat mit dem Pfeifermobil im Juni und Juli 2012 das Licht und viele Widersprüche gefunden. Sie ist freie Autorin und schreibt regelmässig über das Wetter (freitag.de/alltag/wetter) und andere Alltagsphänomene. Auf der Reise in die Arktis entstand unter anderem dieser Text. Mit von der Partie waren Urs Hofer (siehe Automatic Cinema) und Zack Bucher.


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